Entscheidungsstichwort (Thema)
Schule. Versetzung. Nichtversetzung. Interesse. Feststellungsinteresse. Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Fortsetzungsfeststellungsklage
Leitsatz (amtlich)
Ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Nichtversetzung in die nächsthöhere Klasse besteht dann, wenn sich die Entscheidung der Schule auf die weitere schulische oder berufliche Laufbahn des Schülers nachteilig auswirken kann. Ein solcher Nachteil muss weder unmittelbar bevorstehen noch sich konkret abzeichnen (im Anschluss an die Urteile vom 14. Juli 1978 – BVerwG 7 C 11.76 – und vom 6. Dezember 1983 – BVerwG 7 C 39.83 –).
Normenkette
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 29.03.2006; Aktenzeichen 19 A 3643/05) |
VG Aachen (Zwischenurteil vom 26.08.2005; Aktenzeichen 9 K 198/04) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. März 2006 wird aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Zwischenurteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 26. August 2005 wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 500 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (1.) und beruht auf ihm (2.). Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung der Berufung (3.).
1. Das Berufungsgericht hat das berechtigte Interesse des Klägers an der Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Nichtversetzung in die Jahrgangsstufe 11 zu Unrecht verneint. In der Entscheidung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil liegt ein Verfahrensmangel, wenn sie auf einer fehlerhaften Anwendung der prozessualen Vorschriften beruht (Beschlüsse vom 4. Juli 1968 – BVerwG 8 B 110.67 – BVerwGE 30, 111 ≪113≫ und vom 21. Oktober 2004 – BVerwG 3 B 76.04 – juris). Erklärt das Berufungsgericht eine Fortsetzungsfeststellungsklage wegen Fehlens eines berechtigten Interesses im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts für unzulässig, so liegt ein Verfahrensmangel vor, wenn in der Sache hätte entschieden werden müssen (Beschluss vom 17. Dezember 2001 – BVerwG 6 B 61.01 – NVwZ-RR 2002, 323). So liegt es hier. Das Berufungsurteil spricht dem Kläger das Feststellungsinteresse ab, weil noch ungewiss sei, welchen weiteren Bildungs- oder Ausbildungsweg er nach bestandener Reifeprüfung einschlagen werde und ob sich die umstrittene Nichtversetzung dabei für ihn nachteilig auswirken könne. Damit stellt es zu hohe Anforderungen an das berechtigte Interesse an der Feststellung, dass die Nichtversetzung des Klägers rechtswidrig war.
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass für die Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO jedes nach vernünftigen Erwägungen schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Art genügt (Urteil vom 21. November 1980 – BVerwG 7 C 18.79 – BVerwGE 61, 164 ≪165 f.≫ = Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 100 S. 32 und Beschluss vom 17. Dezember 2001 a.a.O.). Für den Fall der Nichtversetzung eines Schülers hat das Bundesverwaltungsgericht bereits ausgesprochen, dass eine solche Maßnahme nicht nur die Schulausbildung verzögert und regelmäßig verlängert, sondern unter Umständen darüber hinaus den Betroffenen in seiner Ausbildung und zukünftigen beruflichen Entwicklung benachteiligen kann. Es hat daraus im Hinblick auf einen effektiven Rechtsschutz hergeleitet, dass ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Nichtversetzung schon dann anzunehmen ist, wenn im Einzelfall nachteilige Auswirkungen auf die weitere schulische oder berufliche Laufbahn des Schülers nicht ausgeschlossen werden können; der das Feststellungsinteresse begründende Nachteil muss weder unmittelbar bevorstehen noch sich bereits konkret abzeichnen (Urteile vom 14. Juli 1978 – BVerwG 7 C 11.76 – BVerwGE 56, 155 ≪156 f.≫ = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 58 S. 46 f. und vom 6. Dezember 1983 – BVerwG 7 C 39.83 – Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 86).
An diesen Erwägungen hält der Senat nach erneuter Überprüfung fest. Gegen sie spricht nicht, dass eine Nichtversetzung keineswegs zwangsläufig die Lebens- und Berufschancen beeinträchtigen muss, vielmehr als eine pädagogische Maßnahme auch im wohlverstandenen Interesse des – aus welchen Gründen auch immer – überforderten Schülers liegen und seine weitere Entwicklung und Bildung positiv beeinflussen kann (so in anderem Zusammenhang zutreffend der vom Berufungsgericht zitierte Beschluss des BVerfG vom 20. Oktober 1981 – 1 BvR 640/80 – BVerfGE 58, 257 ≪273 ff.≫). Im Prozess um eine negative Versetzungsentscheidung besteht typischerweise – und auch im vorliegenden Fall – gerade Streit darüber, ob diese als eine rechtmäßige pädagogische Maßnahme vom Beurteilungsspielraum der Schule gedeckt ist oder nicht. Die Antwort auf diese Frage entscheidet über die Begründetheit, nicht bereits über die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage.
