Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 07.03.2014; Aktenzeichen 3 A 528/12) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. März 2014 wird aufgehoben, soweit das Oberverwaltungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Unfallausgleich für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v.H. abgelehnt hat.
Insoweit wird der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. März 2014 zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 13 000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die auf Verfahrensrügen nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde des Klägers hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO teilweise zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Im Übrigen ist sie unbegründet.
In der Berufungsinstanz sind Ansprüche des Klägers auf Unfallausgleich für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40, 50 und 60 v.H. anhängig gewesen (§ 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 BeamtVG in der zum Unfallzeitpunkt geltenden Fassung vom 16. März 1999 ≪BGBl S. 322≫, § 31 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes ≪BVG≫). Das Oberverwaltungsgericht hat die beiden höheren Ansprüche in dem Berufungsurteil verfahrensfehlerfrei verneint. Soweit es jedoch auch einen Anspruch auf Unfallausgleich für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v.H. nicht für gegeben gehalten hat, beruht das Berufungsurteil auf einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, nämlich auf der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zur nochmaligen Prüfung dieses Anspruchs ist der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Der 1963 geborene Kläger stand bis zu seiner vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand mit Wirkung ab 1. Juni 2009 als Polizeivollzugsbeamter im Dienst des Beklagten. Er leidet aufgrund eines Angriffs, dem er während eines polizeilichen Einsatzes am 9. Februar 2006 ausgesetzt war, an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an einer depressiven Störung. Der Beklagte erkannte das Ereignis als Dienstunfall an und bewilligte als Unfallausgleich eine monatliche Grundrente für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Schädigungsfolgen) von 30 v.H.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger als Unfallausgleich eine monatliche Grundrente für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v.H. zu zahlen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewiesen. In dem Berufungsurteil heißt es, der Beklagte habe die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu Recht auf 30 v.H. festgesetzt. Dies ergebe sich aus dem im Berufungsverfahren eingeholten nervenfachärztlich-psychotherapeutischen Gutachten des Facharztes Dr. T. vom 17. Juni 2013 und dessen ergänzenden Erläuterungen in der mündlichen Berufungsverhandlung. Der Sachverständige habe überzeugend dargelegt, dass die dienstunfall-bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bei einer fallbezogenen Würdigung anhand der Kriterien der einschlägigen medizinischen Regelwerke dem unteren Bereich (Grad der Minderung von 30 bis 40 v.H.) zuzuordnen sei. Der Kläger habe den Nachweis eines Grades der Minderung von 40 v.H. nicht erbracht.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger, das Oberverwaltungsgericht habe seine Aufklärungspflicht verletzt. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. T. sei nicht verwertbar gewesen. Es erfasse die Folgen der Erkrankung des Klägers nur unvollständig und weise inhaltliche Ungereimtheiten auf. Daher habe das Oberverwaltungsgericht den Beweisantrag auf Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens nicht ablehnen dürfen.
1. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforscht das Tatsachengericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es hat diejenigen Tatsachen zu ermitteln und festzustellen, die nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt entscheidungserheblich sind. Ist hierfür eine besondere fachspezifische Sachkunde erforderlich, über die das Gericht nicht verfügt, muss es sachverständige Hilfe in Anspruch nehmen. Dies ist der Fall, wenn der Gesundheitszustand eines Menschen, etwa wie im vorliegenden Fall die Schwere der gesundheitlichen Auswirkungen einer Erkrankung festzustellen und zu bewerten ist. Hierfür muss das Gericht auf ärztliche Fachkunde zurückgreifen, d.h. in der Regel ein medizinisches Gutachten einholen (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 24. Mai 2006 – BVerwG 1 B 118.05 -Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 16 = NVwZ 2007, 345 ≪jeweils Rn. 3≫ und vom 26. September 2012 – BVerwG 2 B 97.11 – juris ≪Rn. 4≫).
Über die Einholung eines weiteren Gutachtens entscheidet das Tatsachengericht nach seinem Ermessen (§ 98 VwGO, § 412 Abs. 1 ZPO). Seine Weigerung, ein weiteres Gutachten einzuholen, findet im Prozessrecht nur dann keine Stütze, wenn das bereits vorliegende Gutachten nicht geeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist etwa der Fall, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass gibt, an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters zu zweifeln. Ein weiteres Gutachten muss nicht schon dann eingeholt werden, wenn ein Beteiligter ein vorliegendes Gutachten als Erkenntnisquelle für unzureichend hält (stRspr; nur Beschlüsse vom 26. Februar 2008 – BVerwG 2 B 122.07 – NVwZ-RR 2008, 477 Rn. 29 ≪insoweit nicht veröffentlicht in Buchholz 235.1 § 55 BDG Nr. 2≫ und vom 29. Mai 2009 – BVerwG 2 B 3.09 – Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 5 = NJW 2009, 2614 ≪jeweils Rn. 7≫).
