Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 23.03.2006; Aktenzeichen 11 LC 180/05) |
Tenor
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
- Bedeutet die Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Richtlinie 2004/27/EG, dass die Richtlinie 2001/83/EG auf ein Produkt anzuwenden ist, das möglicherweise als Arzneimittel einzuordnen ist, dessen Arzneimitteleigenschaft aber nicht positiv festgestellt ist? Welches Maß an Wahrscheinlichkeit und demgemäß welches Maß an Sachaufklärung ist gegebenenfalls erforderlich, um die Anwendung der Richtlinie 2001/83/EG zu rechtfertigen?
- Kann ein Produkt, das kein Präsentationsarzneimittel ist, als Funktionsarzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Richtlinie 2004/27/EG angesehen werden wegen eines Bestandteils, der in bestimmter Dosierung physiologische Veränderungen hervorrufen kann, dessen Dosierung in dem zu beurteilenden Produkt – bei bestimmungsgemäßem Gebrauch – aber dahinter zurückbleibt? Ist diese Frage dem Merkmal der “pharmakologischen Wirkung” oder dem Merkmal der “Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen” zuzuordnen?
- Spielen die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei der Einordnung als Arzneimittel neben den pharmakologischen Eigenschaften als relevant erklärten Merkmale “Modalitäten seines Gebrauchs, Umfang seiner Verbreitung, Bekanntheit bei den Verbrauchern und Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann” (Urteil vom 9. Juni 2005 – Rs. C-211/03 – Slg. I-5141, 5217 Rn. 51) nach der Neufassung der Definition des Arzneimittels durch die Richtlinie 2004/27/EG noch eine Rolle?
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Verfügung, mit der der Klägerin das Inverkehrbringen eines als Nahrungsergänzungsmittel deklarierten Produkts mit der Begründung untersagt worden ist, es handele sich um ein zulassungspflichtiges, aber nicht zugelassenes Arzneimittel.
Die Klägerin betreibt einen pharmazeutischen Großhandel. Im Oktober 2002 informierte die Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker die Bezirksregierung Lüneburg darüber, dass die Klägerin angekündigt habe, ab dem 1. September 2002 ein Produkt mit dem Namen “Red Rice 330 mg GPH Kapseln” in den Handel zu bringen, das den Wirkstoff Monacolin K… enthalte. Dieser sei identisch mit Lovastatin, einem Cholesterol-Synthesehemmer, der in Deutschland als verschreibungspflichtiges Arzneimittel im Verkehr sei.
Die streitigen Kapseln werden in Plastikflaschen in den Verkehr gebracht, deren Etikettierung u.a. folgende Angaben enthält: Red Rice, 330 mg, Nahrungsergänzung mit fermentiertem Reis. Weiter heißt es dort: “Eine Kapsel enthält 330 mg rot fermentierten Reis entsprechend 1,33 mg Monacolin K….” Unter den Zutaten ist Red Rice Pulver mit 71 % angegeben. Die Verwendungsempfehlung lautet: Als Nahrungsergänzungsmittel 1 – 3 × täglich 1 Kapsel.
Unter dem 4. Dezember 2002 warnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in einer Pressemitteilung vor dem Verzehr von Red Rice-Produkten. Durch die gleichzeitige Einnahme von rotem Reis und Arzneimitteln zur Senkung erhöhter Cholesterinwerte sei das gehäufte Auftreten von Nebenwirkungen zu befürchten; diese könnten sich insbesondere als Muskelschädigungen äußern. Auf Antrag der Bezirksregierung Lüneburg erklärte das Bundesinstitut, dass es sich bei dem von der Klägerin vertriebenen Produkt aufgrund seiner überwiegenden Zweckbestimmung um ein Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) handele; die in dem Produkt enthaltenen Stoffe seien geeignet, den Körper oder dessen Zustand zu beeinflussen.
Das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit kam in einem Bericht vom 6. Dezember 2002 zu dem Ergebnis, dass die Einstufung des Produkts als Nahrungsergänzungsmittel und damit als Lebensmittel nicht gerechtfertigt sei, obwohl die Probe – soweit erkennbar – die Vitamine C, B 1 und B 6 in einer ernährungsphysiologisch günstigen Menge enthalte. Der Hinweis auf der Verpackung lenke insbesondere auf den Inhaltsstoff Monacolin K… hin, der keinen Nährstoff, sondern einen therapeutischen Wirkstoff darstelle. Rot fermentierter Reis werde aus Reis mit Hilfe von Schimmelpilzen der Gattung Monascus gewonnen. Im asiatischen Raum werde er seit Jahrhunderten traditionell zur Geschmacksgebung und Färbung von Lebensmitteln sowie als Arzneimittel verwendet.