Das Interesse an der Feststellung, dass eine Nichtversetzung rechtswidrig war, kann auch dann gegeben sein, wenn der Schüler – wie hier der Kläger – nach erfolgreicher Wiederholung der Klassenstufe weiterversetzt wird. Denn selbst nach bestandener Reifeprüfung ist es nicht schlechthin ohne Aussagewert, ob der Betreffende sie nach “glatt” durchlaufener Schulzeit oder erst nach Wiederholung einer Klassenstufe abgelegt hat. Die Gefahr negativer Schlussfolgerungen mag im Falle des Klägers zu vernachlässigen sein, falls er nach dem Abitur das Ziel, Berufssportler zu werden, noch erreichen will und kann. Sie mag auch gering sein, wenn er sich stattdessen für ein Hochschulstudium entscheiden und dieses erfolgreich abschließen wird. Anders kann es aber sein, wenn er sich unmittelbar um einen Ausbildungsplatz bewerben sollte. Wie auch das Oberverwaltungsgericht einräumt, ist für diesen Fall angesichts der starken Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt nicht von vornherein auszuschließen, dass ein Arbeitgeber sich nach der gesamten Schullaufbahn erkundigen und dabei der Nichtversetzung in die Jahrgangsstufe 11 ein mehr oder weniger großes Gewicht beimessen könnte. Aber auch dann, wenn der Kläger künftig erforderlich werdende Prüfungen nicht bestehen sollte und sich deshalb gegebenenfalls beruflich neu orientieren müsste, wäre die Gefahr, dass in diesem Zusammenhang auch die umstrittene Nichtversetzung zu seinen Ungunsten Berücksichtigung finden könnte, nicht von der Hand zu weisen (siehe auch Urteil vom 12. April 1991 – BVerwG 7 C 36.90 – BVerwGE 88, 111 ≪114≫ = Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 286 S. 173). Gerade weil der Einfluss einer Nichtversetzung auf die Lebens- und Berufschancen von der künftigen Entwicklung abhängt, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Fortsetzungsfeststellungsklage typischerweise nicht abzusehen ist, muss es für das Feststellungsinteresse regelmäßig ausreichen, dass sich die angegriffene Entscheidung auf die weitere schulische oder berufliche Laufbahn des Schülers nachteilig auswirken kann, solche Nachteile also nach gegenwärtigem Kenntnisstand jedenfalls nicht auszuschließen sind.
Dem Feststellungsinteresse des Klägers lässt sich auch nicht mit dem Oberverwaltungsgericht entgegenhalten, dass er die für ihn potentiell nachteiligen Wirkungen einer – unterstellt – rechtswidrigen Nichtversetzung wirkungsvoll und zeitnah durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO mit dem Ziel seiner (vorläufigen) Versetzung hätte abwenden und dadurch effektiven Rechtsschutz hätte erlangen können. Es ist zwar anerkannt, dass das Verwaltungsgericht gegebenenfalls die Schule durch einstweilige Anordnung verpflichten kann, einen Schüler vorläufig in die nächsthöhere Klasse zu versetzen, um ihm die Teilnahme am dortigen Unterricht einstweilen bis zum Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache zu ermöglichen, da er andernfalls den Anschluss an den Lernstoff verlöre, was einer Rechtsschutzverweigerung gleichkäme (siehe dazu Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. 1 Schulrecht, 3. Aufl. 2000, Rn. 674 m.w.N.). Da eine einstweilige Anordnung dieses Inhalts aber die Hauptsache zumindest teilweise vorwegnimmt, ist ihr Erlass an enge Voraussetzungen gebunden: Sie wird grundsätzlich nur dann erlassen, wenn die angegriffene Nichtversetzung rechtswidrig erscheint und darüber hinaus – trotz des regelmäßig bestehenden Beurteilungsspielraums – entweder der Antragsteller ausnahmsweise einen Anspruch auf Versetzung glaubhaft machen kann oder wenigstens eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass allein die Versetzung rechtmäßig ist (Niehues, a.a.O.). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Regel keine Aussicht auf Erfolg haben. Dies gilt erst recht dann, wenn sich der Schüler – wie hier der Kläger – für einen Schulwechsel entscheidet. Deshalb steht auch die Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen, dem Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Nichtversetzung regelmäßig nicht entgegen.
2. Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem Verfahrensmangel. Denn es ist nur auf das fehlende Feststellungsinteresse des Klägers und nicht zusätzlich auf das Fehlen weiterer Sachentscheidungsvoraussetzungen gestützt. Zwar findet sich in ihm die – ausdrücklich als ergänzender Hinweis bezeichnete – Erwägung, ein Anspruch auf Versetzung, wie ihn der Kläger in der Klageschrift vom 30. Januar 2004 geltend gemacht habe, sei in Anbetracht des Beurteilungsspielraums der Lehrer grundsätzlich weder im Hauptsache- noch im Eilverfahren durchsetzbar. Doch trägt dieser ergänzende Hinweis, wie schon die Wortwahl deutlich macht, das ergangene Prozessurteil nicht selbstständig. Er könnte dies auch nicht, denn die Frage, ob der Beurteilungsspielraum im Einzelfall derart eingeschränkt ist, dass ein Anspruch auf Versetzung besteht, betrifft nicht die Zulässigkeit, sondern die Begründetheit der Klage. Nur zur Abrundung bemerkt der Senat, dass der Hinweis des Berufungsgerichts auch in der Sache nicht überzeugt: Der Kläger hatte zwar in der Klageschrift vom 30. Januar 2004 angegeben, dass er seine Versetzung in die 11. Klasse erstrebe; sein Klagebegehren war aber ausdrücklich auf die Aufhebung der Nichtversetzungsentscheidung des Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides gerichtet. Dies hätte es dem Verwaltungsgericht ermöglicht, in der mündlichen Verhandlung auf die Stellung des sachgerechten Bescheidungsantrages hinzuwirken (§ 86 Abs. 3 VwGO), wenn sich dieser nicht zuvor erledigt hätte.
3. Der Kläger hat zwar die nach alledem verfahrensfehlerhafte Verneinung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses nicht ausdrücklich im Wege einer Verfahrensrüge gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO angegriffen, sondern eine Abweichung von den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juli 1978 und vom 6. Dezember 1983 (jeweils a.a.O.) sowie von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Oktober 1981 (a.a.O.) gerügt. Da die Divergenzrüge aber ausschließlich auf einen Verfahrensmangel zielt, ist sie zugleich als Verfahrensrüge aufzufassen (vgl. Beschlüsse vom 10. April 1992 – BVerwG 9 B 142.91 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 5, vom 3. November 1992 – BVerwG 11 B 40.92 – Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 313 und vom 7. Dezember 1995 – BVerwG 6 B 32.95 – Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 7). Der Senat nimmt den Verfahrensmangel, auf dem das Urteil beruht, zum Anlass, dieses nach § 133 Abs. 6 VwGO aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Zwischenurteil zurückzuweisen. Allerdings ermächtigt diese Norm ihrem Wortlaut nach das Bundesverwaltungsgericht nur dazu, den Rechtsstreit nach Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Eine solche Zurückverweisung verliert aber ihren Sinn, wenn eine dem Prozessrecht entsprechende Anwendung der Verfahrensvorschrift, deren Nichtbeachtung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt, zwangsläufig die Zurückweisung der Berufung zur Folge haben muss. So liegt es hier. Denn Gegenstand des vorliegenden Zwischenstreits ist gemäß § 109 VwGO allein die Zulässigkeit der Klage, und gegen andere Sachentscheidungsvoraussetzungen als das umstrittene Feststellungsinteresse sind Bedenken weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Unter solchen Umständen widerspräche eine Zurückverweisung, die dem Oberverwaltungsgericht keinerlei eigenen Entscheidungsspielraum beließe, in hohem Maße dem Gedanken der Prozessökonomie, der dem § 133 Abs. 6 VwGO zugrunde liegt (zu einem ähnlich gelagerten Fall siehe auch Beschluss vom 2. April 1996 – BVerwG 7 B 48.96 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 22).
4. Die Entscheidung über die Kosten des Zwischenstreits über die Zulässigkeit der Klage ist der Schlussentscheidung vorzubehalten (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 280 Rn. 8). Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG. Dabei geht der Senat von dem Auffangwert von 5 000 € aus und bewertet den vorliegenden Zwischenstreit mit der Hälfte davon.
Unterschriften
Dr. Bardenhewer, Vormeier, Dr. Bier
Fundstellen
Haufe-Index 1641470 |
ZAP 2007, 328 |
DÖV 2007, 166 |
VR 2007, 143 |
SchuR 2007, 18 |
SchuR 2007, 56 |
SchuR 2007, 92 |
NWVBl. 2007, 221 |