2. Nach diesen Maßstäben sind die Einwendungen des Klägers gegen das Gutachten des Sachverständigen Dr. T. nicht begründet, soweit dieser eine dienstunfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers von weniger als 50 v.H. angenommen hat. Der Sachverständige hat seiner Einschätzung alle vorhandenen ärztlichen Befunde, insbesondere die Befunde über die stationären Aufenthalte des Klägers, und seinen eigenen Eindruck aufgrund eines dreitägigen stationären Aufenthalts im November 2008 zugrunde gelegt. Der Beschwerdevortrag des Klägers lässt nicht erkennen, dass der Sachverständige die Befundtatsachen unvollständig oder inhaltlich unzutreffend berücksichtigt hat.
Der Sachverständige hat die Befundtatsachen ausgewertet, indem er sie in Bezug zu den Kriterien der einschlägigen medizinischen Regelwerke für die Auswirkungen traumatischer Störungen gesetzt hat (Nr. 3.7 der Tabelle in Teil B der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung und sog. Bad Pyrmonter Klassifikation von psychischen Traumafolgen). Diese legen jeweils drei Stufen für den Grad der Schädigungsfolgen fest, denen sie jeweils bestimmte Symptome zuordnen (untere Stufe zwischen 30 und 40 v.H.; mittlere Stufe zwischen 50 und 70 v.H.; obere Stufe zwischen 80 und 100 v.H.). Die generelle Eignung dieser Regelwerke als Orientierungshilfe für die medizinische Beurteilung des Einzelfalls stellt der Kläger in der Beschwerdebegründung nicht in Frage.
Davon ausgehend hat der Sachverständige plausibel dargelegt, die Annahme einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im mittleren Bereich zwischen 50 und 70 v.H. setze voraus, dass die Fähigkeit nicht mehr vorhanden sei, den Tagesablauf eigenständig zu gestalten und zum Beispiel an therapeutischen Maßnahmen teilzunehmen. Aus den ausgewerteten Unterlagen ergäben sich keine Hinweise, dass der Kläger an derartigen Einschränkungen leide. Aus diesem Grund sei die Zuordnung zur mittleren Stufe der Regelwerke nicht möglich, auch wenn der Kläger einige der dort aufgeführten Symptome aufweise. Auch seien den Unterlagen Vorbelastungen des Klägers (Schlafstörungen, Eheprobleme) zu entnehmen.
Die hiergegen erhobenen Einwendungen des Klägers sind nicht geeignet, die Aussagekraft des Gutachtens zu erschüttern:
Die Behauptung, der Sachverständige sei bei der Zuordnung der Erkrankungsfolgen von den Vorgaben der sog. Bad Pyrmonter Klassifikation abgewichen, trifft nicht zu. Der Kläger stützt diese Behauptung auf Auswirkungen der Erkrankung, die der Sachverständige nicht festgestellt hat. Er setzt den Feststellungen und den darauf beruhenden medizinischen Schlussfolgerungen des Sachverständigen eine abweichende Darstellung entgegen. Dies kann aus zwei Gründen nicht zum Erfolg der Aufklärungsrüge führen: Zum einen legt der Kläger nicht dar, dass seine Schilderungen durch ärztlichen Sachverstand belegt sind. Zum anderen hat der Kläger den Sachverständigen in der mündlichen Berufungsverhandlung nicht mit seiner abweichenden Darstellung konfrontiert. Die Aufklärungsrüge ist aber kein Mittel, um Versäumnisse in der Tatsacheninstanz wettzumachen (stRspr; vgl. nur Beschluss vom 16. Juli 2007 – BVerwG 2 B 55.07 – Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 95 Rn. 7).
Die Einschätzung des Sachverständigen, die Schädigungsfolgen bewegten sich im Fall des Klägers im Bereich der unteren Stufe der medizinischen Regelwerke (30 bis 40 v.H.) ist nicht deshalb angreifbar, weil beim Kläger einige Symptome vorliegen, die der mittleren Stufe (50 bis 70 v.H.) zugeordnet sind. Die darauf bezogene Rüge des Klägers lässt außer Acht, dass die Regelwerke nicht schematisch angewendet werden können, sondern nur einen Orientierungsrahmen vorgeben. Sie verpflichten den Sachverständigen ausdrücklich zu einer spezifischen Betrachtung des Einzelfalls. Der Sachverständige hat plausibel begründet, dass die der mittleren Stufe zugeordneten Symptome nicht ausreichen, um einen dienstunfallbedingten Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 v.H. annehmen zu können. Auf die hierfür maßgebende Erwägung des Sachverständigen, der Kläger könne seinen Tagesablauf eigenständig gestalten, geht dieser in der Beschwerdebegründung nicht ein. Es ist weder vom Kläger dargelegt noch sonst ersichtlich, dass diese Erwägung die Einschätzung nicht tragen kann.
