Entscheidungsstichwort (Thema)

Normenkontrolle. Bebauungsplan. Nachteil. Beeinträchtigung der Aussicht. Verkehrswertminderung. Abwägungsmaterial. Landschaftsschutz

 

Leitsatz (amtlich)

Die Auswirkungen, die die Errichtung von baulichen Anlagen in der Umgebung eines Grundstücks auf dessen Verkehrswert haben, sind allein keine für die planerische Abwägung erheblichen Belange. Sie stellen deshalb auch keinen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans zu erwartenden Nachteil im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO dar. Vielmehr kommt es auf die von der (neu) zugelassenen Nutzung unmittelbar zu erwartenden tatsächlichen Beeinträchtigungen an.

Das Interesse der Eigentümer von Wohngrundstücken, die Aussicht in eine bisher unbebaute Landschaft nicht durch die Errichtung von Gewerbebauten in etwa 300 m Entfernung beeinträchtigt zu bekommen, muß nicht als schützenswerter privater Belang in die Abwägung nach § 1 Abs. 6 BauGB eingestellt werden.

 

Normenkette

VwGO § 47 Abs. 2; BauGB § 1 Abs. 6

 

Verfahrensgang

Bayerischer VGH (Beschluss vom 25.11.1993; Aktenzeichen 9 N 93.03152)

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen die Nichtvorlage der Rechtssache in dem Normenkontrollverfahren, in dem der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. November 1993 ergangen ist, wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller zu 1, 2, 3 und 4 tragen – jeweils als Gesamtschuldner – die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je einem Viertel.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 200 000 DM festgesetzt.

 

Tatbestand

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen die Änderung der Verordnung über ein Landschaftsschutzgebiet, durch die eine Fläche von ca. 4 ha (als „Exklave”) aus dem Schutzgebiet ausgegliedert wird, um hierauf ein Gewerbegebiet ausweisen zu können. Die Antragsteller sind Eigentümer von Wohngrundstücken, die zum künftigen Gewerbegebiet eine Entfernung von ca. 300 m haben. Das freie Gelände zwischen den Wohngrundstücken und der Grenze des künftigen Gewerbegebiets verbleibt im Geltungsbereich der Landschaftsschutzverordnung. Die Antragsteller machen geltend, durch die beabsichtigte Ausweisung eines Gewerbegebiets werde ihre Aussicht in die freie Landschaft beeinträchtigt; dadurch und durch die unmittelbare Nachbarschaft eines Gewerbegebiets würden ihre Grundstücke einen Wertverlust von 50 000 bis 80 000 DM erleiden.

Das Normenkontrollgericht hat die Antragsbefugnis der Antragsteller verneint. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen der Änderung der Landschaftsschutzverordnung und der Aufstellung eines Bebauungsplans könne ein Nachteil zwar nicht deshalb verneint werden, weil die Zulässigkeit der gewerblichen Bebauung nicht unmittelbare Rechtsfolge der Änderung der Landschaftsschutzverordnung sei, sondern erst durch einen Bebauungsplan begründet werden könne.

Aber auch hinsichtlich des künftigen Gewerbegebiets scheide ein Nachteil im Sinne von § 47 Abs. 2 VwGO aus. Das Interesse der Antragsteller an der Erhaltung der bisherigen Aussicht sei nicht schutzwürdig, so daß auch dem auf die Aussicht beruhenden Vorteil hinsichtlich des Verkehrswerts der Grundstücke keine Schutzwürdigkeit zukomme. Andere Nachteile, wie etwa erhöhte Immissionsbelastungen, seien aufgrund der örtlichen Verhältnisse und der Entfernung zum künftigen Gewerbegebiet nicht zu befürchten.

Mit der Nichtvorlagebeschwerde machen die Antragsteller geltend, das Normenkontrollgericht habe die Rechtssache wegen Abweichung von dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. August 1992 – BVerwG 4 NB 3.92 (Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69 = NVwZ 1993, 468) und von den Beschlüssen des 1. und des 20. Senats des Normenkontrollgerichts vom 28. Mai 1993 – Nr. 1 N 92.537 (BayVBl 1993, 624) und vom 29. Juli 1992 – Nr. 20 N 91.2692 (BRS 54 Nr. 42) gemäß § 47 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VwGO dem Bundesverwaltungsgericht vorlegen müssen

 

Entscheidungsgründe

II.

