Verfahrensgang
VG Gießen (Urteil vom 15.11.2002; Aktenzeichen 4 E 171/02) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 15. November 2002 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1. Die allein auf die Abweichungsrüge gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Die Abweichungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) wird von der Beschwerde auf die behaupteten Abweichungen von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts “vom 26.02.1993 – Buchholz 31.6, § 80 VwVfG –, vom 14.01.1999 – Buchholz a.a.O. Nr. 42 – sowie 26.01.1996 – Buchholz a.a.O. Nr. 36 –” gestützt, und zwar zum einen hinsichtlich der grundsätzlichen Anforderungen an die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im isolierten Vorverfahren (a) und zum anderen hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunktes der Beurteilung dieser Notwendigkeit (b).
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 1995 – BVerwG 8 B 61.95 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 18). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenz- noch denen einer Grundsatzrüge (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 1995 – BVerwG 6 B 39.94 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342, S. 55; Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 (n.F.) VwGO Nr. 26).
a) Was die behauptete Abweichung hinsichtlich der grundsätzlichen Anforderungen an die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im isolierten Vorverfahren angeht (§ 80 Abs. 2 VwVfG), fehlt es an der Darlegung eines vom Verwaltungsgericht verwendeten abstrakten Rechtssatzes, von dem das Verwaltungsgericht abgewichen sein könnte. Die Beschwerde wendet sich vielmehr gegen eine von ihr für fehlerhaft gehaltene Rechtsanwendung.
Die Beschwerde ist der Ansicht, das Urteil des Verwaltungsgerichts verkenne den Kern der höchstrichterlichen Rechtsprechung betreffend die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im isolierten Vorverfahren. Es stelle den Satz auf, dass der Bürger in der Regel nur in Ausnahmefällen in der Lage sei, seine Rechte gegenüber der mit fachkundigen Personen besetzten Verwaltung ausreichend zu wahren, so dass die Zuziehung eines Anwalts dann notwendig sei, wenn sie vom Standpunkt einer verständigen nicht rechtskundigen Partei für erforderlich gehalten werden durfte. Das Urteil gehe von dem Grundsatz aus, dass die Notwendigkeit der Zuziehung die Regel und die Unterlassung die Ausnahme sei. Das Bundesverwaltungsgericht gehe aber vom umgekehrten Grundsatz aus.
Damit benennt die Beschwerde nicht einen abstrakten Rechtssatz im Urteil des Verwaltungsgerichts, sondern legt dieses aus. An der tatsächlich im Urteil enthaltenen Konstruktion eines abstrakten Obersatzes kann sie nämlich die behauptete Abweichung nicht festmachen. Unter Hinweis auf zwei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 17, 265; 55, 299) wird dort zunächst ausgeführt: Da der Bürger in der Regel nur in Ausnahmefällen in der Lage sei, seine Rechte gegenüber der mit fachkundigen Personen besetzten Verwaltung ausreichend zu wahren, müsse die Zuziehung dann notwendig sein, wenn sie vom Standpunkt einer verständigen Person für erforderlich habe gehalten werden dürfen, wobei auch die persönliche Sach- und Rechtskunde des Widerspruchsführers zu berücksichtigen sei. Es wird dann aber der Satz angeschlossen, eine “engere Auffassung” vertrete “der für Wehrpflichtsachen zuständige 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts: Hiernach sei die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren regelmäßig weder üblich noch notwendig (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.02.1993, bei VBl. 1994, 285; Urt. v. 17.12.2001, 6 C 19.01)”. Demnach stützt sich das Urteil des Verwaltungsgerichts gerade im abstrakten Rechtssatz auch auf die von der Beschwerde in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Nach dieser Rechtsprechung ist die notwendige Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren – wie die Beschwerde zutreffend hervorhebt – nicht die Regel, sondern die Ausnahme. § 80 Abs. 2 VwVfG bringt – ebenso wie die Vorschrift des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO – zum Ausdruck, dass nach Einschätzung des Gesetzgebers im verwaltungsrechtlichen Vorverfahren eine Vertretung des Bürgers durch Rechtsanwälte oder sonstige Bevollmächtigte in der Regel weder üblich noch erforderlich ist (BTDrucks 3/55, S. 48 ≪zu § 159≫). Aus diesem Grunde ordnen beide Vorschriften eine Einzelfallprüfung der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten an. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren (§ 80 Abs. 2 VwVfG) ist unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts nur dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeiten der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (Urteil vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 68.91 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 34).