Der Sachverständige ist nicht gehindert gewesen, die sich aus den Befundberichten ergebenden Vorbelastungen des Klägers zu berücksichtigen. Die Verwertung von Erkenntnissen ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie in einem früheren Gutachten zu demselben Themenbereich nicht festgestellt oder verwertet wurden. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das Ende 2008 erstellte Gutachten ein anderes Beweisthema hatte als das Gutachten vom 17. Juni 2013. Es diente nicht der Feststellung des Grades der dienstunfallbedingten Schädigungsfolgen, sondern der Feststellung eines Körperschadens als Voraussetzung für die Anerkennung eines Dienstunfalls im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG.
Schließlich wird das Gutachten nicht deshalb unverwertbar, weil der Sachverständige eine weitere Begutachtung für sinnvoll gehalten hat. Bei verständiger Betrachtung kann nicht angenommen werden, der Sachverständige habe mit diesen Bemerkungen die Aussagekraft seiner medizinischen Erkenntnisse und Bewertungen in Frage stellen wollen. Wie oben unter 1. dargelegt, steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts, ein weiteres Gutachten einzuholen, obwohl bereits ein methodisch fehlerfreies Gutachten eines Sachverständigen vorliegt, an dessen Sachkunde und Unparteilichkeit keine Zweifel bestehen.
3. Dagegen macht der Kläger mit der Aufklärungsrüge zu Recht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe seine Entscheidung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage nicht 40 v.H., sondern nur 30 v.H., nicht auf die schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen Dr. T. stützen können. Der Sachverständige hat seiner Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit die drei Stufen der medizinischen Regelwerke zugrunde gelegt und die untere Stufe (30 bis 40 v.H.) für zutreffend gehalten. Wie dargelegt, ist sein Gutachten insoweit nicht zu beanstanden. Da jedoch für die Höhe des Unfallausgleichs in § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtVG (in der hier maßgeblichen Fassung), § 31 Abs. 1 BVG acht „Zehnerstufen” von 30 bis 100 v.H. vorgesehen sind, ist es erforderlich, nach der Zuordnung zu einer Stufe der medizinischen Regelwerke innerhalb dieser Stufe mit medizinischem Sachverstand die gesetzliche „Zehnerstufe” zu bestimmen.
Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Der Sachverständige hat nicht nachvollziehbar begründet, aus welchen medizinischen Gründen innerhalb der – methodisch fehlerfrei bestimmten – unteren Stufe (30 bis 40 v.H.) dem unteren Vomhundertsatz von 30 v.H. der Vorrang zu geben ist. Insoweit ist das Gutachten aus folgenden Gründen lückenhaft:
In der schriftlichen Zusammenfassung hat sich der Sachverständige nur insoweit festgelegt, dass eine Einordnung der Schädigungsfolgen des Klägers „in den Korridor von 30 bis 40” gerechtfertigt sei. Auch aus dem Begründungsgang des Gutachtens geht nicht hervor, dass der Grad von 30 v.H. medizinisch indiziert ist. Vielmehr deuten die Ausführungen des Sachverständigen eher auf eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v.H. hin. Hierfür spricht vor allem, dass er einige Symptome festgestellt hat, die die medizinischen Regelwerke der mittleren Stufe zwischen 50 und 70 v.H. zuordnen.
Dementsprechend hat der Sachverständige in der mündlichen Berufungsverhandlung erklärt, die Schädigungsfolgen des Klägers bewegten sich „im unteren bis mittleren Bereich”. Zudem hat er es „angesichts des Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin” ausdrücklich für vertretbar gehalten, die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers auf 40 v.H. festzusetzen. Damit hat der Sachverständige dem Beschluss dieses Sachverständigengremiums vom 6./7. November 2008 Rechnung getragen, wonach eine Minderung von wenigstens 30 v.H. anzunehmen sei, wenn – wie im Fall des Klägers – alle Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt sind.
Nach alledem hat das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers betrage nicht 40 v.H., sondern nur 30 v.H., auf einer unzulänglichen Tatsachengrundlage getroffen. Es hätte – spätestens in der mündlichen Berufungsverhandlung – darauf hinwirken müssen, dass der Sachverständige sein Gutachten um die Bestimmung der „Zehnerstufe” ergänzt.
Aufgrund dieses Beschlusses ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch der geltend gemachte Anspruch auf Unfallausgleich für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v.H. anstelle der bestandskräftig anerkannten Minderung von 30 v.H. Dagegen ist das Berufungsurteil rechtskräftig, soweit das Oberverwaltungsgericht die Klage in Bezug auf die geltend gemachten Ansprüche auf Unfallausgleich für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mehr als 40 v.H. abgewiesen hat (§ 133 Abs. 5 Satz 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Domgörgen, Dr. Heitz, Dr. Hartung
Fundstellen