Die gemäß § 47 Abs. 7 VwGO zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zwar hat der Senat in der Besetzung mit drei Richtern die Beschwerde für begründet erachtet und damit das Verfahren in die Entscheidungszuständigkeit des mit fünf Richtern besetzten Senats übergeleitet. Nach Beratung in dieser Besetzung kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß das Normenkontrollgericht seine Vorlagepflicht nach § 47 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VwGO nicht verletzt hat. An die Rechtsauffassung des Senats in der Besetzung mit drei Richtern ist der beschließende Senat nicht gebunden (vgl. Beschluß vom 8. Dezember 1987 – BVerwG 4 NB 3.87 – BVerwGE 78, 305 = Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 19).

Das Normenkontrollgericht ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats davon ausgegangen, daß für den die Antragsbefugnis nach § 47 VwGO begründenden Nachteil nicht nur auf die Änderung der Naturschutzverordnung abzustellen ist, sondern auch auf den nachfolgenden Bebauungsplan, durch den ein Gewerbegebiet ausgewiesen werden soll. Die hier angegriffene Norm soll in einem „rechtlich geordneten Zusammenwirken” mit dem nachfolgenden Bebauungsplan der Erreichung des Ziels – Schaffung eines Gewerbegebiets – dienen, das den behaupteten Nachteil nach sich zieht. In diesem Fall hat die Entwicklung von der angegriffenen Norm zu der als Nachteil geltend gemachten Betroffenheit eine dergestalt konkrete Wahrscheinlichkeit für sich, daß der Nachteil bereits „durch” die Änderung der Naturschutzverordnung „in absehbarer Zeit zu erwarten” und deshalb die Antragsbefugnis zu bejahen ist, wenn von dem Gewerbegebiet ein solcher Nachteil ausgehen wird (vgl. Beschluß vom 18. Dezember 1987 – BVerwG 4 NB 1.87 – Buchholz 406.401 § 15 BNatSchG Nr. 2 = NVwZ 1988, 728; Beschlüsse vom 14. Februar 1991 – BVerwG 4 NB 25.89 und vom 9. Juli 1992 – BVerwG 4 NB 39.91 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nrn. 56 und 68).

Das Normenkontrollgericht geht – unterstellend – davon aus, daß die Grundstücke der Antragsteller durch das geplante Gewerbegebiet und die dadurch bedingte Beeinträchtigung der Aussicht eine Wertminderung bis zu 80 000 DM erfahren würden. Es verneint gleichwohl einen Nachteil nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, weil das Interesse der Antragsteller an der Erhaltung der bisherigen Aussicht nicht schutzwürdig sei im Sinne der Rechtsprechung (vgl. Beschluß vom 9. November 1979 – BVerwG 4 N 1.78, 4 N 2 – 4.79 – BVerwGE 59, 87 = Buchholz 406.11 § 1 BBauG Nr. 18 = NJW 1980, 1061). Die Schutzwürdigkeit fehle deshalb, weil sich die Antragsteller vernünftigerweise darauf einstellen müßten, daß „so etwas geschieht”; denn auf die Beibehaltung einer bestimmten städtebaulichen Situation oder eines Landschaftsschutzgebietes bestehe kein Anspruch.

Der Beschwerde ist zuzugeben, daß diese Aussagen – isoliert gesehen – so verstanden werden könnten, als stünden sie in Widerspruch zum Beschluß des Senats vom 20. August 1992 (a.a.O.; vgl. z. B. auch Beschluß vom 7. Januar 1993 – BVerwG 4 NB 42.92 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 74). Danach gilt folgendes: Führt eine Planänderung dazu, daß Nachbargrundstücke in anderer Weise als bisher genutzt werden dürfen, so gehören die Interessen der Nachbarn an der Beibehaltung des bisherigen Zustandes grundsätzlich zum notwendigen Abwägungsmaterial. Ob der Nachbar mit einer solchen Entwicklung rechnen mußte, ist für die Antragsbefugnis in diesen Fällen grundsätzlich ebenso unerheblich wie die Frage, ob der Nachbar ein subjektives öffentliches Recht oder einen Anspruch auf die Beibehaltung des bisherigen Zustandes hat. Es reicht vielmehr grundsätzlich aus, wenn die bisherige Situation den Nachbarn tatsächlich begünstigt. Es kommt somit – entgegen den Ausführungen des Normenkontrollgerichts – nicht darauf an, ob die Antragsteller einen Rechtsanspruch auf Beibehaltung des ungeschmälerten Landschaftsschutzgebiets haben.