Mit Bescheid vom 19. Dezember 2002 untersagte die Bezirksregierung Lüneburg der Klägerin das Inverkehrbringen des streitigen Produkts in Deutschland. Zur Begründung führte sie aus, es handele sich um ein zulassungspflichtiges, aber nicht zugelassenes Arzneimittel. Den Widerspruch der Klägerin wies die Bezirksregierung durch Bescheid vom 11. Juni 2003 zurück.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, eine Einstufung als Arzneimittel komme nur in Betracht, wenn das Produkt aufgrund seiner Dosierung und täglichen Verzehrempfehlung eine pharmakologische Wirkung entfalte, die zwingend von der Behörde nachgewiesen werden müsse, was hier nicht geschehen sei. Soweit beanstandet werde, dass das streitige Produkt aufgrund fehlender Warnhinweise in zu hohen Dosen eingesetzt werden könne, hätte der Weg des geringsten Eingriffs darin bestanden, sie entsprechend den Deklarierungsvorschriften in § 4 der Verordnung über Nahrungsergänzungsmittel vom 24. Mai 2004 zu verpflichten, entsprechende Hinweise auf der Packung anzubringen. Das von ihr vertriebene Produkt reihe sich nahtlos in die Reihe anderer Lebensmittel ein, die ebenfalls eine positive Wirkung auf den Cholesterinspiegel hätten, wie etwa Margarine (“Becel”) oder Lachsölkapseln. Die Einordnung als Arzneimittel, die von der Einstufung in Österreich als Lebensmittel abweiche, stelle ein unzulässiges Handelshemmnis dar.
Das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg ist als Funktionsnachfolger der Bezirksregierung der Klage entgegengetreten.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 28. April 2005 abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 23. März 2006 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das angefochtene Vertriebsverbot sei nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG gerechtfertigt, weil es sich bei dem streitigen Produkt um ein Arzneimittel handele. Zwar falle das von der Klägerin vertriebene Produkt unter den nunmehr geltenden Lebensmittelbegriff, doch erfülle es auch die Definition des Arzneimittels. Es falle unter die weite Definition des Lebensmittels in Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Dabei sei ohne Bedeutung, ob dem Produkt Ernährungszwecke zukämen. Das Produkt sei auch ein Nahrungsergänzungsmittel im Sinne der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie 2002/46/EG vom 10. Juni 2002 (Abl. L 183 S. 51) und der sie umsetzenden Nahrungsergänzungsmittelverordnung – NemV – vom 24. Mai 2004 (BGBl I S. 1011).
Diese Zuordnung sei hier jedoch ohne rechtliche Relevanz, weil sich aus § 2 Abs. 2 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs (LFGB) i.V.m. Art. 2 der Verordnung (EG) 178/2002 und Art. 1 der Humanarzneimittelrichtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG ein Vorrang der arzneimittelrechtlichen Vorschriften ergebe. Dies habe zur Folge, dass zu den Lebensmitteln nicht solche Produkte zählten, die Arzneimittel im Sinne der Humanarzneimittelrichtlinie seien. Dieser Vorrang umfasse auch die so genannte Zweifelsregelung in Art. 2 Abs. 2 der Humanarzneimittelrichtlinie. Nach dieser Regelung seien hier die arzneimittelrechtlichen Bestimmungen anwendbar, weil das streitige Produkt jedenfalls unter die Definition des Funktionsarzneimittels fallen könne. Es könne offenbleiben, ob möglicherweise auch die Einordnung als Präsentationsarzneimittel in Betracht komme.
