Leitsatz (amtlich)
Flughafennutzer besitzen die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) zur Anfechtung der Genehmigung einer Entgeltordnung für Flughafenentgelte (§ 19b LuftVG).
Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 22.06.2016; Aktenzeichen OVG 6 A 3.15) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Juni 2016 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin, ein Luftfahrtunternehmen, wendet sich als Flughafennutzerin gegen die Genehmigung einer neuen Entgeltordnung für den von der Beigeladenen betriebenen Flughafen Berlin-Tegel.
Rz. 2
Die Beigeladene beantragte am 25. Juni 2014 beim Beklagten, mit Wirkung ab dem 1. Januar 2015 die von ihr beschlossene Neuregelung der Flughafenentgelte für den Flughafen Berlin-Tegel zu genehmigen. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2014 erteilte der Beklagte diese Genehmigung; die Entgeltordnung entspreche formell und materiell den Anforderungen von § 19b des Luftverkehrsgesetzes (LuftVG).
Rz. 3
Die Klägerin hat gegen die Genehmigung am 17. November 2014 Anfechtungsklage erhoben. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat die Klage mit Urteil vom 22. Juni 2016 - OVG 6 A 3.15 [ECLI:DE:OVGBEBB:2016:OVG6A3.15.0A] - juris als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Der Klägerin fehle die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO). Sie könne nicht geltend machen, durch die Erteilung der Genehmigung in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die Genehmigung der Entgeltordnung habe weder privatrechtsgestaltende Wirkung für das zwischen der Klägerin als Flughafennutzerin und der Beigeladenen als der Betreiberin des Flughafens bestehende Zivilrechtsverhältnis noch sei § 19b LuftVG sonst drittschützend zugunsten der Klägerin. Etwas Anderes ergebe sich weder aus nationalem Verfassungsrecht noch aus der Richtlinie 2009/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 über Flughafenentgelte (ABl. L 70 S. 11 - im Folgenden: Richtlinie 2009/12/EG).
Rz. 4
Auf die Revision der Klägerin hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 12. April 2018 - 3 C 20.16 [ECLI:DE:BVerwG:2018:120418B3C20.16.0] - (Buchholz 442.40 § 19b LuftVG Nr. 1) das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung der Richtlinie 2009/12/EG, insbesondere von deren Art. 3, Art. 6 Abs. 3 bis 5 und Art. 11 Abs. 1 und 7, eingeholt. Von der Auslegung der Richtlinie hänge es ab, ob die Klägerin als Flughafennutzerin die behördliche Genehmigung der von der Beigeladenen erlassenen Entgeltordnung im Verwaltungsrechtsweg anfechten könne.
Rz. 5
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 21. November 2019 - C-379/18 [ECLI:EU:C:2019:1000] - (N&R 2020, 41) entschieden, dass (1.) die Richtlinie 2009/12/EG und insbesondere ihr Art. 3, ihr Art. 6 Abs. 5 Buchst. a sowie ihr Art. 11 Abs. 1 und 7 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegenstehen, nach der ein Flughafenleitungsorgan mit einem Flughafennutzer andere als die nach dieser Richtlinie von diesem Organ festgelegten und von der unabhängigen Aufsichtsbehörde gebilligten Flughafenentgelte festsetzen darf, und dass (2.) die Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einer Auslegung des nationalen Rechts entgegensteht, wonach es einem Flughafennutzer verwehrt ist, die Genehmigung der Flughafenentgeltordnung durch die unabhängige Aufsichtsbehörde unmittelbar anzufechten, er aber gegen das Flughafenleitungsorgan Klage vor einem Zivilgericht erheben und dort allein geltend machen kann, dass das in der Flughafenentgeltordnung festgesetzte Entgelt, das er zu zahlen habe, nicht der Billigkeit entspreche.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Revision der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit das Oberverwaltungsgericht annimmt, der Klägerin fehle die Klagebefugnis zur Anfechtung der Genehmigung der Entgeltordnung durch den Beklagten. Auf der Grundlage der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. November 2019 ergibt sich ihre Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) sowohl daraus, dass der Genehmigung der Entgeltordnung privatrechtsgestaltende Wirkung zukommt (1.) als auch aus § 19b LuftVG (2.). Der Senat kann jedoch nicht über die Begründetheit ihrer Anfechtungsklage entscheiden. Das Oberverwaltungsgericht hat keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entgeltordnung ermöglichen. Das führt gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (3.).
Rz. 7
1. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass die Vertragspartner geltend machen können, in ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt zu sein, wenn die behördliche Genehmigung einer Entgeltordnung für ein zivilrechtlich ausgestaltetes Vertragsverhältnis privatrechtsgestaltende Wirkung hat. Das begründet ihre Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO). Die allgemeine Handlungsfreiheit umfasst die Vertragsfreiheit und damit das Recht, den Inhalt vertraglicher Vereinbarungen mit der Gegenseite frei von staatlicher Bindung auszuhandeln. Auf dieses Grundrecht können sich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch juristische Personen des Privatrechts berufen (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 5. August 2015 - 6 C 8.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:050815U6C8.14.0] - BVerwGE 152, 355 Rn. 12 ff. m.w.N.).
Rz. 8
Eine Genehmigung hat privatrechtsgestaltende Wirkung, wenn das in der Entgeltordnung durch eine der Vertragsparteien bestimmte und durch die Aufsichtsbehörde genehmigte Entgelt für die Vertragsparteien verbindlich vorgegeben und ihnen beim Abschluss von Nutzungsverträgen ein Abweichen hiervon verwehrt ist. Das kann sich etwa daraus ergeben, dass an die Stelle eines von den Vertragsparteien vereinbarten Entgelts das genehmigte Entgelt tritt; entsprechende Bestimmungen gibt es im Bereich der Regulierung von Post- und Telekommunikationsentgelten (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 5. August 2015 - 6 C 8.14 - BVerwGE 152, 355 Rn. 12 ff. m.w.N.).
Rz. 9
Nach der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. November 2019 kommt gemäß der Richtlinie 2009/12/EG auch der behördlichen Genehmigung einer Entgeltordnung für Flughafennutzungsentgelte eine privatrechtsgestaltende Wirkung zu. Die Richtlinie 2009/12/EG und insbesondere ihr Art. 3, ihr Art. 6 Abs. 5 Buchst. a sowie ihr Art. 11 Abs. 1 und 7 sind so auszulegen, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegenstehen, nach der ein Flughafenleitungsorgan - hier also die Beigeladene - mit einem Flughafennutzer andere als die nach dieser Richtlinie von diesem Organ festgelegten und von der unabhängigen Aufsichtsbehörde - hier dem Beklagten - gebilligten Flughafenentgelte festsetzen darf (Rn. 34 bis 53 und Rn. 72).
Rz. 10
2. Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. November 2019 hindert die Richtlinie 2009/12/EG außerdem an einer Auslegung des nationalen Rechts, die es einem Flughafennutzer verwehrt, die Genehmigung der Flughafenentgeltordnung durch die unabhängige Aufsichtsbehörde unmittelbar anzufechten, er aber gegen das Flughafenleitungsorgan Klage vor dem Zivilgericht erheben und dort allein geltend machen kann, dass das in der Entgeltordnung festgelegte Entgelt, das er zu zahlen hat, nicht der Billigkeit entspreche (Rn. 54 bis 71 und Rn. 72).
Rz. 11
a) Es verstoße - so der Gerichtshof - gegen den unionsrechtlichen Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes (Rn. 56), würde der Flughafennutzer darauf verwiesen, gegen das Flughafenleitungsorgan vor einem Zivilgericht zu klagen, das über das in der Entgeltordnung festgelegte Entgelt gemäß § 315 Abs. 3 BGB nach Billigkeit entscheide und ausschließlich darauf abstelle, dass der individuelle Vertrag wirtschaftlich vernünftig sei (EuGH, Urteil vom 21. November 2019 Rn. 66 ff.). Es könne nur dann gewährleistet werden, dass die Entgeltpolitik auf alle betroffenen Unternehmen gleich angewandt werde, wenn die Entgelte anhand einheitlicher Kriterien festgelegt würden; die ausschließliche Prüfung nach § 315 Abs. 3 BGB, ob der individuelle Vertrag wirtschaftlich vernünftig sei, genüge hierfür nicht (EuGH, Urteile vom 21. November 2019 Rn. 67 und vom 9. November 2017 - C-489/15, CTL Logistics [ECLI:EU:C:2017:834] - Rn. 74). Darüber hinaus fänden andere "wesentliche" Gesichtspunkte des Verfahrens, das mit der Billigung der Flughafenentgelte abgeschlossen worden sei, wie die Fragen der Willensbildung der unabhängigen Aufsichtsbehörde oder möglicher formaler Mängel, die bei der Formulierung des Inhalts der Billigung möglicherweise relevant gewesen seien, keinen Eingang in das zivilgerichtliche Verfahren (EuGH, Urteil vom 21. November 2019 Rn. 68). Schließlich seien eine Billigkeitskontrolle der Entgelte sowie gegebenenfalls eine Entscheidung nach billigem Ermessen gemäß § 315 Abs. 3 BGB nicht mit dem in Art. 3 der Richtlinie 2009/12/EG niedergelegten Verbot der Diskriminierung von Flughafennutzern vereinbar, zumal die Urteile der deutschen Zivilgerichte nur eine auf die Parteien des jeweiligen Rechtsstreits begrenzte Wirkung hätten (EuGH, Urteile vom 21. November 2019 Rn. 69 und vom 9. November 2017 Rn. 83 und 94). Daraus ergebe sich, dass § 315 Abs. 3 BGB es den deutschen Zivilgerichten nicht ermögliche, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für die Flughafennutzer sicherzustellen (EuGH, Urteil vom 21. November 2019 Rn. 70).
Rz. 12
b) Genügt danach die Billigkeitskontrolle der Flughafenentgelte durch die Zivilgerichte nicht den unionsrechtlichen Anforderungen, muss der Klägerin - auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 GG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. April 2018 - 3 C 20.16 - Buchholz 442.40 § 19b LuftVG Nr. 1 Rn. 34 f.) - ermöglicht werden, die behördliche Genehmigung der Entgeltordnung vor den Verwaltungsgerichten anzufechten. Die erforderliche Klagebefugnis ergibt sich nicht nur aus Art. 2 Abs. 1 GG, sondern auch aus § 19b LuftVG. Die Grundsätze, auf denen die Richtlinie 2009/12/EG beruht, nämlich das Diskriminierungsverbot, die Transparenz und die Konsultation der Betroffenen, sind sowohl als Verpflichtungen des Flughafenleitungsorgans als auch als Rechte zu betrachten, die die Flughafennutzer gerichtlich geltend machen können (EuGH, Urteil vom 21. November 2019 Rn. 58). Für § 19b LuftVG, der diese Grundsätze in das nationale Recht umsetzt, kann nichts Anderes gelten; § 19b LuftVG ist jedenfalls insoweit zugunsten der Flughafennutzer drittschützend.
Rz. 13
3. Dem Senat ist eine Entscheidung über die Begründetheit der danach gegen die Genehmigung der Entgeltordnung zulässigen Anfechtungsklage der Klägerin indes verwehrt. Es fehlt hierfür an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen, die das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen hat. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
Dokument-Index HI13927450 |