Gleichwohl weicht die Normenkontrollentscheidung, wie sich aus dem Zusammenhang der Begründung ergibt, im Ergebnis nicht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab. Danach (vgl. insbesondere die Grundsatzentscheidung vom 9. November 1979 a.a.O.) ist ein Nachteil dann gegeben, wenn der Antragsteller verletzend in einem Interesse betroffen ist, das bei der Entscheidung über den Erlaß oder den Inhalt der Rechtsvorschrift als privates Interesse des Antragstellers berücksichtigt werden mußte. Führt der Erlaß eines Bebauungsplans dazu, daß Nachbargrundstücke in anderer Weise als bisher genutzt werden dürfen, so gehören die Interessen der Nachbarn an der Beibehaltung des bestehenden Zustands ebenfalls grundsätzlich zum notwendigen Abwägungsmaterial, und zwar unabhängig davon, ob mit der Nutzungsänderung gerechnet werden mußte. Beschränkungen ergeben sich nur bei solchen Änderungen, die objektiv geringfügig sind und/oder sich – z. B. wegen größerer Entfernung zum Nachbargrundstück – nicht oder nur unwesentlich auf die Nutzung des Nachbargrundstücks auswirken können, wobei die Grenze der Abwägungserheblichkeit im Einzelfall schwer festzulegen sein mag (vgl. Beschluß vom 20. August 1992 a.a.O.).

Im vorliegenden Fall ergeben die Feststellungen des Normenkontrollgerichts, daß sich die durch das künftige Gewerbegebiet bedingte Veränderung der Umgebungsbebauung – im Sinne dieser Rechtsprechung – nicht oder nur unwesentlich auf die Nutzung der Grundstücke der Antragsteller auswirken wird. Das ergibt sich aus folgendem:

Die Antragsteller machen nicht etwa geltend, daß ihre Grundstücke von den in etwa 300 m Entfernung entstehenden Gewerbebauten z. B. durch einen erhöhten Durchgangsverkehr oder durch gewerbliche Immissionen berührt werden, sondern allein dadurch, daß die von ihren Grundstücken einsehbaren gewerblichen Bauten den Ausblick in die freie Landschaft beeinträchtigten und daß dadurch der Verkehrswert ihrer Grundstücke um 50 000 bis 80 000 DM gemindert werde.

Die Auswirkungen eines Bebauungsplans auf den Verkehrswert mögen zwar zum Abwägungsmaterial gehören, soweit sie das überplante Grundstück selbst betreffen (etwa Festsetzung einer Grünfläche, Herabsetzung des Maßes der Nutzung, vgl. §§ 40, 42 BauGB). Etwas anderes gilt jedoch für nur mittelbare Auswirkungen auf den Verkehrswert, vor allem, wenn sie bei Grundstücken außerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans auftreten.