Das streitige Produkt sei aller Wahrscheinlichkeit nach als Funktionsarzneimittel einzustufen. Es enthalte in nennenswertem Umfang Monacolin K…. Dieser Wirkstoff sei synonym mit Lovastatin, einem bekannten Hemmstoff der Cholesterinsynthese. Der Stoff Lovastatin sei als arzneilich wirksamer Bestandteil in verschiedenen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln enthalten. Hemmstoffe der Cholesterinsynthese und andere Arzneimittel, die zur Senkung erhöhter Blutfette eingesetzt würden, könnten schwerwiegende Nebenwirkungen an den Muskeln und Nieren haben. Auf Risiken und Wechselwirkungen solcher Stoffe werde in den Packungsbeilagen von Arzneimitteln, die zur Senkung des Cholesterins auf dem Markt seien, ausdrücklich hingewiesen. Monacolin K… hemme dosisabhängig die Cholesterinproduktion der Leber, setze somit den Cholesterinspiegel des Blutes beim Menschen herab und stabilisiere den Fettstoffwechsel. Danach sei die Einnahme des streitigen Produkts geeignet, zur Senkung erhöhter Cholesterinwerte, die als Risikofaktor für Herz und Kreislauf gelten, und damit zur Erfüllung eines therapeutischen Zwecks beizutragen. Dies spreche für das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels.
Die Klägerin könne sich nicht darauf berufen, dass eine pharmakologische Wirkung des streitigen Produkts bei der angegebenen Verzehrempfehlung auszuschließen sei. Die Verzehrempfehlung führe zu einer Tagesdosis von 1,33 bis 4 mg Monacolin K…. Dies sei allerdings im Vergleich mit der für Lovastatin empfohlenen täglichen Dosis von 10 bis 80 mg niedrig. Daraus könne die Klägerin aber nicht herleiten, dass dem von ihr vertriebenen Produkt eine pharmakologische Wirkung fehle. Maßgeblich sei vielmehr, ob eine Vergleichbarkeit mit regulär zugelassenen Arzneimitteln bestehe. Auch wenn bei Einhaltung der Verzehrempfehlung für das streitige Produkt die Tagesdosis im Vergleich zu den verschreibungspflichtigen Arzneimitteln niedrig sei, müsse berücksichtigt werden, dass als Nahrungsergänzungsmittel deklarierte Präparate in der Regel unkontrolliert und in höherer als der empfohlenen Menge eingenommen würden. Allerdings fehlten in der Stellungnahme des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte nähere Aussagen dazu, ab welcher Dosis mit Gesundheitsgefahren zu rechnen sei. Es gebe zu dieser Frage – soweit ersichtlich – auch sonst keine ausreichenden wissenschaftlichen Daten. Die verbleibenden potenziellen Gesundheitsgefahren stellten aber ein sachgerechtes Abgrenzungskriterium dar. Damit sei ein wesentliches Indiz für das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung erfüllt.
Da der Nachweis der pharmakologischen Wirkung aber nicht mit letzter Sicherheit erbracht sei, komme die Zweifelsregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG zum Zuge. Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck der Zweifelsregelung setze ihre Anwendung nicht voraus, dass die Kriterien für das Vorliegen eines Arzneimittels nachweislich erfüllt seien. Nach dem Wortlaut reiche es aus, dass ein Produkt unter die Definition des Arzneimittels fallen könne. Die Zweifelsregelung solle die Einstufung von Grenzprodukten durch die Behörden wesentlich erleichtern.
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das Berufungsgericht habe sich zu Unrecht auf die Zweifelsregelung gestützt. Diese solle lediglich den Vorrang des Arzneimittelrechts vor anderen Regelungen sicherstellen, wenn feststehe, dass es sich um ein Arzneimittel handele. Dagegen sei es nicht ihr Ziel, weitreichende Verkehrsverbote für Lebensmittel und deren Sonderformen wie Nahrungsergänzungsmittel und diätetische Lebensmittel aufzustellen.
Das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass das streitige Produkt zu den Funktionsarzneimitteln gehöre oder gehören könne. Bei Beachtung der Verzehrempfehlung liege die aufgenommene Tagesdosis an Monacolin K… weit unter der Menge, die zur Erzielung einer pharmakologischen Wirkung notwendig sei. Erst recht gebe es keinerlei Beleg dafür, dass bei einer solchen Dosis Nebenwirkungen wie Muskelschädigungen auftreten könnten. Gegebenenfalls hätte das Berufungsgericht diese Frage durch ein Sachverständigengutachten klären müssen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hält die Anwendung der Zweifelsregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG durch das Berufungsgericht für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Beantwortung der im Tenor dieses Beschlusses gestellten Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf die Abgrenzung der Humanarzneimittel von den Lebensmitteln, insbesondere von den Nahrungsergänzungsmitteln, ab. Diese Fragen sind in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Sie können vom Bundesverwaltungsgericht nicht in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise beantwortet werden. Der Senat setzt daher das Verfahren aus und legt die Fragen gemäß Art. 234 Abs. 3 EG dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft zur Vorabentscheidung vor.
