Entscheidungsstichwort (Thema)
in-camera-Verfahren. Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. immissionsschutzrechtliche Aussagegenehmigung. Entscheidungserheblichkeit der Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen
Leitsatz (amtlich)
Für die Rechtserheblichkeit des Inhalts zurückgehaltener Akten kommt es auf die Rechtsauffassung des im Verfahren der Hauptsache entscheidenden Gerichts an.
Ergibt sich die Entscheidungserheblichkeit des Inhalts der Unterlagen nicht ohne weiteres aus dem materiellen Recht, muss das Gericht der Hauptsache darüber durch Beschluss entscheiden.
Normenkette
VwGO § 99 Abs. 1-2, § 86 Abs. 1 S. 1; ZPO § 358; BImSchG §§ 5-6, 10
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 22.01.2003; Aktenzeichen G 02.4) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Januar 2003 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Kläger begehrt in dem Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht München Az.: M 16 K 01.4619 die Aufhebung des Bescheids des Landratsamts R.… vom 23. August 2001. Darin wurde der Beigeladenen zu 1 die immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Änderung einer bestehenden Anlage zur Herstellung von Katalysatoren und zur Erweiterung der Infrastruktur erteilt. Nach der Entscheidung des Beigeladenen zu 2 vom 14. Mai 2002, dass dem Verwaltungsgericht das Gutachten des Bayerischen Landesamtes für Umweltschutz vom 20. August 2001 nur ohne eine dazugehörige Stoffliste und unter Auslassung eines Satzes auf Seite 8 sowie die Stellungnahme des Technischen Überwachungsvereins Süddeutschland vom 18. Juli 2001 mit geschwärzten Passagen vorgelegt werden dürfe, beantragte der Kläger eine Entscheidung des Fachsenats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nach § 99 Abs. 2 VwGO. Mit dem angefochtenen Beschluss hat dieser festgestellt, dass die Verweigerung der Vorlage der vollständigen und ungeschwärzten Unterlagen rechtmäßig sei. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist unbegründet. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat den Antrag des Klägers im Ergebnis zutreffend abgelehnt. Denn im derzeitigen Verfahrensstadium ist offen, ob die Vorlage der vollständigen und ungeschwärzten Unterlagen zur effektiven Verfolgung des Klageanspruchs erforderlich ist.
Die in § 99 Abs. 1 VwGO geregelte Verpflichtung der Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten und zu Auskünften soll sicherstellen, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt so umfassend wie möglich aufgeklärt wird und dass alle Verfahrensbeteiligten von entscheidungserheblichen Vorgängen Kenntnis erlangen, um diese zur Grundlage ihres Vorbringens in dem Rechtsstreit machen zu können (vgl. bereits Beschlüsse vom 23. Februar 1962 – BVerwG 7 B 21.61 – BVerwGE 14, 31 ≪32≫ und vom 9. November 1962 – BVerwG 7 B 91.62 – BVerwGE 15, 132; ebenso BVerfGE 101, 106 ≪124≫). Diese Zweckbestimmung beschränkt die Vorlagepflicht von vornherein auf solche Akten und Urkunden, deren Inhalt der umfassenden Sachaufklärung durch das Gericht der Hauptsache und der Gewinnung von Grundlagen für die Prozessführung der Beteiligten überhaupt dienlich sein kann (vgl. Beschluss vom 9. November 1962, a.a.O.). § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO gewährt keinen Anspruch auf Vorlage der den konkreten Streitgegenstand des anhängigen Rechtsstreits nicht betreffenden oder aus sonstigen Gründen nicht entscheidungserheblichen Akten oder Urkunden (vgl. Beschluss vom 9. November 1962, a.a.O. S. 133).
Ob bestimmte Urkunden oder Akten überhaupt der Vorlagepflicht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO unterliegen, weil sie deren dargelegte Voraussetzungen erfüllen, entscheidet das Gericht der Hauptsache. Daran hat sich durch die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragende Neufassung des § 99 Abs. 2 VwGO nichts geändert. Im Zwischenverfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO haben die Fachsenate nur über die Berechtigung einer aus den besonderen Gründen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO erklärten Verweigerung der Vorlage an sich vorlagepflichtiger Akten, nicht aber über die Vorlagepflicht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO selbst zu entscheiden. Über diese befindet nach wie vor das Gericht der Hauptsache. Dies geschieht in der gleichen Weise, in der es auch sonst seiner Pflicht zur Erforschung des entscheidungserheblichen Sachverhalts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 VwGO) nachkommt (vgl. Beschluss vom 9. November 1962, a.a.O. S. 133). Beruft sich die Behörde auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit von Urkunden oder Akten, muss das Gericht der Hauptsache zunächst darüber entscheiden, ob es die zurückgehaltenen Unterlagen benötigt, um den entscheidungserheblichen Sachverhalt umfassend aufzuklären. Der Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung des Fachsenats im selbständigen Zwischenverfahren, ob die Verweigerung der Vorlage der Urkunden oder Akten rechtmäßig ist, setzt voraus, dass zuvor das Gericht der Hauptsache deren Entscheidungserheblichkeit bejaht hat. Für den Zwischenstreit über die Rechtmäßigkeit der behördlichen Vorlage- oder Auskunftsverweigerung muss klargestellt sein, was er zum Gegenstand haben soll. Dazu bedarf es gemäß § 98 VwGO in Verbindung mit § 358 ZPO grundsätzlich eines Beweisbeschlusses des Gerichts der Hauptsache, weil die Beweisaufnahme ein besonderes Verfahren erfordert (vgl. Beschluss vom 9. November 1962, a.a.O. S. 133). Die in einem selbständigen Zwischenverfahren getroffene abschließende Entscheidung, ob die verweigerten Unterlagen als Beweismittel zur Verfügung stehen, ist im weiteren Verfahren zur Hauptsache wie ein rechtskräftiges Zwischenurteil zugrunde zu legen (vgl. Beschluss vom 26. Januar 1968 – BVerwG 7 B 75.67 – BVerwGE 29, 72 ≪73≫; ebenso BVerfGE 101, 106 ≪120≫).
Einen Beweisbeschluss hat das Gericht der Hauptsache im vorliegenden Fall bisher nicht erlassen. Ein solcher Beschluss ist hier auch nicht ausnahmsweise deshalb entbehrlich, weil die zurückgehaltenen Unterlagen zweifelsfrei entscheidungserheblich sind. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kenntnis der geschwärzten Teile der Gutachten nötig ist, um über das Klagebegehren zu entscheiden. Die Entscheidungserheblichkeit der zurückgehaltenen Unterlagen drängt sich auch nicht ohne weiteres aus den maßgeblichen Bestimmungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes auf. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 BImSchG sind dem schriftlichen Genehmigungsantrag die zur Prüfung nach § 6 BImSchG erforderlichen Zeichnungen, Erläuterungen und sonstigen Unterlagen beizufügen. Unterlagen, die Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse enthalten, sind zu kennzeichnen und getrennt vorzulegen (§ 10 Abs. 2 Satz 1 BImSchG). Ihr Inhalt muss, soweit es ohne Preisgabe des Geheimnisses geschehen kann, so ausführlich dargestellt sein, dass es Dritten möglich ist, zu beurteilen, ob und in welchem Umfang sie von den Auswirkungen der Anlage betroffen werden können (§ 10 Abs. 2 Satz 2 BImSchG). Daraus folgt, dass im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nur unter bestimmten Voraussetzungen offenbart werden müssen. Entscheidend ist, dass Unterlagen in dem Umfang vorgelegt werden, die es Dritten ermöglicht, die von der Anlage ausgehenden Belastungen einschätzen zu können. Im gerichtlichen Verfahren gilt Entsprechendes: Das Gericht muss in der Lage sein, die Auswirkungen der Anlage hinreichend zuverlässig zu beurteilen und die dazu erforderlichen Sachverhaltsermittlungen anzustellen.
Der Kläger behaupt, die zurückgehaltene Stoffliste enthalte wesentliche Informationen über die Einstufung der von der Anlage ausgehenden Umwelteinwirkungen im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG. Für deren Bewertung sei es erforderlich, die Substanzen zu kennen, die beim Betrieb der Anlage verwertet werden. Nur so könne der Schluss auf mögliche Umwelteinwirkungen gezogen werden. Der Beigeladene zu 1 meint, der vollständige Inhalt der Gutachten ginge weit über das hinaus, was für die Beurteilung der Betroffenheit Dritter erforderlich sei. Diese lasse sich bereits aus den vorgelegten Auszügen unschwer und vollständig entnehmen. Der Beigeladene zu 2 hat im bisherigen Verfahren lediglich festgestellt, die zurückgehaltenen sowie die geschwärzten Passagen der vorgelegten Unterlagen enthielten Betriebsgeheimnisse, deren genaue Kenntnis Rückschlüsse auf den Herstellungsprozess bei der Beigeladenen zu 1 ermöglichten und somit für diese Wettbewerbsnachteile mit sich brächten. Bei dieser Sachlage bedarf es eines von dem Gericht der Hauptsache erlassenen Beweisbeschlusses (§ 98 VwGO i.V.m. § 358 ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstands beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Unterschriften
Dr. Silberkuhl, Prof. Dawin, Dr. Kugele
Fundstellen
BVerwGE 2004, 229 |
DÖV 2004, 438 |
DVBl. 2004, 254 |
UPR 2004, 146 |