Die vorbezeichnete, von ihm als strenger eingestufte Rechtsprechung des 8. Senats (“engere Auffassung”) hat das Verwaltungsgericht seiner Einzelfallsubsumtion zugrunde gelegt, wie seine Ausführungen auf Seite 6 des Urteils belegen. Die in der Beschwerdebegründung behauptete Divergenz liegt also in Wirklichkeit nicht vor. Dies gilt auch im Hinblick auf den Senatsbeschluss vom 14. Januar 1999 – BVerwG 6 B 118.98 – (Buchholz 316 § 80 Nr. 42). In dieser Entscheidung sind entgegen der Annahme der Beklagten nicht diejenigen Fallkonstellationen abschließend bestimmt, in denen der Wehrpflichtige die Einschaltung eines Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren für erforderlich halten darf; vielmehr wird dort nur ein spezieller Lebenssachverhalt unter dem Gesichtspunkt des § 80 VwVfG in den Blick genommen (Einlegung und substantiierte Begründung des Widerspruchs durch den Wehrpflichtigen persönlich, dadurch veranlasste Wiederaufnahme der behördlichen Ermittlungen, erst danach Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts.
b) Im Ergebnis ohne Erfolg bleibt auch die Divergenzrüge hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes.
Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der Subsumtion die Annahme für möglich gehalten, im Zeitpunkt der Einlegung des Widerspruchs gegen den Musterungsbescheid vom 21. Dezember 2000 sei die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten nicht notwendig gewesen. Dies habe sich aber verändert, als die Wehrbereichsverwaltung mit Schreiben vom 28. März 2001 dem Kläger mitgeteilt habe, dass das Kreiswehrersatzamt dem Widerspruch nicht abgeholfen habe. Sieht man darin den sinngemäßen Rechtssatz, dass für die Beurteilung der Erstattungsfähigkeit von Anwaltskosten im Vorverfahren unter Umständen auch ein Zeitpunkt maßgeblich sein könne, der nach Vollmachterteilung und Widerspruchseinlegung liege, würde dadurch kein Widerspruch zu dem von der Beschwerde angeführten Urteil vom 26. Januar 1996 (– BVerwG 8 C 15.95 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 36) entstehen. Dort ist zwar – worauf die Beschwerde zutreffend hinweist – ausgeführt, maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob es für Bürger zumutbar ist, das Vorverfahren selbst zu führen, sei der der Hinzuziehung des Rechtsanwalts, d.h. seine förmliche Bevollmächtigung oder bei schon im Verwaltungsverfahren erteilter allgemeiner Vollmacht der Auftrag zur Einlegung des Widerspruchs gegen den Tauglichkeitsbescheid. In diesem Zeitpunkt stelle sich für den Widerspruchsführer die Frage, ob es angesichts seiner persönlichen Verhältnisse und wegen der Schwierigkeit der Sache zumutbar sei, das Vorverfahren selbst zu führen. Bei der Beurteilung der Schwierigkeit der Rechtssache sei von der Sachlage auszugehen, wie sie sich dem Widerspruchsführer im Zeitpunkt der Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten dargestellt habe. Das Verwaltungsgericht hat diesen Zusammenhang – ohne das vorgenannte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts allerdings in Bezug zu nehmen – gesehen und deshalb ausdrücklich darauf abgestellt, dass unter Beachtung der Einzelheiten des konkreten Falles aber die besondere Schwierigkeit für den Kläger eingetreten sei, als die Wehrbereichsverwaltung mit Schreiben vom 28. März 2001 ihm mitgeteilt habe, dass das Kreiswehrersatzamt dem Widerspruch nicht abgeholfen habe. Mit dieser Überlegung steht das Urteil des Verwaltungsgerichts deshalb nicht im Gegensatz zum vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, weil dort ausdrücklich offen gelassen worden ist, ob in Einzelfällen später eintretende Erschwernisse in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu berücksichtigen sind und ob dann die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts mit kostenrechtlicher Wirkung erst mit diesem späteren Zeitpunkt des Eintritts der Erschwernis anzuerkennen ist. Die Rechtsprechung zu diesen Gesichtspunkt hat das Bundesverwaltungsgericht auch danach wiederholt (Urteil vom 17. Dezember 2001 – BVerwG 6 C 19.01 – Buchholz 448.0 § 20b WPflG Nr. 3).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Bardenhewer, Büge, Graulich
Fundstellen