Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 09.04.2008; Aktenzeichen 3 LD 2/06) |
Tenor
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. April 2008 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist. Das angegriffene Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 58 Abs. 1 BDG).
Zu Recht rügt die Beschwerde, das Berufungsgericht habe die tatsächlichen Feststellungen im Strafbefehl des Amtsgerichts zugrunde gelegt. Dem angegriffenen Urteil ist zu entnehmen, dass das Berufungsgericht die dort getroffenen Feststellungen ohne erneute Prüfung als zu seiner eigenen Überzeugung feststehend bezeichnet hat. Dieses Verfahren ist von § 57 Abs. 2 BDG nicht gedeckt. Es hat zur Folge, dass das Berufungsgericht den in § 58 BDG verankerten Grundsatz der unmittelbaren Beweiserhebung verletzt hat.
Nach § 65 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 BDG hat das Berufungsgericht selbst als Tatsachengericht die entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen. Ein Verzicht auf eine eigene Beweisaufnahme gemäß § 65 Abs. 4 BDG ist nur zulässig, wenn die vom Verwaltungsgericht erhobenen Beweise nicht mehr angegriffen werden und sich das Berufungsgericht auch in ihrer Würdigung in vollem Umfang der Würdigung des Verwaltungsgerichts anschließt. Erst recht gilt dies für die in einem anderen Verfahren getroffenen Feststellungen (vgl. Beschluss vom 4. September 2008 – BVerwG 2 B 61.07 – zur Veröffentlichung bestimmt). Sie können gemäß § 57 Abs. 2 BDG nur zugrunde gelegt werden, wenn sie inhaltlich nicht bestritten und in ihrer Würdigung nicht substanziiert angegriffen werden. Dieser eingeschränkte Bedeutungsgehalt des § 57 Abs. 2 BDG ergibt sich aus dem im Wortlaut angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnis und dem systematischen Zusammenhang mit dem nachfolgenden § 58 BDG.
Die Voraussetzungen einer Anwendung des § 57 Abs. 2 BDG waren hier nicht gegeben. Das Berufungsvorbringen des Beklagten stellt im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit den Zeugenaussagen und mit der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts dar. Es enthält Einwendungen, die das Berufungsgericht nicht ohne einen eigenen Eindruck von den Zeugen zurückweisen konnte. Die Ausführungen des Berufungsgerichts, mit denen es die Notwendigkeit einer erneuten Beweiserhebung verneint hat, stellen eine unzulässige Vorwegnahme der Beweisaufnahme dar. Darlegungen wie die, Zeugen hätten bestimmte Tatsachen glaubhaft bekundet, bedürfen in der Regel einer eigenen Beweiserhebung durch das erkennende Gericht.
In materieller Hinsicht rügt die Beschwerde ebenfalls zu Recht, das Berufungsgericht habe dem im Urteil des beschließenden Senats vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 30.05 – (Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50) aufgestellten Erfordernis nicht Rechnung getragen, die Persönlichkeit des Beamten sowie seine familiäre und soziale Situation in einer Gesamtschau zu würdigen. Zwar ist die Rüge unzutreffend, das Berufungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass es während des 22-jährigen Beamtenverhältnisses des Beklagten nicht zu vorwerfbaren Vorfällen gekommen sei. Das Berufungsgericht ist hierauf eingegangen (UA S. 24). Ebenso wenig war es fehlerhaft, den besonderen Milderungsgrund der Geringwertigkeit nicht anzunehmen, nachdem das Berufungsgericht von einem mehrfachen Zugriff und einem erheblich höheren Schaden ausgegangen ist. Dem Gebot, die Persönlichkeit des Beamten in einer Gesamtschau zu würdigen, ist das Berufungsgericht aber gleichwohl nicht gerecht geworden.
Zugunsten des Beklagten hat es angenommen, dessen Schuldfähigkeit sei im Tatzeitpunkt erheblich vermindert gewesen. Mit der Begründung, eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit könne bei einem aktiven Beamten ein Absehen von einer erheblichen Disziplinarmaßnahme dann nicht rechtfertigen, wenn es sich um die eigennützige Verletzung leicht einsehbarer Kernpflichten handele, hat das Berufungsgericht jedoch die Bemessungsregeln des § 13 BDG verletzt. Es hat wiederum an die vom erkennenden Senat seit dem Urteil vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – (BVerwGE 124, 252 ≪259≫) aufgegebene Rechtsprechung angeknüpft, die der erheblich verminderten Schuldfähigkeit bei sog. Zugriffsdelikten letztlich jegliche praktische Relevanz absprach (vgl. auch Urteile vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 und vom 29. Mai 2008 – BVerwG 2 C 59.07 – juris).
Erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setzt voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungsfähigkeit kommt es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte (vgl. BGH, Urteile vom 27. November 1959 – 4 StR 394/59 – BGHSt 14, 30 ≪32≫ und vom 21. November 1969 – 3 StR 249/68 – BGHSt 23, 176 ≪190≫; stRspr). Die Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung “erheblich” war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte ohne Bindung an die Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten haben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise. Für die Annahme einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit sind schwerwiegende Gesichtspunkte heranzuziehen wie etwa Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen, leichtere Formen des Schwachsinns, altersbedingte Persönlichkeitsveränderungen, Affektzustände sowie Folgeerscheinungen einer Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten (vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 21 Rn. 2 m.w.N.). Die Erheblichkeitsschwelle liegt umso höher, je schwerer das in Rede stehende Delikt wiegt (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 – NStZ 2004, 437 und vom 22. Oktober 2004 – 1 StR 248/04 – NStZ 2005, 329 ≪330≫). Dementsprechend hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB von der Bedeutung und Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab. Aufgrund dessen wird sie bei sog. Zugriffsdelikten nur in Ausnahmefällen erreicht werden (vgl. Urteile vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06. – a.a.O. Rn. 34 und vom 29. Mai 2008 – BVerwG 2 C 59.07 – a.a.O. Rn. 29 f.).
Liegt allerdings eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten im Sinne des § 21 StGB tatsächlich vor, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Er kann eine Disziplinarmaßnahme zwar nicht ausschließen, muss dem Gericht aber Anlass zu Überlegungen geben, ob dann noch die schärfste Disziplinarmaßnahme geboten ist.
Da demnach ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem das Urteil des Berufungsgerichts beruht, und die Entscheidung des Berufungsgerichts sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist mit der Folge, dass die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO zurückzuweisen wäre, macht der Senat im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG Gebrauch. Nach diesen Vorschriften kann unter den genannten Voraussetzungen in dem auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ergehenden Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts die Berufungsentscheidung aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Da Gerichtskosten gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 BDG nicht erhoben werden, bedarf es einer Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes nicht.
Unterschriften
Herbert, Groepper, Dr. Burmeister
Fundstellen