Entscheidungsstichwort (Thema)
Abschaffung des erlaubnisfreien Aufenthalts für türkische Kinder gerechtfertigt
Leitsatz (amtlich)
1. Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 (juris: EWGAssRBes 1/80) ist auch auf Regelungen des nationalen Rechts anwendbar, die das Recht des türkischen Arbeitnehmers auf Familiennachzug berühren.
2. Für die Frage, ob ein ordnungsgemäßer Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 vorliegt, ist beim Familiennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer, der sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann, auf die Person des Stammberechtigten abzustellen und nicht auf die Person des nachzugswilligen Familienangehörigen.
3. Die Aufhebung der Befreiung von der Aufenthaltserlaubnispflicht für unter 16-Jährige bewirkt zwar eine "neue Beschränkung" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80. Diese ist jedoch durch die damit beabsichtigte effektive Zuwanderungskontrolle als zwingenden Grund des Allgemeininteresses (vgl. hierzu: EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - Rs. C-138/13, Dogan - InfAuslR 2014, 322) gerechtfertigt.
Normenkette
AufenthG § 33 S. 1, § 4 Abs. 1 S. 1; AuslG 1965 § 2 Abs. 2 Nr. 1; AuslG 1990 § 3 Abs. 1; AuslG 1965 § 7 Abs. 5; AuslG1990DV § 2 Abs. 2; EWGAssRBes 1/80 Art. 13; EWGAssRBes 2/76 Art. 7
Verfahrensgang
VG Darmstadt (Urteil vom 18.12.2013; Aktenzeichen 5 K 310/12.DA) |
Nachgehend
Tatbestand
Rz. 1
Der minderjährige Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt die Feststellung, dass er sich erlaubnisfrei im Bundesgebiet aufhalten darf.
Rz. 2
Der Vater des Klägers reiste im Jahr 1994 in das Bundesgebiet ein. Nachdem er zunächst erfolglos um Asyl nachgesucht hatte, erhielt er im Jahr 2008 aufgrund einer Altfallregelung eine Aufenthaltserlaubnis. Seit Dezember 2009 ist er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG sowie seit 2011 zusätzlich im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG. Er ist seit 2007 als Arbeitnehmer beschäftigt.
Rz. 3
Die Mutter des Klägers reiste im Jahr 2009 in das Bundesgebiet ein und beantragte ebenfalls Asyl. Ihren Asylantrag nahm sie 2012 zurück.
Rz. 4
Der Kläger wurde am 2. Mai 2011 im Bundesgebiet geboren und besitzt einen türkischen Reisepass sowie einen Nüfus. Sein Asylverfahren wurde im Jahr 2013 eingestellt, nachdem sein gesetzlicher Vertreter den Asylantrag zurückgenommen hatte.
Rz. 5
Der Kläger beantragte im Mai 2011 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Februar 2012 ab und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an (Nr. 5 und 6 des Bescheides). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Lebensunterhalt des Klägers nicht sichergestellt sei. Aus der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 i.V.m. § 2 Abs. 2 DVAuslG 1990 ergebe sich kein erlaubnisfreier Aufenthalt für den Kläger, da die Stillhalteklausel für den hier betroffenen Bereich der Familienzusammenführung keine Anwendung finde.
Rz. 6
Im Klageverfahren machte der Kläger zuletzt nur noch geltend, dass er keiner Aufenthaltserlaubnis bedürfe, da er noch keine 16 Jahre alt sei.
