Verfahrensgang

VGH Baden-Württemberg (Aktenzeichen 10 S 937/98)

 

Tenor

1. Die Verfahren BVerwG 3 C 1.99 und BVerwG 3 C 13.99 werden unter dem Aktenzeichen BVerwG 3 C 1 und 13.99 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2. Das Verfahren wird ausgesetzt.

3. Es wird eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgender Frage der Auslegung des Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 i.d.F. der VO (EWG) Nr. 1648/95 eingeholt:

Hat eine Kürzung des Beihilfesatzes gemäß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 auch dann zu erfolgen, wenn die in Satz 1 vorausgesetzte Differenz zwischen der Zahl der angegebenen Tiere und der Zahl der bei der Kontrolle festgestellten Tiere nicht auf falschen Angaben des Antragstellers, sondern darauf beruht, daß die Behörde hinsichtlich einzelner Tiere die Prämienvoraussetzungen verneint?

 

Gründe

1. In der Sache BVerwG 3 C 1.99 beantragte der klagende Landwirt am 14. Mai 1993 beim zuständigen Landwirtschaftsamt die Gewährung der EG-Sonderprämie für männliche Rinder für 23 bereits im Januar geschlachtete Tiere sowie für vier am 14. April 1993 nach Italien verkaufte Bullen. Die Behörde lehnte den Antrag hinsichtlich der exportierten Tiere ab, weil der Kläger die Prämie nicht wie vorgeschrieben drei Tage vor dem Abtransport der Tiere beantragt hatte; ferner kürzte sie aus diesem Grunde unter Berufung auf Art. 10 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 3887/92 die auf die anderen Tiere entfallende Gesamtprämie um 40 v.H.

Das Verwaltungsgericht hat entschieden, die Prämie für die ausgeführten Bullen sei zu Recht versagt worden, doch rechtfertige dieser Umstand nicht die zusätzliche Prämienkürzung. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ist dieser Ansicht gefolgt und hat sich hierfür u.a. auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts berufen.

2. Im Verfahren BVerwG 3 C 13.99 verweigerte die beklagte Behörde dem klagenden Landwirt eine Sonderprämie für vier Ochsen, weil drei Tiere nicht erst zwei Wochen nach Abgabe der Beteiligungserklärung geschlachtet worden seien und das vierte Tier nicht das Mindestschlachtgewicht erreicht habe. Das Verwaltungsgericht hat die Ablehnungsbegründung nur hinsichtlich des vierten Bullen anerkannt und entschieden, daß daraus keine Kürzung der für die drei anderen Tiere beantragten Prämie gemäß Art. 10 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 3887/92 folge. Das Oberverwaltungsgericht ist dieser Ansicht beigetreten und hat sich hierfür ebenfalls auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts berufen.

3. Der vorlegende Senat hatte sich zur Auslegung der angeführten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung in seinem Beschluß vom 5. Februar 1998 (– BVerwG 3 B 3.98 –, AgrarR 1998, 321; RdL 1998, 136) wie folgt geäußert:

Auch in Hinblick auf die zweite Frage besteht kein revisionsrechtlicher Klärungsbedarf und keine Veranlassung zur Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Die Frage lautet sinngemäß, ob als „tatsächlich festgestellte Tiere” im Sinne von Art. 10 Abs. 2 der oben bezeichneten Verordnung i.d.F. der VO (EWG) Nr. 1648/95 (ABl Nr. L 156 vom 7. Juli 1995, S. 27) auch nicht-prämienberechtigte Tiere gelten können. Wären letztere abzuziehen und ergäbe sich daraus eine Zahl, die die Zahl der im Antrag angegebenen Tiere unterschritte, so müßte nach Ansicht der Beklagten die Prämie des Klägers gemäß dieser Bestimmung gekürzt werden. Das Berufungsurteil beruht insoweit auf der Annahme, diese Bestimmung setze voraus, daß der Antragsteller falsche Angaben gegenüber der Behörde gemacht habe. Diese Annahme entspricht eindeutig der Gesetzeslage.