1. Nach nationalem Recht ist Grundlage der ergangenen Verbotsverfügung § 69 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG) in der Fassung vom 11. Dezember 1998 (BGBl I S. 3586). Nach dieser Vorschrift treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für das Arzneimittel nicht vorliegt. Damit ist die streitentscheidende Frage, ob die von der Klägerin vertriebenen “Red Rice-Kapseln” ein Arzneimittel sind oder nicht.
Definiert wird das Arzneimittel im nationalen Recht in § 2 Abs. 1 AMG. Danach sind, soweit hier einschlägig, Arzneimittel Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper (1.) Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen, oder (5.) die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen. Diese Definition entspricht – jedenfalls bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung – der Begriffsbestimmung des Arzneimittels, wie sie nunmehr das Gemeinschaftsrecht in Art. 1 der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel vom 6. November 2001 (ABl. EG Nr. L 311 S. 67) in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31. März 2004 (ABl. EG Nr. L 136 S. 34) enthält. Dafür sprechen trotz unterschiedlichen Wortlauts zwei Gründe. Zum einen ist die Richtliniendefinition durch Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 27. Januar 1997 (ABl. L 43 S. 1) ausdrücklich in Bezug genommen und dadurch auch für die Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich gemacht worden. Zum anderen hat der nationale Gesetzgeber im 14. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz vom 29. August 2005 (BGBl I S. 2570), das der Umsetzung der Richtlinie 2004/27/EG dient, keinen Anlass gesehen, die Formulierungen des Arzneimittelgesetzes zu ändern. Er ist mithin davon ausgegangen, dass die Regelungen deckungsgleich sind. Im Gesetzgebungsverfahren ist dies von der Bundesregierung ausdrücklich ausgesprochen worden.
2. Das Berufungsgericht hat nicht positiv festgestellt, dass es sich bei dem streitigen Produkt um ein Arzneimittel im Sinne der genannten Definition handelt. Es hat ausdrücklich offengelassen, ob es nach seiner Bezeichnung als Arzneimittel anzusehen ist(“Präsentationsarzneimittel”). Von einer entsprechenden Einordnung kann daher im Revisionsverfahren nicht ausgegangen werden. Vielmehr stützt das Berufungsgericht seine Entscheidung auf die Aussage, “aller Wahrscheinlichkeit nach” sei das streitige Produkt ein Funktionsarzneimittel. Es erscheint zweifelhaft, ob eine solche Feststellung ausreicht, das streitige Produkt den arzneimittelrechtlichen Vorschriften zu unterstellen. Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 schließt in Satz 3 lit. d Arzneimittel im Sinne der Humanarzneimittelrichtlinie von den Lebensmitteln aus. Normalerweise bedeutet dies, dass die Arzneimitteleigenschaft eines Produkts positiv festgestellt werden muss, um es von der Geltung der lebensmittelrechtlichen Vorschriften freizustellen. Das Berufungsgericht meint aber, nach der Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG sei eine positive Feststellung nicht nötig.
Die genannte Regelung besagt, dass in Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von “Arzneimittel” als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, die Humanarzneimittelrichtlinie gilt. Die Bedeutung dieser Bestimmung ist äußerst streitig (vgl. Schroeder, ZLR 2005, 411, 421; Pfortner, PharmR 2004, 388, 393; Mahn, ZLR 2005 S. 529, 545; Groß, EuZW 2006, 172, 175). Die Spannweite der Meinungen reicht von einer bloß deklaratorischen Wiedergabe des Vorrangs des Arzneimittelrechts bei erwiesener Arzneimitteleigenschaft bis zu einer Vermutungs- und Beweislastregel bei Unerweislichkeit der Arzneimitteleigenschaft. Ein wesentlicher Grund dieser Auseinandersetzungen sind die Begründungserwägungen der Richtlinie 2004/27/EG. Die 7. Begründungserwägung sagt in ihrem zweiten Satz:
“Damit zum einen das Entstehen neuer Therapien und zum anderen die steigende Zahl von so genannten ‘Grenzprodukten’ zwischen dem Arzneimittelbereich und anderen Bereichen Berücksichtigung finden, sollte die Begriffsbestimmung des Arzneimittels geändert werden, um zu vermeiden, dass Zweifel an den anzuwendenden Rechtsvorschriften auftreten, wenn ein Produkt, das vollständig von der Definition des Arzneimittels erfasst wird, möglicherweise auch unter die Definition anderer regulierter Produkte fällt.”