Rz. 7
Mit Urteil vom 18. Dezember 2013 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben, die Ziffern 5 und 6 des Bescheides des Beklagten vom 16. Februar 2012 aufgehoben und festgestellt, dass sich der Kläger aufgrund des Befreiungstatbestandes des § 2 Abs. 2 DVAuslG 1990 i.V.m. Art. 13 ARB 1/80 rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1990 i.V.m. § 2 Abs. 2 DVAuslG 1990. Er sei türkischer Staatsangehöriger unter 16 Jahren, besitze seit dem 31. Oktober 2011 einen Nationalpass, und sein Vater sei bereits im Zeitpunkt der Geburt des Klägers im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen. Zum Zeitpunkt des Erhalts des türkischen Nationalpasses habe sich der Kläger auch auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen können. Diese verbiete die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezweckten oder bewirkten, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen werde, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung am 1. Dezember 1980 in dem betreffenden Mitgliedstaat gegolten hätten. Beschränkungen in diesem Sinne seien nicht nur Verschlechterungen, die unmittelbar auf den Zugang zum Arbeitsmarkt abzielten, sondern auch sämtliche Regelungen, die Aufenthaltsrechte als Voraussetzung des Zugangs zum Arbeitsmarkt einschränkten bzw. ihren Erwerb erschwerten. Der Kläger erfülle auch die Voraussetzungen des Art. 13 ARB 1/80, da er sich seit seiner Geburt ordnungsgemäß im Bundesgebiet aufhalte. Der rechtmäßige Aufenthalt folge aus einer analogen Anwendung des § 33 Satz 3 AufenthG. Werde bereits der befreite Aufenthalt oder der rechtmäßige Aufenthalt, der auf einem Visum beruhe, begünstigt, so gelte dies erst recht für den Aufenthalt eines Elternteils, der im Besitz eines Aufenthaltstitels sei. Der mit der Geburt im Bundesgebiet einhergehende rechtmäßige Aufenthalt sei auch nicht nur eine vorläufige, verfahrensrechtliche Rechtsposition, die einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 nicht begründen könne. Durch den rechtmäßigen Aufenthalt nach der Geburt habe der Gesetzgeber der besonderen Beziehung zwischen dem Kleinkind und der Mutter unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten Eltern-Kind-Beziehung Rechnung tragen wollen. Die Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 setze hingegen nicht voraus, dass der Kläger den Zugang zum Arbeitsmarkt anstrebe. Der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 unterfielen vielmehr auch Familienangehörige, die - wie der Kläger - mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft lebten, ohne selbst einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sofern ihr Aufenthalt ordnungsgemäß sei.
Rz. 8
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen (Sprung-)Revision macht der Beklagte geltend, dass sich der Kläger nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen könne. Er bezweifelt bereits die Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 auf eine nachträglich eingeführte Beschränkung des Familiennachzugs zu türkischen Staatsangehörigen, die einer Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nachgingen, weil es an einer hinreichenden Verknüpfung mit der durch die Stillhalteklausel zu gewährleistenden Förderung der Rahmenbedingungen eines freien Zugangs zum Arbeitsmarkt fehle. Darüber hinaus sei Art. 13 ARB 1/80 nur auf türkische Staatsangehörige anwendbar, denen der Zuzug ins Bundesgebiet bereits gestattet worden sei, und berühre somit grundsätzlich nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, Vorschriften über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet zu erlassen. Dies sei auf die Situation des im Bundesgebiet geborenen türkischen Klägers übertragbar und schließe einen Rückgriff auf § 2 Abs. 2 DVAuslG 1990 i.V.m. Art. 13 ARB 1/80 aus. Unabhängig hiervon habe sich der Kläger in den ersten sechs Monaten nach seiner Geburt nicht „ordnungsgemäß“ im Sinne der Stillhalteklausel im Bundesgebiet aufgehalten. § 33 Satz 1 AufenthG regele die für den Kläger zutreffende Fallkonstellation, weshalb kein Raum für eine analoge Anwendung des § 33 Satz 3 AufenthG sei. Selbst wenn man davon ausgehe, dass sich der Kläger aufgrund der analogen Anwendung des § 33 Satz 3 AufenthG für sechs Monate erlaubt im Bundesgebiet aufhalte, sei dies nur eine vorläufige, verfahrensrechtliche Rechtsposition. Diese sei nicht ausreichend, um einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 zu begründen. Auch bei einer Bejahung der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 folge hieraus nicht zwangsläufig eine Befreiung von der Aufenthaltserlaubnis. § 2 Abs. 2 DVAuslG 1990 habe lediglich eine Erleichterung im Verfahrensablauf zur Folge und nicht dazu geführt, dass von der materiellen Prüfung eines Aufenthaltsrechts abgesehen worden sei. Die fehlende Lebensunterhaltssicherung sei in die Ermessenserwägungen der Ausländerbehörde bei der Entscheidung über eine Beschränkung des Aufenthalts gemäß § 3 Abs. 5 AuslG 1990 mit einzubeziehen gewesen. Zudem sei der Kläger im Bundesgebiet geboren, so dass es nicht darum gehe, seine Einreise zum Familiennachzug zu erleichtern, sondern um die materiellrechtliche Prüfung, ob ihm im Ermessenswege eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden könne.
Rz. 9
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Rz. 10
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit bezüglich der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung des Beklagten (Nr. 5 und 6 des Bescheides des Beklagten vom 16. Februar 2012) für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Im Umfang der Teilerledigung ist das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 18. Dezember 2013 wirkungslos (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO).