Wie bereits oben ausgeführt worden ist, dient Art. 10 der Abwehr und Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug durch Verhängung von Sanktionen, die nach dem Grade des Fehlverhaltens gestaffelt sind. Treffen die Angaben des Antragstellers – wie beim Kläger hinsichtlich seines Viehbestandes – in tatsächlicher Hinsicht voll zu, so entfällt die Grundlage für die Verhängung von Sanktionen selbst dann, wenn einzelne Tiere aus Rechtsgründen nicht prämienberechtigt sind. Es wäre mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, auf den sich der europäische Verordnungsgeber in den zitierten Begründungserwägungen ausdrücklich beruft, nicht zu vereinbaren, z.B. einem Antragsteller die gesamte Prämie zu versagen, weil von der Behörde bei fünf der im Antrag aufgeführten Tiere die Prämienvoraussetzungen verneint werden (vgl. Art. 10 Abs. 2 Buchstabe a) Satz 2 der o.a. Verordnung). Darüber hinaus ist bereits dem Wortlaut der Verordnung das Erfordernis falscher Angaben als Sanktionsvoraussetzung zu entnehmen. In dem besagten Absatz 2 heißt es nämlich im Anschluß an die Regelung der „schlichten” Differenzfälle: „Handelt es sich jedoch um falsche Angaben, die absichtlich oder aufgrund grober Fahrlässigkeit gemacht wurden, so wird der betreffende Betriebsinhaber ausgeschlossen …”. Diese Vorschrift ist nur so zu verstehen, daß auch in den leichteren Fällen „falsche Angaben” – wenn auch ohne den Nachweis subjektiven Verschuldens – vorausgesetzt sind.

4. Der Ansicht des vorlegenden Senats ist die Europäische Kommission – Generaldirektion VI – in einer Stellungnahme an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 9. November 1998 entgegengetreten. Darin heißt es:

Bei der zweiten vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Frage geht es darum, ob als „tatsächlich festgestellte Tiere” im Sinne von Artikel 10 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 auch nicht-prämienfähige Tiere gelten können.

Das Bundesverwaltungsgericht geht offenbar davon aus, daß jede Grundlage für Sanktionen entfällt, wenn die Angaben des Antragstellers hinsichtlich seines Viehbestandes in „tatsächlicher” Hinsicht zutreffen, auch wenn einzelne der beantragten Tiere aus Rechtsgründen nicht prämienberechtigt sind.

Demgegenüber verstehen die Verwaltungen, soweit ersichtlich, in sämtlichen Mitgliedstaaten und die Kommission diesen Artikel des Gemeinschaftsrechts dahin gehend, daß die Beihilfe auf der Grundlage der in dem Antrag angegebenen Tiere zu berechnen ist, die als prämienfähig festgestellt worden sind. Liegt die Anzahl der in dem Beihilfeantrag angegebenen Tiere über der Zahl der als tatsächlich prämienfähig festgestellten Tiere, so ist für die Beihilfenberechnung nur die Zahl der tatsächlich prämienfähigen Tiere heranzuziehen. Darüber hinaus ist der Prämienbetrag entsprechend Artikel 10 Absatz 2 Satz 2, außer bei „höherer Gewalt” oder aus Gründen natürlicher Umstände der Herde, zu kürzen.

Entsprechend der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Vorschrift betrachtet die Gemeinschaftsverordnung Abweichungen zwischen der Anzahl der beantragten und als prämienfähig festgestellten Tiere als fehlerhafte Erklärung als solche. Angesichts der Vielzahl von Prämienanträgen, die in den Mitgliedstaaten jährlich bearbeitet werden, wird es der Verwaltung nicht aufgebürdet, zu differenzieren, aus welchen Gründen der Antragsteller eine höhere Anzahl von Tieren beantragt hat. Nur bei Nachweis von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit kommt es zu einem Prämienausschluß.

