Verfahrensgang

Bayerischer VGH (Beschluss vom 26.07.1996; Aktenzeichen 20 B 94.1145)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Juli 1996 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 DM festgesetzt.

 

Gründe

Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.

I.

Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.

1. Das Berufungsgericht hat nicht deshalb seine Aufklärungspflicht verletzt, weil es keine Ortsbesichtigung durchgeführt hat. Zwar hat der Kläger ausdrücklich beantragt, die Örtlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Dem hat sich der Beklagte angeschlossen. Wie sich aus § 86 Abs. 1 Satz 2 VwGO ergibt, ist das Gericht an die Beweisanträge der Beteiligten jedoch nicht gebunden.

Der Kläger macht geltend, durch die Erhöhung des Wohngebäudes auf dem Grundstück des Beigeladenen zu 1 werde die Sonneneinstrahlung in bestimmten Monaten so nachhaltig beeinträchtigt, daß der von ihm geschaffene Wintergarten praktisch wertlos werde. Dem Berufungsgericht lag hierzu das Gutachten vom 25. Oktober 1995 vor, in dem zum „Schattenwurf durch die Aufstockung des Gebäudes auf Nachbargrund” und zum „Einfluß auf den Wert des beschatteten Gebäudeteils Wintergarten” Stellung genommen wird. Der Sachverständige ermittelt den Grad der Verschattung anhand des Wertes „zur Zeit der Wintersonnenwende … unter Zuhilfenahme der Sonnendeklination im Jahresverlauf, des Sonnenstandsdiagrammes und stereographischer Projektion der Sonnenbahn”. Die Beschwerde legt nicht dar, welcher zusätzliche Erkenntnisgewinn zu erwarten gewesen wäre, wenn das Berufungsgericht eine Ortsbesichtigung durchgeführt hätte. Sie macht selbst nicht geltend, daß das Gericht bestimmte entscheidungsrelevante Gesichtspunkte übersehen habe, die es zugunsten des Klägers hätte verwerten können, wenn es sich an Ort und Stelle einen Eindruck von den baulichen Verhältnissen verschafft hätte. Das Berufungsgericht brauchte sich nicht durch eine Ortsbesichtigung davon zu überzeugen, daß mit dem Vorhaben des Beigeladenen zu 1 „das einheitliche Konzept der Nachbarbebauung” durchbrochen wird. Hierauf kommt es nach seinem für den Umfang der prozessualen Aufklärungspflicht maßgeblichen materiellrechtlichen Ansatz nicht an. Nach seiner Auffassung fügt sich ein Vorhaben auch bei Überschreitung des in der Nachbarschaft vorhandenen Nutzungsmaßes nur dann nicht im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Von daher erübrigte es sich, im Wege einer Ortsbesichtigung Feststellungen zum Nutzungsmaß zu treffen.

2. Ein Verstoß gegen § 86 VwGO liegt auch nicht deswegen vor, weil das Berufungsgericht über den Beweisantrag des Klägers keine Entscheidung getroffen hat. § 86 Abs. 2 VwGO ist nicht einschlägig, da ein Verhandlungstermin nicht stattgefunden hat. § 130 a VwGO ermöglicht es, eine Berufung auch ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen. Vor der Sachentscheidung bedarf es keines gesonderten Beschlusses über einen vor der Anhörungsmitteilung gestellten Beweisantrag (vgl. BVerwG, Beschluß vom 10. April 1992 – BVerwG 9 B 142.91 – Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 5). Weist das Gericht den Berufungsführer darauf hin, daß es nach § 130 a VwGO zu verfahren gedenkt, so kommt schon in dieser Mitteilung erkennbar zum Ausdruck, daß es einem vorher gestellten Beweisantrag nicht durch einen förmlichen Beweisbeschluß nachkommen wird. So lag der Fall hier. Der Beweisantrag ging der – zweiten – Anhörungsmitteilung vom 26. Februar 1996 zeitlich voraus.

3. Ebensowenig hat das Berufungsgericht dem Kläger das rechtliche Gehör verkürzt. Daß es sich in dem angefochtenen Beschluß nicht ausdrücklich mit den im Sachverständigengutachten vom 25. Oktober 1995 erörterten Fragen auseinandergesetzt hat, läßt sich nicht als Indiz dafür werten, daß es entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen hat. Nach seiner näher dargelegten Auffassung kommt es materiellrechtlich nicht entscheidend darauf an, daß der Kläger durch die von ihm geltend gemachte Verschattung des Wintergartens einen Wertverlust erleidet. Das Berufungsgericht geht davon aus, daß eine Wertminderung rechtlich nur dann bedeutsam ist, wenn sie die Folge von Beeinträchtigungen ist, die der Nachbar nach den zum Rücksichtnahmegebot entwickelten Grundsätzen nicht hinzunehmen braucht. Von diesem rechtlichen Ausgangspunkt aus erübrigte es sich, auf die im Gutachten aufgeführten Einbußen einzugehen.