Rz. 11
Im Übrigen hat die (Sprung-)Revision des Beklagten Erfolg. Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass er sich rechtmäßig erlaubnisfrei im Bundesgebiet aufhält. Zwar liegen die Voraussetzungen des Art. 13 ARB 1/80 in der Person seines Vaters vor (1.). Die Abschaffung des erlaubnisfreien Aufenthalts für türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren stellt auch eine neue Beschränkung im Sinne der Stillhalteklausel dar (2.). Diese ist jedoch zur wirksamen Steuerung der Einwanderung gerechtfertigt (3.).
Rz. 12
1. Im Ergebnis zutreffend ist das Verwaltungsgericht zwar zunächst davon ausgegangen, dass sich der Kläger auf die assoziationsrechtliche Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen kann. Danach dürfen die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.
Rz. 13
a) Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht neben den unmittelbar anwendbaren Rechten der Art. 6 und 7 ARB 1/80, die türkischen Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen im Unionsrecht wurzelnde Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechte vermitteln. Sie zielt auf die den Mitgliedstaaten verbleibende Kompetenz, die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet und dort die erstmalige Aufnahme einer Beschäftigung zu regeln (Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 52, jeweils Rn. 19; EuGH, Urteil vom 21. Oktober 2003 - Rs. C-317/01, C-369/01, Abatay u.a. - InfAuslR 2004, 32 Rn. 80).
Rz. 14
b) Der sachliche Anwendungsbereich dieser assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel ist eröffnet. In der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 10. Juli 2014 - Rs. C-138/13, Dogan - InfAuslR 2014, 322) wird bezüglich der in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltenen Stillhalteklausel klargestellt, dass diese nicht nur auf Regelungen anwendbar ist, die unmittelbar die Bedingungen für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch einen türkischen Staatsangehörigen behandeln, sondern auch auf solche, die Rechte von Familienangehörigen auf dem Gebiet der Familienzusammenführung betreffen. Denn eine Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert oder unmöglich macht, kann sich negativ auf die Entscheidung eines türkischen Staatsagehörigen auswirken, in einem Mitgliedstaat dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteile vom 17. September 2009 - Rs. C-242/06, Sahin - Slg. 2009, I-8465 Rn. 65; vom 21. Oktober 2003 a.a.O Rn. 83 und vom 11. Mai 2000 - Rs. C-37/98, Savas - Slg. 2000, I-2927 Rn. 50) sind Art. 41 des Zusatzprotokolls und Art. 13 ARB 1/80 gleichartig und verfolgen - ungeachtet des unterschiedlichen Wortlauts - dasselbe Ziel. Auch die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 ist mithin dahin auszulegen, dass mit Blick auf den stammberechtigten türkischen Arbeitnehmer Regelungen über die Familienzusammenführung vom Anwendungsbereich nicht von vornherein ausgeschlossen sind. In Fortentwicklung der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 30. März 2010 - BVerwG 1 C 8.09 - BVerwGE 136, 231 = Buchholz 402.242 § 30 AufenthG Nr. 2) kann sich somit auch ein enger Familienangehöriger, der selbst nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern den Familiennachzug erstrebt, auf die Stillhalteklausel berufen. Denn die Versagung des Familiennachzugs führt zu einer mittelbaren neuen Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Stammberechtigten. Deshalb betreffen neue Erschwernisse im Bereich des Familiennachzugs auch die Rechte des in Deutschland lebenden Stammberechtigten, da ein verweigerter Familiennachzug sich negativ auf die Verwirklichung der Freizügigkeit des türkischen Arbeitnehmers auswirken kann. Dies wäre indes mit dem Zweck des Assoziierungsabkommens, die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers dadurch zu fördern, dass ihm die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande garantiert wird, nicht vereinbar.