Diese Rechtslage wird durch die Novellierung durch die Verordnung (EG) Nr. 1678/98 in einigen Sprachfassungen nochmals verdeutlicht. In der deutschen Fassung wurde aus sprachlichen Gründen auf eine nochmalige Verdeutlichung verzichtet, da der Inhalt der Bestimmung den deutschsprachigen Verhandlungsteilnehmern aus Deutschland, Österreich und der Kommission sowie den mit dem Abgleich der Sprachfassungen befaßten Sprachjuristen eindeutig genug erschien.

Die in Deutschland verwendeten Merkblätter, soweit sie der Kommission bekannt sind, stellen die Rechtslage ebenfalls deutlich dar. In den geprüften Fällen waren sie sogar Bestandteil der Anträge, und der Landwirt bestätigte mit seiner Unterschrift ausdrücklich die Kenntnisnahme. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß die Merkblätter einzelner Länder in Deutschland nicht deutlich genug die prämienrelevanten Voraussetzungen darstellen, so daß es zu der oben dargelegten Interpretation des Bundesverwaltungsgerichts gekommen ist.

Da eine endgültige Klärung der Frage letztendlich nur durch eine authentische Auslegung der Gemeinschaftsrechtsbestimmung durch den Europäischen Gerichtshof erfolgen kann, sollte die deutsche Verwaltung, sofern weitere Fälle gerichtlich anhängig sind oder werden, frühzeitig unter Hinweis auf die Rechtsauffassung der Kommission auf eine Vorlage beim Europäischen Gerichtshof drängen. Gemäß Artikel 177 EG-Vertrag können die Gerichte der Mitgliedstaaten Fragen in einem schwebenden Verfahren, die die Auslegung von EG-Recht betreffen und entscheidungsrelevant sind, dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegen.

Auch das Mitglied der Europäischen Kommission Franz Fischler hat sich in ähnlichem Sinne geäußert. In seinem Schreiben vom 21. Dezember 1998 an den Niedersächsischen Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bezeichnet er den angeführten Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts als offensichtliche Fehlentscheidung, weil dort „ohne Not und entgegen Inhalt und Sinn der Verordnung, wie es sich aus den Erwägungsgründen ergibt, ein neues Tatbestandsmerkmal, nämlich ein Verschuldenselement, in Art. 10, Absatz 2 der Verordnung 3887/92 hineininterpretiert” werde.

5. Der Senat bezweifelt die Richtigkeit des Kommissionsstandpunktes. Er sieht eine unverhältnismäßige Härte darin, bei Verneinung der Prämienvoraussetzungen für einzelne Tiere trotz zutreffender Angaben des Antragstellers die Prämie auch für diejenigen Tiere zu kürzen, die alle Voraussetzungen erfüllen. Damit wird der Antragsteller dem Risiko ausgesetzt, daß ihm wegen rechtsirrtümlicher Einbeziehung nicht-prämienberechtigter Tiere ein Schaden entsteht, der über die Nichtanerkennung dieser Tiere weit hinausgeht. Der Senat vermag nicht zu erkennen, daß diese Rechtsfolge aus dem Wortlaut und dem Kontrollzweck der Verordnung eindeutig abzuleiten ist. Bei Zugrundelegung der Ansicht des Senats wäre die Prämienkürzung entgegen der Ansicht des Kommissionsmitglieds Fischler auch nicht nur bei schuldhaftem Verhalten des Antragstellers, sondern generell bei unrichtigen tatsächlichen Angaben vorzunehmen.

Nach Bekanntwerden der angeführten Äußerungen der Europäischen Kommission bejaht der Senat nunmehr das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 234 EGV und legt die eingangs formulierte Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vor.

 

Unterschriften

Prof. Dr. Driehaus, van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel, Dr. Brunn

 

Fundstellen

Dokument-Index HI566139

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