II.

Die Rechtssache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimißt.

1. Die sinngemäß aufgeworfene Frage, ob eine Baugenehmigung, die zur Folge hat, daß eine auf dem Nachbargrundstück genehmigte bauliche Anlage entwertet wird, enteignenden Charakter hat, bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie läßt sich anhand der bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung ohne weiteres beantworten. Wird auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB eine Baugenehmigung erteilt, die sich für ein Nachbargrundstück nachteilig auswirkt, so liegt hierin selbst bei schwerer Beeinträchtigung keine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG. Die Enteignung ist auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützter Eigentumspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. Juli 1981 – 1 BvL 77/78 – BVerfGE 58, 300, vom 19. Juni 1985 – 1 BvL 57/79 – BVerfGE 70, 191 und vom 9. Januar 1991 – 1 BvR 929/89 – BVerfGE 83, 201; BVerwG, Urteile vom 22. Mai 1987 – BVerwG 4 C 17 – 19.84 – BVerwGE 77, 295 und vom 15. Februar 1990 – BVerwG 4 C 47.89 – BVerwGE 84, 361). Die Vorschriften des Städtebaurechts, die die Zulässigkeit von Bauvorhaben regeln, ermächtigen nicht zum Entzug von Grundeigentum. Sie weisen vielmehr die Merkmale von Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auf. Sie dienen dazu, einen Ausgleich zwischen dem durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten, vor allem durch die grundsätzliche Verfügungsbefugnis und die Privatnützigkeit gekennzeichneten Privateigentum und der durch Art. 14 Abs. 2 GG festgeschriebenen Sozialbindung des Eigentums zu schaffen. Soweit es um den Gebrauch des Eigentums geht, ist dabei auch den berechtigten Belangen Dritter Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12. Juni 1979 – 1 BvL 19/76 – BVerfGE 52, 1 und vom 12. März 1986 – 1 BvL 81/79 – BVerfGE 72, 66; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 17.90 – BVerwGE 88, 191). § 34 Abs. 1 BauGB wird diesen Anforderungen gerecht. Er regelt, unter welchen Voraussetzungen Bauvorhaben im nicht beplanten Innenbereich zulässig sind. Sofern das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens verankerte Rücksichtnahmegebot verletzt ist, entfaltet er nachbarschützende Wirkung (vgl. BVerwG, Urteile vom 13. März 1981 – BVerwG 4 C 1.78 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44 und vom 23. Mai 1986 – BVerwG 4 C 34.85 – BauR 1986, 542). Für eine solche Verletzung reicht es indes nicht aus, daß ein Vorhaben sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, der durch die Bebauung der Umgebung gebildet wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 – BVerwG 4 C 9.77 – BVerwGE 55, 369). Hinzu kommen muß objektivrechtlich, daß es im Verhältnis zu seiner Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen erzeugt, die potentiell ein Planungsbedürfnis nach sich ziehen, und subjektivrechtlich, daß es die gebotene Rücksichtnahme speziell auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung vermissen läßt.

Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme hiernach im einzelnen begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 – BVerwG 4 C 22.75 – BVerwGE 52, 122). Bei der Interessengewichtung spielt eine maßgebende Rolle, ob es um ein Vorhaben geht, das grundsätzlich zulässig und nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen nicht zuzulassen ist, oder ob es sich – umgekehrt – um ein solches handelt, das an sich unzulässig ist und nur ausnahmsweise zugelassen werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 6. Oktober 1989 – BVerwG 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343 und vom 27. Februar 1992 – BVerwG 4 C 50.89 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 107). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen ein Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, daß Beeinträchtigungen, die ein Vorhaben dadurch verursacht, daß es beim Grenzabstand ein bestimmtes Maß unterschreitet, vom hierdurch betroffenen Nachbarn grundsätzlich dann hingenommen werden müssen, wenn die landesrechtlichen Abstandsvorschriften eingehalten sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91BVerwGE 94, 151). Diese Regelungen zielen im Interesse der Wahrung sozial verträglicher Verhältnisse nicht zuletzt darauf ab, eine ausreichende Belichtung und Besonnung von Gebäude- und von sonstigen Teilen des Nachbargrundstücks sicherzustellen. Der Nachbar, der sich gegen die Verwirklichung eines Bauvorhabens zur Wehr setzt, kann unter diesem Blickwinkel grundsätzlich keine Rücksichtnahme verlangen, die über den Schutz des Abstandsflächenrechts hinausgeht. Denn die landesrechtlichen Grenzabstandsvorschriften stellen insoweit ihrerseits eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme dar (vgl. BVerwG, Beschluß vom 22. November 1984 – BVerwG 4 B 244.84 – NVwZ 1985, 653). In der Rechtsprechung des Senats ist ferner geklärt, daß der Nachbar, der sich seine Bauwünsche erfüllt hat, es nicht in der Hand hat, durch die Art und Weise seiner Bauausführung unmittelbaren Einfluß auf die Bebaubarkeit anderer Grundstücke zu nehmen. Die Baugenehmigung schafft keine Grundlage dafür, weitere Vorhaben mit dem Argument abzuwehren, für das behördlich gebilligte eigene Baukonzept sei von ausschlaggebender Bedeutung gewesen, daß der Eigentümer des angrenzenden Grundstücks die Nutzungsmöglichkeiten, die das Baurecht an sich eröffnet, nicht voll ausschöpft (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1993 – BVerwG 4 C 5.93 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 120). Schließlich hat der Senat klargestellt, daß Wertminderungen als Folge der Ausnutzung der einem Dritten erteilten Baugenehmigung nicht für sich genommen einen Maßstab dafür bilden, ob Beeinträchtigungen im Sinne des Rücksichtnahmegebots zumutbar sind oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, wie schutzwürdig die baurechtliche Stellung des Betroffenen ist. Je weniger der Nachbar in dieser Hinsicht an Rücksichtnahme verlangen kann, mit desto geringerem Gewicht schlägt der Gesichtspunkt von Wertminderungen bei der gebotenen Interessenabwägung zu seinen Gunsten zu Buche (vgl. BVerwG, Beschluß vom 24. April 1992 – BVerwG 4 B 60.92 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 109).

Das Berufungsgericht hat eine Abwägung anhand der Maßstäbe vorgenommen, die nach der dargestellten Rechtsprechung des Senats maßgeblich sind. Ob es hierbei die widerstreitenden Interessen zutreffend gewichtet hat, ist eine Frage, die über die Anwendung des § 34 Abs. 1 BauGB auf den konkreten Einzelfall nicht hinausweist.

2. Die Frage, ob ein Grundeigentümer, der sich bei der Bebauung seines Grundstücks im unbeplanten Innenbereich an bestimmte Vorgaben der Baugenehmigung gehalten hat, darauf vertrauen kann, daß die Vorhaben anderer Eigentümer an denselben Vorgaben gemessen werden, rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung. Wie weit eine Baugenehmigung in dem von der Beschwerde aufgezeigten Sinne als geeignete Vertrauensgrundlage in Betracht kommt, hängt von ihrem jeweiligen Regelungsgehalt ab, der sich nach dem einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht zugänglichen irrevisiblen Landesrecht bestimmt. Daß aus bundesrechtlicher Sicht die Genehmigung für ein Vorhaben, das den Anforderungen des Städtebaurechts unter Einschluß des Rücksichtnahmegebots entspricht, nicht deshalb versagt werden kann, weil der Nachbar darauf vertraut, der Bauherr werde von den rechtlichen Möglichkeiten, die ihm zu Gebote stehen, keinen weitergehenden Gebrauch machen als er selbst, bedarf keiner Bestätigung in einem Revisionsverfahren.

III.

Auch die Divergenzrüge hat keinen Erfolg.

Das Berufungsgericht hat zur Reichweite des Rücksichtnahmegebots keinen abstrakten Rechtssatz aufgestellt, der in Widerspruch zu einem vom Senat im Urteil vom 23. Mai 1986 – BVerwG 4 C 34.85 – (a.a.O.) formulierten Rechtssatz steht. Die Beschwerde mißversteht diese Entscheidung, wenn sie ihr die Aussage entnimmt, daß es für die Beurteilung, ob ein Vorhaben rücksichtslos im Sinne des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebots ist, nicht darauf ankommt, ob den Anforderungen des Abstandsflächenrechts genügt ist. Der Senat hat im Urteil vom 23. Mai 1986 klargestellt, daß die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften im Rahmen des Rücksichtnahmegebots dann keine Rolle spielen, wenn durch die Ausführung eines nach § 34 Abs. 1 BauGB genehmigten Vorhabens Belange beeinträchtigt werden, deren Schutz das Abstandsflächenrecht nicht zu dienen bestimmt ist. Dagegen hat er ausdrücklich bestätigt, daß die Wertungen, die den landesrechtlichen Abstandsvorschriften in bezug auf die Sicherung einer ausreichenden Belichtung und Besonnung von Nachbargrundstücken zugrunde liegen, auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit im Städtebaurecht brauchbare Anhaltspunkte bieten. An dieser Aussage hat sich das Berufungsgericht erkennbar ausgerichtet.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 1 und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

 

Unterschriften

Gaentzsch, Berkemann, Halama

 

Fundstellen

BRS 1996, 429

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