Rz. 15
c) Für die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 13 ARB 1/80 ist erforderlich, dass der Aufenthalt und die Beschäftigung des durch die Regelung Begünstigten ordnungsgemäß sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bedeutet der Begriff „ordnungsgemäß“, dass der türkische Arbeitnehmer oder sein Familienangehöriger die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats auf dem Gebiet der Einreise und des Aufenthalts beachtet haben muss, so dass er sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Staates befindet (Urteile vom 17. September 2009 a.a.O. Rn. 53 und vom 7. November 2013 - Rs. C-225/12, Demir - NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 35). Für einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne der Stillhalteklausel ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht erforderlich, dass sich der nachzugswillige Familienangehörige, hier der Kläger, bereits ordnungsgemäß im Bundesgebiet aufhält. Auch wenn sich sein Aufenthalt nicht als ordnungsgemäß erweist, reicht es im Falle des Familiennachzugs aus, auf die Person des Stammberechtigten, des türkischen Arbeitnehmers, abzustellen. Da Schutzgut der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist und eine Beschränkung des Nachzugs für enge Familienangehörige einen Eingriff in die originären Rechte des türkischen Arbeitnehmers zur Folge hat, ist der Anwendungsbereich der Stillhalteklausel bereits dann eröffnet, wenn die verschärften Anforderungen für den Familiennachzug die geschützte Arbeitnehmerfreizügigkeit und somit die Rechtsstellung des Stammberechtigten berühren. Die Ordnungsgemäßheit des Aufenthalts des Stammberechtigten steht im vorliegenden Fall außer Frage, da der Vater des Klägers seit dem Jahr 2008 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist. Da Art. 13 ARB 1/80 hier anwendbar ist und intertemporal auch den bis zum 1. Januar 1991 bestehenden erlaubnisfreien Aufenthalt für türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren erfasst, kann dahinstehen, ob bereits der am 20. Dezember 1976 gefasste und in Kraft getretene Beschluss Nr. 2/76 des Assoziationsrates über die Durchführung des Artikel 12 des Abkommens von Ankara vollständig durch den Beschluss Nr. 1/80 verdrängt wurde oder ob jedenfalls die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 mit der Folge fortgilt, dass auf die für den türkischen Staatsangehörigen günstigste Regelung seit Wirksamwerden des ARB 2/76 am 1. Dezember 1976 abzustellen ist.
Rz. 16
2. Die Abschaffung des erlaubnisfreien Aufenthalts durch die Einführung einer Aufenthaltserlaubnispflicht bewirkt eine „neue Beschränkung“ im Sinne des Art. 13 ARB 1/80, denn die frühere Rechtslage war für den Kläger günstiger.
Rz. 17
a) Art. 13 ARB 1/80 enthält ein Verschlechterungsverbot. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen oder einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung in dem Mitgliedstaat gelten (EuGH, Urteil vom 17. September 2009 a.a.O. Rn. 63). Maßgeblich für diesen Vergleich ist jedenfalls die am 1. Dezember 1980 geltende Rechtslage (Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80; EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - Rs. C-300/09, C-301/09, Toprak und Oguz - Slg. 2010, I-12845 Rn. 62). Darüber hinaus erfasst die Stillhalteklausel auch die nachträgliche Verschärfung einer nach diesem Stichtag in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführten Bestimmung, die eine Erleichterung der damals geltenden Bestimmungen vorsah, auch wenn diese Verschärfung nicht die Bedingungen für die Erteilung der Erlaubnis im Vergleich zu den bei Inkrafttreten geltenden Bedingungen verschlechterte (EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 50 f.). Dies bedeutet, dass für den Vergleich der Rechtslage auf die jeweils günstigste Regelung abzustellen ist, die seit dem Inkrafttreten der Stillhalteklausel eingeführt wurde.
Rz. 18
Nach der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 geltenden Rechtslage bedurften Ausländer, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, keiner Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1965). Die vom Verwaltungsgericht herangezogene Vorschrift des § 2 Abs. 2 DVAuslG 1990, wonach u.a. türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren keiner Aufenthaltsgenehmigung bedurften, solange ein Elternteil eine Aufenthaltsgenehmigung besaß, schrieb den Rechtszustand nach dem Ausländergesetz 1965 - jedenfalls für türkische Staatsangehörige - lediglich partiell fort. Maßstab für die Prüfung einer Verschlechterung im Sinne der Stillhalteklausel ist mithin die Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1965.
Rz. 19
b) Der Vergleich der Rechtslage nach dem Ausländergesetz 1965 und dem heute geltenden § 33 AufenthG ergibt, dass die frühere Rechtslage für den Kläger günstiger war, weshalb die Aufenthaltserlaubnispflicht in § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine „neue Beschränkung“ im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 bewirkt. Durch den Befreiungstatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1965 erhielten jugendliche Ausländer ein (dauerndes) Aufenthaltsrecht und waren damit den Ausländern gleichgestellt, die eine Aufenthaltserlaubnis besaßen (Urteil vom 23. Februar 1993 - BVerwG 1 C 45.90 - BVerwGE 92, 116 ≪126 ff.≫ = Buchholz 133 AG-StlMindÜbk Nr. 1 S. 6). Zwar konnte nach § 7 Abs. 4 und 5 AuslG 1965 (vgl. auch § 3 Abs. 5 AuslG 1990) die Aufenthaltserlaubnis für einen jugendlichen Ausländer, der wegen seines Alters von der Aufenthaltserlaubnispflicht befreit war, nach pflichtgemäßem Ermessen beschränkt werden. Die Möglichkeit einer nachträglichen zeitlichen Beschränkung des erlaubnisfreien Aufenthalts im Einzelfall ist einer generellen Erlaubnispflicht, bei der ein Aufenthalt nur und erst mit der Erteilung des Aufenthaltstitels rechtmäßig ist, jedoch nicht qualitativ gleichwertig. Vielmehr stellt die Einführung einer Erlaubnispflicht eine Verschlechterung gegenüber einem erlaubnisfreien Aufenthalt mit der Möglichkeit einer zeitlichen Beschränkung dar. Sie kehrt das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der Durchsetzung materiellrechtlicher Aufenthaltsvoraussetzungen um, auch wenn diese identisch sind/bleiben, und unterwirft die jungen Ausländer einem präventiv wirkenden Erlaubnisvorbehalt.
