Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 17.08.2006; Aktenzeichen 7 KS 81/03) |
Tenor
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. August 2006 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Gegenstand des Verfahrens ist ein Vorbescheid und eine Teilgenehmigung (Baufeldfreimachung) für die Errichtung und den Betrieb der thermischen Restabfallbehandlungsanlage der Beigeladenen an der Zentraldeponie Hannover-Lahe.
An das dort vorgesehene Baufeld schließt sich nach Süden die Bundesautobahn A 2 und nach Westen die Bundesautobahn A 37 an (Autobahnkreuz Hannover-Buchholz). Nordwestlich der A 37 verläuft die Grenzlinie zwischen dem Gebiet der Landeshauptstadt Hannover und dem Gemeindegebiet der Klägerin, wobei diese den Altwarmbüchener See durchschneidet; an dessen Nordwestufer – ca. 1,5 km vom vorgesehenen Standort der Abfallverbrennungsanlage entfernt – hat die Klägerin Einrichtungen der Daseinsvorsorge geschaffen (Freizeit und Erholung/Naherholungsgebiet). Die Erschließung der geplanten Anlage (wie auch die der Deponie) erfolgt über das Gemeindegebiet der Klägerin unter Anbindung der Zufahrt (Moorwaldweg) an die Ortsdurchfahrt der früheren Bundesstraße B 3 (Hannoversche Straße).
Die Klägerin hat gegen die ausgelegten Pläne Einwendungen erhoben. Sie beruft sich auf eine Beeinträchtigung sowohl ihrer Planungshoheit wie auch ihrer Grundstücke im Naherholungsgebiet. Der Ziel- und Quellverkehr der neuen Anlage führe zu einer weiteren Überlastung der Ortsdurchfahrt.
Die nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren (die Bezirksregierung wies den Widerspruch als unzulässig zurück) erhobene Klage hat das Oberverwaltungsgericht als unzulässig abgewiesen. Die Klägerin werde in ihrem Eigentum an den Einrichtungen am Altwarmbüchener See nicht verletzt. Angesichts der äußerst negativen Vorprägung der Eigentumssituation könne von keiner signifikanten Verschlechterung oder gar von einem Verlust der Funktion der Freizeiteinrichtungen ausgegangen werden. Derartiges sei auch weder ausreichend dargelegt noch erkennbar. Eine Verletzung der Planungshoheit sei nicht ersichtlich. Zum Teil könne sich die Klägerin auf keine hinreichend konkretisierte Planung berufen, zum Teil seien konkretisierte Planungen bereits umgesetzt, so dass sich die Frage nach einer Verletzung der Planungshoheit nicht mehr stelle. Eine wegen des sehr hohen Verkehrsaufkommens auf der Hannoverschen Straße notwendige neue Straßenplanung werde durch die streitgegenständliche Planung nicht nachhaltig gestört. Auch könne sich die Klägerin nicht auf die bauplanungsrechtlichen Abstimmungs- und Abwägungsgebote berufen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist mit dem Ergebnis der Zurückverweisung an die Vorinstanz begründet, § 133 Abs. 6 VwGO.
1. Die Beschwerde macht zu Recht einen Verfahrensfehler im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend, weil das Oberverwaltungsgericht über die Klage durch Prozessurteil entschieden hat.
Zwar ist die Frage, ob das vorinstanzielle Verfahren an einem Mangel leidet vom materiellrechtlichen Standpunkt des Vorgerichts aus zu beurteilen, auch wenn dieser Standpunkt fehlerhaft sein sollte (stRspr, Beschluss vom 23. Januar 1996 – BVerwG 11 B 150.95 – Buchholz 424.5 GrdstVG Nr. 1 m.w.N.). Dies gilt grundsätzlich auch für den Fall der Verneinung der Klagebefugnis, wenn auf der Grundlage des tatsächlichen Prozessstoffes das Gericht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung prüft, diesen dann aber unzutreffend zum Nachteil der Klagepartei würdigt (Beschluss vom 21. Januar 1993 – BVerwG 4 B 206.92 – Buchholz 310 § 42 VwGO Nr. 188). Anders stellt sich die Rechtslage aber dar, wenn die Vorinstanz die Voraussetzungen gerade der Prozessrechtsnorm unzutreffend beurteilt, etwa bei einer Verkennung der prozessualen Bedeutung des § 42 Abs. 2 VwGO, weil ein zu strenger Maßstab an die notwendige Geltendmachung einer Rechtsverletzung angelegt wird. In diesem Falle missachtet das Gericht eine den äußeren Verfahrensgang regelnde Vorschrift. Insbesondere wenn das Vorgericht die prozessualen Anforderungen des § 42 Abs. 2 VwGO überspannt und infolgedessen vom Fehlen einer Sachentscheidungsvoraussetzung ausgeht, kann nicht lediglich mehr von einer fehlerhaften Subsumtion des Sachverhalts ausgegangen werden (stRspr, Beschlüsse vom 28. Juli 2006 – BVerwG 7 B 56.06 – ZOV 2006, 373 und vom 23. Januar 1996 a.a.O.).
2. Das Oberverwaltungsgericht hat deutlich überzogene Anforderungen an das Geltendmachen einer möglichen Rechtsverletzung im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO gestellt, wenn es auf das Fehlen signifikanter Verschlechterungen oder gar auf einen Verlust der Funktionsfähigkeit der von der Klägerin am Altwarmbüchener See geschaffenen Freizeiteinrichtungen infolge der Errichtung und des Betriebs der streitgegenständlichen Abfallverbrennungsanlage abhebt. Diese Ausführungen stehen zwar auch im Zusammenhang mit der materiellen Wertung der Betroffenheit der klägerischen Grundstücke. Gleichzeitig verbindet sich hiermit aber, worauf die Beschwerde zu Recht hinweist, eine fehlerhafte Prägung des Verständnisses von § 42 Abs. 2 VwGO unter Anlegung eines weit überhöhten Anforderungsprofils.
Die Klagebefugnis kann sich – allein schon abstellend auf das Vorbringen im Klage- und Beschwerdeverfahren – aus einer möglichen Nichtbeachtung oder einem möglichen Hintanstellen abwägungserheblicher Belange der Klägerin ergeben, die der Beklagte in seinem Genehmigungsbescheid zu würdigen gehabt hätte (Urteil vom 14. April 1989 – BVerwG 4 C 31.88 – BVerwGE 82, 17 ≪18≫). Zwar erfolgt die Zulassung ortsfester Abfallbeseitigungsanlagen, wie die einer Abfallverbrennungsanlage, – anders als noch unter Geltung des alten Abfallgesetzes durch Planfeststellung (§ 7 AbfG) – gemäß § 31 Abs. 1 KrW-/AbfG auf der Grundlage eines Genehmigungsverfahrens nach §§ 4, 6 BImSchG, wobei es sich hier grundsätzlich um eine gebundene Entscheidung handelt, die trotz ihrer Ähnlichkeit mit einer Planfeststellung (§§ 10, 13 BImSchG) einer fachplanerischen Abwägung nicht zugänglich ist. Doch wird infolge der Ausdehnung des Fachplanungsprivilegs auf das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren zur Errichtung und zum Betrieb öffentlich zugänglicher Abfallbeseitigungsanlagen (§ 38 Satz 1 Halbs. 2 BauGB) dieses um ein planerisches Element, nämlich einer sog. “Insel-Abwägung” städtebaulicher Belange angereichert. Dabei werden ähnlich wie bei überörtlich bedeutsamen Vorhaben der Fachplanung (vgl. Beschluss vom 30. Juni 2004 – BVerwG 7 B 92.03 – Buchholz 406.11 § 38 BauGB Nr. 14; Beschluss vom 31. Oktober 2000 – BVerwG 11 VR 12.00 – Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 51) nicht nur städtebauliche Belange der Standortgemeinde, sondern auch die benachbarten Gemeinden in Betracht zu nehmen sein (Urteil vom 15. Dezember 1989 – BVerwG 4 C 36.86 – BVerwGE 84, 209 ≪215≫).
Die Klägerin liegt sowohl mit ihren Grundstücken am Altwarmbüchener See wie auch mit Flächen des Gemeindegebiets, mit denen sie sich in ihrer Planungshoheit betroffen sieht, innerhalb des Beurteilungsgebiets nach Nr. 4.6.2.5 TA Luft 2002. Gemäß Nr. 5.5.2 bis 5.5.4 TA Luft 2002 wird dieser Rahmen durch das 50-fache der Schornsteinhöhe H… (hier: 70 m, ggf. zu bestimmen an Hand des Nomogramms) beschrieben. Die gebotene räumliche Beziehung der Klägerin zur Anlage kann damit nicht in Abrede gestellt werden. Darüber hinaus erschließt sich die Klagebefugnis in enger Anlehnung an die Abwägungserheblichkeit eines Belangs. Eine derartige ist nicht erst bei drohender Unzumutbarkeit der mit der Errichtung und dem Betrieb einer Abfallverbrennungsanlage einhergehenden Umwelteinwirkungen geboten, sondern bereits dann, wenn “mehr als nur geringfügig schutzwürdige Interessen der Betroffenen” berührt sind (Beschluss vom 14. September 1987 – BVerwG 4 B 179, 180.87 – Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 68; Urteil vom 27. März 1992 – BVerwG 7 C 18.91 – BVerwGE 90, 96 ≪101≫). Mit diesen beiden Ansätzen beschreibt sich die Möglichkeit einer Rechtsverletzung im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO.
3. Der somit vorliegende Verfahrensfehler kann sich auf die angefochtene Entscheidung ausgewirkt haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberverwaltungsgericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es die in Rede stehenden Umstände in der erforderlichen Weise bedacht hätte.
Im Rahmen der somit angezeigten materiellrechtlichen Prüfung muss das Oberverwaltungsgericht der Frage nachgehen, ob der Beklagte die von der Klägerin durch Einwendungen ins Verwaltungsverfahren eingebrachten Belange in ausreichendem Maße abgewogen hat oder ob Abwägungsmängel festzustellen sind, weil der Beklagte Fragen nach der Beeinträchtigung der Planungshoheit der Klägerin, nach der Beeinträchtigung deren Einrichtung am Altwarmbüchener See sowie Fragen nach einer Überforderung der gemeindlichen Verkehrsinfrastruktur (Erschließung des Vorhabens über die überlastete Hannoversche Straße und den Moorwaldweg als nicht zusätzlich ausgebaute Erschließungsanlage) nicht im erforderlichen Umfang oder gar nicht nachgegangen ist. Wegen der mit dem Erlass eines immissionsschutzrechtlichen Vorbescheides oder eines ersten Teilgenehmigungsbescheides einhergehenden Bindungswirkungen (vgl. Jarass, BImSchG, 6. Aufl., § 9 Rn. 16 einerseits und § 8 Rn. 26 f. andererseits) kann die diesbezügliche Problembewältigung auch nicht nachfolgenden Zulassungsentscheidungen vorbehalten bleiben.
4. Der Senat macht von der in § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Befugnis Gebrauch, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. An diese Verfahrensweise ist der Senat nicht deswegen gehindert, weil die Beschwerde neben der begründeten Verfahrensrüge, aber im Zusammenhang mit ihr, auch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend macht. Da der Verfahrensfehler aller Voraussicht nach auch im Falle der Revisionszulassung insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht zwingen würde, bleibt der Zweck der Grundsatzrevision davon unberührt, dass der beschließende Senat im Interesse der Prozessökonomie von der Ermächtigung des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch macht (Beschluss vom 26. Juni 2000 – BVerwG 7 B 26.00 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 15 m.w.N.).
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG (Nr. 19.3 i.V.m. Nr. 2.3 Streitwertkatalog 2004).
Unterschriften
Sailer, Herbert, Guttenberger
Fundstellen