Die Frage der Wesentlichkeit der Auswirkungen einer Planung auf „Nachbargrundstücke” beurteilt sich grundsätzlich nicht nach dem Umfang einer möglichen Verkehrswertminderung, sondern nach dem Grad der faktischen und unmittelbaren, sozusagen „in natura” gegebenen Beeinträchtigungen, die durch die angegriffene Norm zugelassen werden. Der Verkehrswert ist nur ein Indikator für die gegebenen und erwarteten Nutzungsmöglichkeiten eines Grundstücks. Er hängt von vielen Faktoren, insbesondere auch der Nutzung der umliegenden Grundstücke, ab (vgl. Urteil vom 4. Mai 1988 – BVerwG 4 C 2.85 – NVwZ 1989, 151 – insoweit in Buchholz 407.57 Nr. 1 nicht abgedruckt). Der den Verkehrswert bestimmende Grundstücksmarkt berücksichtigt auch solche Umstände, die von der planenden Gemeinde nicht im Rahmen der städtebaulichen Belange berücksichtigt werden können oder müssen. In die Abwägung sind deshalb in solchen Fällen nicht die potentiellen Wertveränderungen von Grundstücken einzustellen, sondern nur die Auswirkungen, die von der geplanten Anlage faktisch ausgehen. Nur wenn diese tatsächlichen Auswirkungen einen Grad erreichen, der ihre planerische Bewältigung im Rahmen der Abwägung erfordert, liegt auch ein Nachteil im Sinne von § 47 Abs. 2 VwGO vor. Eine Grundstückswertminderung stellt daher keinen eigenständigen Abwägungsposten (vgl. auch – bezogen auf den Nachbarschutz – Urteil vom 14. April 1978 – BVerwG 4 C 96 und 97.76 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 34; Beschluß vom 24. April 1992 – BVerwG 4 B 60.92 – Buchhholz a.a.O. Nr. 109; bezogen auf die straßenrechtliche Fachplanung vgl. Urteil vom 4. Mai 1988 a.a.O.) dar.

Das bedeutet für den vorliegenden Fall: Die Aussicht der Antragsteller ist „als solche” durch das Gewerbegebiet nicht beeinträchtigt. Die Aussicht ändert sich lediglich insoweit, als der Blick auf eine bisher unbebaute Landschaft künftig in 300 m Entfernung durch einige Gewerbebauten „unterbrochen” wird. Eine solche Änderung des Ausblicks, die ja nur darin besteht, daß sich in einiger Entfernung der Ausblicksinhalt verändert, ist grundsätzlich kein privates Interesse von solchem Gewicht, daß es im Rahmen der Abwägung berücksichtigt werden müßte. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der Grundstücksmarkt möglicherweise auf eine solche Veränderung mit einer Wertminderung von 10 v.H. des Verkehrswerts reagiert; denn der Markt berücksichtigt auch solche Faktoren, die außerhalb des planerischen Abwägungsmaterials liegen.

Die Normenkontrollentscheidung weicht auch nicht von den in der Beschwerde genannten Entscheidungen anderer Senate des Normenkontollgerichts ab. In dem Urteil vom 29. Juli 1992 (20 N 91.2692 – BRS 54 Nr. 42) ging es um die nahezu gänzliche Versperrung einer außergewöhnlichen Aussicht durch eine unmittelbar an das Grundstück anschließende Bebauung; auch das Urteil vom 28. Mai 1993 (1 N 92.537 – BayVBl 1993, 624) betraf die Bebauung des unmittelbaren Nachbargrundstücks und die damit verbundenen nachteiligen Auswirkungen auf das Grundstück der Antragsteller. Die Bejahung der Antragsbefugnis in diesen Fällen beruht nicht auf einer rechtlichen Divergenz zu der hier angefochtenen Normenkontrollentscheidung, sondern auf dem jeweils anders gelagerten konkreten Sachverhalt. Es kann daher offenbleiben, ob § 47 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VwGO auch eine Divergenz zwischen verschiedenen Senaten desselben Normenkontrollgerichts erfaßt (vgl. Beschluß vom 3. Oktober 1984 – BVerwG 4 N 4.84 – BVerwGE 70, 171 = Buchholz 406.11 § 155 b BBauG Nr. 6).

Durch die Zurückweisung der Beschwerde erledigt sich der Antrag auf einstweilige Aussetzung der angegriffenen Norm. Der Antrag wäre im übrigen vor dem Bundesverwaltungsgericht unzulässig (vgl. Beschluß vom 3. Juli 1979 – BVerwG 4 N 1.79 – BVerwGE 58, 179 = Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 4).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 2, 159 VwGO sowie § 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG, § 5 ZPO (je 50 000 DM für die jeweils gesamtschuldnerisch verbundenen Antragsteller). Bei der Bemessung des von den Antragstellern verfolgten Interesses orientiert sich der Senat an den von diesen gemachten Angaben über die zu erwartenden Grundstückswertminderungen (vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 1991, 1156 ff., 1157).

 

Unterschriften

Gaentzsch, Berkemann, Hien, Heeren, Halama

 

Fundstellen

BRS 1995, 119

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge