Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 09.05.1997; Aktenzeichen 7 A 1073/96) |
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordhrein-Westfalen vom 9. Mai 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
II. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15.000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Klägerin ist Eigentümerin des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks in der A. Straße in K.. Sie klagt als Nachbarin gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung. Die Aachener Straße ist in der Höhe des klägerischen Grundstücks eine Bundesstraße (B 55). Ein Bebauungsplan für die Umgebung des Grundstücks bestand im Zeitpunkt des angegriffenen Berufungsurteils nicht.
Die Beigeladene erhielt unter dem 17. März 1993 antragsgemäß eine Baugenehmigung für ein zweigeschossiges Wohnhaus. Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch. Mit diesem trug sie vor, das Vorhaben der Beigeladenen verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Der Widerspruch blieb erfolglos.
Das Verwaltungsgericht gab der Klage statt. Die hiergegen gerichtete Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen hatten Erfolg. Das Berufungsgericht wies die Klage als unbegründet ab. Das Gericht verneinte die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des Bauplanungsrechts. Zur näheren Begründung nahm es auf sein Urteil vom selben Tage in einem Parallelverfahren Bezug.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin, mit der die Zulassung der Revision begehrt wird. Das angegriffene Urteil werfe Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Es sei auch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Rechtskraft seiner am selben Tage erlassenen Entscheidung hinsichtlich der Baugenehmigung des Baues auf der anderen Nachbarseite des klägerischen Grundstücks zugrunde gelegt.
Die Beigeladene ist der Beschwerde entgegengetreten.
Das Beschwerdegericht hat mit Urteil vom 27. März 1998 – BVerwG 4 C 11.97 – der Revision der Klägerin hinsichtlich der Genehmigung des Baues auf der anderen Nachbarseite des klägerischen Grundstücks stattgegeben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht mit dem Ziel der bauplanungsrechtlichen Prüfung zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet.
Das Urteil des Berufungsgerichts leidet unter einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung macht der beschließende Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch.
1. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Es legt seiner tatrichterlichen Beurteilung einen tatsächlichen Umstand zugrunde, der offenkundig nicht zutrifft.
a) Das Berufungsgericht beurteilt das Vorhaben der Beigeladenen bauplanungsrechtlich nach Maßgabe des § 34 Abs. 1 und 2 BauGB. Dazu bestimmt es die nähere Umgebung des Baugeschehens. Maßgebend ist nach seiner Ansicht die tatsächlich vorhandene Bebauung. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung auch des Beschwerdegerichts. Ebenso wie zur Bestimmung des Bebauungszusammenhanges gehört zum näheren Rahmen die tatsächlich vorhandene Bebauung unabhängig davon, ob die Baulichkeiten genehmigt worden sind oder aber in einer Weise geduldet werden, die keinen Zweifel daran läßt, daß sich die zuständigen Behörden mit ihrem Vorhandensein abgefunden haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. November 1968 – BVerwG 4 C 31.66 – BVerwGE 31, 22 ≪26≫; Urteil vom 22. März 1972 – BVerwG 4 C 121.68 – BauR 1972, 222 = DÖV 1972, 827; ebenso OVG NRW, Urteil vom 22. Mai 1992 – 11 A 1709/89 – ZfBR 1992, 294 = NVwZ-RR 1993, 400).
Diese Rechtsauffassung legt das Berufungsgericht zugrunde. Es beurteilt das Baugeschehen auf der anderen Nachbarseite des klägerischen Grundstücks in tatsächlicher Hinsicht als endgültig. Dazu konnte sich das Gericht ohne Zweifel – wie seine Begründung zu ergänzen ist – auf die Handlungsweise des Beklagten beziehen. Der Beklagte hatte ebenfalls gegen das erstinstanzliche stattgebende Urteil Berufung eingelegt. Diesen Umstand konnte das Berufungsgericht dahin würdigen, der Beklagte werde von sich aus nichts unternehmen, um den vorhandenen Bau zu beseitigen. Allerdings war diese tatrichterliche Beurteilung dann nicht hinreichend, wenn der Beklagte durch Rechtsbehelfe gezwungen werden konnte, den Bau zu beseitigen. Das Berufungsgericht hat diese rechtliche Möglichkeit nur deshalb verneint, weil es das klägerische Begehren in einem anderen Rechtsstreit, in dem über die Rechtmäßigkeit gerade dieser Bebauung gestritten wurde, negativ beurteilte. Damit hat das vorinstanzliche Gericht der Sache nach eine Tatsache als feststehend behandelt, welche im Zeitpunkt seiner Beurteilung indes nicht feststand. Auch wenn das Berufungsgericht von der Richtigkeit seiner Beurteilung in dem Parallelprozeß überzeugt sein durfte, so lag dennoch eine rechtskräftige Entscheidung nicht vor. Nur diese hätte die berufungsgerichtliche Schlußfolgerung rechtfertigen können.
b) Das Berufungsurteil beruht auch auf dem bezeichneten Verfahrensfehler. Das Berufungsgericht hat den Bau auf der anderen Nachbarseite des klägerischen Grundstücks ausdrücklich in die Beurteilung der näheren Umgebung einbezogen. Es hat eine Unbeachtlichkeit als sog. Fremdkörper ausgeschlossen. Es hat ferner das Baugeschehen auch dahin gewürdigt, ob sich das Vorhaben der Beigeladenen im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB einfüge und dies bejaht.
Die Beigeladene trägt in ihrer Beschwerdeerwiderung vor, die Ermächtigung zum Erlaß einer Abrißverfügung bestimme sich nach irrevisiblem Landesrecht. Das Berufungsgericht habe die Feststellung treffen können, die Klägerin werde eine Abrißverfügung nicht erzwingen können. Dieses Vorbringen ergibt nicht, daß der Verfahrensmangel nicht erheblich ist. Das Berufungsgericht hat die von der Beigeladenen vorgetragene Überlegung nicht zur Grundlage seiner tatrichterlichen Beurteilung gemacht. Das zeigt seine Entscheidungsbegründung. Das Gericht hat ersichtlich aus Rechtsgründen die von der Beigeladenen angestellte Prognose als entbehrlich angesehen. Die von der Beigeladenen ferner angenommene Maßgeblichkeit allein des irrevisiblen Landesrechts ist zudem nicht sicher. Zwar ist die gesetzliche Ermächtigung zum Erlaß einer Abrißverfügung im irrevisiblen Landesbauordnungsrecht enthalten. Die Fragestellung geht indes dahin, ob und gegebenenfalls in welchen Grenzen die zuständige Behörde auch dann ein Entscheidungsermessen besitzt, wenn es sich um die Wahrung der nach Bundesrecht zu beurteilenden bauplanungsrechtlichen Zustände handelt. Das Bundesverwaltungsgericht hat – wenngleich in einem anderen Zusammenhang – bereits darauf hingewiesen, daß das materielle Bauplanungsrecht in seiner Beachtung und Durchsetzung grundsätzlich nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1985 – BVerwG 7 C 65.82 – BVerwGE 72, 300 – Whyl).
c) Auf weitere geltend gemachte Zulassungsgründe kommt es bei dieser Sachlage nicht an.
3. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 14 Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Hien
Fundstellen
BauR 1999, 735 |
BRS 1999, 599 |
UPR 1998, 355 |