In dieser Formulierung wird die Erfüllung der Arzneimittelkriterien als gegeben vorausgesetzt, während Zweifel durch die zusätzliche Zuordnung zu anderen Rechtsbereichen entstehen. Im Wortlaut der Richtlinie wird dagegen für beide Bereiche nur die Möglichkeit der Zuordnung angesprochen. Besonders problematisch erscheint der siebte Satz der 7. Begründungserwägung:
“Fällt ein Produkt eindeutig unter die Definition anderer Produktgruppen, insbesondere von Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, Produkten der Medizintechnik, Biozyten oder kosmetischen Mitteln, sollte diese Richtlinie nicht gelten.”
Wörtlich bedeutet dies, dass die arzneimittelrechtlichen Vorschriften zurückzutreten haben, wenn ein Produkt beispielsweise eindeutig unter die Definition des Lebensmittels fällt. Im Wortlaut der Richtlinie findet sich dies nicht wieder. Angesichts der Weite der Definition des Lebensmittels erschiene eine solche Regelung auch kaum vertretbar, da die allermeisten Arzneimittel diese Definition erfüllen.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 9. Juni 2005 (Rs. C 211/03 u.a. “HLH und Orthica” – Slg. I-5189 Rn. 44) die Zweifelsfallregelung als Beleg für den Anwendungsvorrang des Arzneimittelrechts herangezogen. Zur Auslegung der Bestimmung, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, hat er jedoch nicht Stellung genommen.
Der Senat hält die vom Berufungsgericht vorgenommene und von der Vertreterin des Bundesinteresses gebilligte Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 2001/83/EG für bedenklich. Sie führt zu einer erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs des Arzneimittelrechts, ohne dass abschließend geklärt ist, ob das betreffende Produkt tatsächlich ein Arzneimittel ist. Die vom Beklagten hierfür angeführten Bedürfnisse der Verwaltung können eine solche Regelung nicht rechtfertigen.
Dem Europäischen Gerichtshof ist daher die unter Ziffer 1 des Tenors formulierte Frage nach der Auslegung der Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 2001/83/EG vorzulegen.
3. Unabhängig von der Frage nach der Bedeutung der Zweifelsfallregelung wirft der vorliegende Rechtsstreit zwei weitere gemeinschaftsrechtliche Fragen auf, die beide den Begriff des Funktionsarzneimittels zum Gegenstand haben. Die im Tenor zu Ziff. 2 gestellte Frage zielt auf die Klärung, ob ein Produkt, das einen Stoff enthält, der in bestimmter Dosierung im menschlichen Körper physiologische Veränderungen hervorrufen kann, wegen des Vorhandenseins dieses Stoffes als Arzneimittel anzusehen ist, obwohl die im Produkt enthaltene Dosis bei bestimmungsgemäßem Gebrauch nicht zur Herbeiführung solcher Veränderungen ausreicht.
Das Berufungsgericht hat die – mit Restzweifeln versehene – Bejahung der pharmakologischen Wirkung des streitigen Produkts entscheidend darauf gestützt, dass der Wirkstoff Monacolin K… auch in zugelassenen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln Verwendung finde. Mit dieser Begründung hat es den vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bestätigten Hinweis der Klägerin für irrelevant erklärt, dass die bei Einhaltung der Verzehrempfehlung eingenommene Tagesdosis von 1,33 bis 4 mg Monacolin K… im Vergleich mit der für die Arzneimittel empfohlenen täglichen Dosis von 10 bis 80 mg niedrig sei.
Diese Argumentation erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zweifelhaft. Dieser hat in seinem Urteil vom 29. April 2004 (Rs. C-150/00 – Slg. I-3891 Rn. 73 bis 75) beanstandet, dass ein Präparat, dessen Gehalt an Vitaminen A, D oder K zu gering ist, um bei normalem Gebrauch das Risiko einer Überdosierung zu bergen, als Arzneimittel eingestuft wird. Diese Praxis könne zur Konsequenz haben, dass Präparate, die die Vitamine A, D oder K enthielten, auch dann als Arzneimittel eingestuft würden, wenn ihr Gehalt an diesen Stoffen zu gering sei, um ihre Eignung “zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen Körperfunktionen” zu begründen. Den vorliegend auch vom Berufungsgericht erhobenen Einwand, es komme häufig vor, dass Verbraucher Nahrungsergänzungsmittel in höheren Dosierungen konsumierten als auf den Beipackzetteln angegeben, hat der Europäische Gerichtshof mit dem Argument zurückgewiesen, fast alle Erzeugnisse seien potenziell gesundheitsschädlich, wenn sie im Übermaß aufgenommen würden; für die Beurteilung, ob ein Erzeugnis ein Arzneimittel “nach der Funktion” sei, müsse deshalb auf die normale Anwendungsweise abgestellt werden. Dieses Urteil ist in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Republik Österreich ergangen. Im Ergebnis ebenso entschieden hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 29. April 2004 (Rs. C-387/99 – Slg. I-3773) in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland. Eine entsprechende deutsche Praxis beanstandet die Kommission derzeit in der Rechtssache C-319/05 mit dem Vorwurf, die Bundesrepublik Deutschland habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 und 30 EG verstoßen, dass sie ein Knoblauchpräparat, das in Kapseln abgefüllt ist und nicht unter die Definition des Arzneimittels nach der Bezeichnung fällt, als Arzneimittel einstufe.
Die Praxis, ein Produkt wegen eines in bestimmter Dosis pharmakologisch wirksamen Bestandteils als Arzneimittel zu deklarieren ohne Rücksicht darauf, ob die in dem Arzneimittel vorhandene Dosis bei bestimmungsgemäßem Gebrauch einen Einfluss auf die Gesundheit des Einnehmenden haben kann, führt letztlich dazu, dass solche Produkte überhaupt keine Möglichkeit haben, die Verkehrsfähigkeit zu erlangen. Als Arzneimittel sind sie nämlich nicht zulassungsfähig, weil ihnen wegen der geringen Dosierung die therapeutische Wirksamkeit fehlt. Als Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel sind sie nicht verkehrsfähig, weil sie zu den Arzneimitteln gezählt werden.
Trotz dieser Erwägungen kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass diese Praxis von allen Behörden der Bundesrepublik einschließlich des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte geübt wird und dass sie auch in der Rechtsprechung – nicht nur im angefochtenen Urteil, sondern beispielsweise auch vom Oberverwaltungsgericht Münster im Beschluss vom 26. April 2005 – 13 A 1010/02 – vielfach gebilligt wird. Unter diesen Umständen kann nicht angenommen werden, die Fehlerhaftigkeit dieser Praxis ergebe sich zweifelsfrei aus der gemeinschaftsrechtlichen Definition des Arzneimittels und der bisher dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs.
4. Schließlich stellt sich aufgrund der neuen Definition des Arzneimittels in der Richtlinie 2004/27/EG die Frage, ob entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs neben der pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Wirkung des Produkts weitere Merkmale wie “die Modalitäten seines Gebrauchs, Umfang seiner Verbreitung, Bekanntheit bei den Verbrauchern und mögliche Risiken seiner Verwendung” bei der Einordnung als Arzneimittel zu berücksichtigen sind. Auch diese Frage ist in der Literatur außerordentlich umstritten (vgl. die Nachweise bei Groß, EuZW 2006, 172, 174 Fußn. 33). Überwiegend wird angenommen, die Neufassung des Arzneimittelbegriffs enthalte eine Objektivierung, die für diese Merkmale keinen Raum lasse. Da Wortlaut und Sinn und Zweck der Regelung eine jeden Zweifel ausschließende Beantwortung nicht zulassen, ist auch diese Frage dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Unterschriften
Kley, van Schewick, Dr. Dette, Liebler, Prof. Dr. Rennert
Fundstellen