Rz. 20
3. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt aber insoweit revisibles Recht, als es nicht geprüft und bejaht hat, dass die Erstreckung der Aufenthaltserlaubnispflicht auf unter 16-jährige Ausländer durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und sich als verhältnismäßig erweist.
Rz. 21
a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 7. November 2013 - Rs. C-225/12, Demir - NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 40) kann eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 galten, durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein (vgl. entsprechend zu Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll: Urteil vom 10. Juli 2014 - Rs. C-138/13, Dogan - InfAuslR 2014, 322 Rn. 37). Neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen (Art. 14 ARB 1/80) prüft der Gerichtshof der Europäischen Union auch ungeschriebene Gemeinwohlgründe, die, wie bei den Grundfreiheiten des Unionsrechts, eine Vielzahl von Gemeinwohlbelangen umfassen können (vgl. z.B. Urteil vom 12. Juli 2012 - Rs. C-176/11, HIT und HIT LARIX - ZfWG 2012, 334 - juris Rn. 20 f.), sich aber als zwingend erweisen müssen. Diese Übertragung einer unionsrechtlichen Rechtsfigur auf das Assoziationsrecht beruht darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union diejenigen Grundsätze, die nach Unionsrecht für die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen gelten, „soweit wie möglich“ als Leitlinien für die Behandlung türkischer Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, herangezogen werden sollen (Urteile vom 6. Juni 1995 - Rs. C-434/93, Bozkurt - Slg. 1995, I-01475 Rn. 20 und vom 23. Januar 1997 - Rs. C-171/95, Tetik - Slg. 1997, I-329 Rn. 28; vgl. auch: Hailbronner, ZAR 2011, 322 ≪324 f.≫; Thym, ZAR 2014, 301 ≪303≫).
Rz. 22
b) Die Aufhebung der Befreiung von der Aufenthaltserlaubnispflicht für unter 16-Jährige ist durch einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Denn erst sie schafft die Voraussetzungen dafür, das hochrangige Gemeinwohlziel einer Steuerung der Zuwanderung unter Bedingungen sich quantitativ und qualitativ verändernder Migrationsbewegungen hinreichend effektiv verfolgen zu können. Die wirksame Steuerung der Migrationsströme ist ein unionsrechtlich legitimes Ziel (vgl. Art. 79 Abs. 1 AEUV) und erweist sich aus den nachstehenden Gründen als zwingendes Allgemeininteresse. Während der Gesetzgeber des Ausländergesetzes 1965 die Anwesenheit von Kindern vor Vollendung des 16. Lebensjahres noch nicht für derart unvereinbar mit den öffentlichen Interessen angesehen hatte, dass er eine vorherige Kontrolle der Zuwanderung durch ein Erlaubnisverfahren generell für erforderlich hielt (vgl. Urteil vom 23. Februar 1993 a.a.O ≪127≫ m.w.N.), war bereits unter der Geltung des Ausländergesetzes 1990 die generelle Befreiung von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Ausländer unter 16 Jahren aufgehoben worden (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1990). Hierdurch wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass einerseits die Einreise jugendlicher Ausländer zwecks Erlangung eines Daueraufenthalts keine singuläre Erscheinung mehr war, dass aber andererseits auch jugendlichen Ausländern der Aufenthalt im Bundesgebiet nicht unbeschränkt und voraussetzungslos erlaubt werden konnte (Allgemeiner Teil IV 2. der amtlichen Begründung, BTDrucks 11/6321 S. 43 f.). Der Gesetzgeber ging ferner davon aus, dass infolge der Befreiung die erforderliche Kontrolle, ob dem Ausländer auch materiellrechtlich ein Aufenthaltsrecht zusteht, nicht hinreichend gesichert ist (Amtliche Begründung zu § 3 Abs. 1 AuslG 1990, BTDrucks 11/6321 S. 54).
Rz. 23
Mit dieser Neuregelung im Ausländergesetz 1990 entfiel der erlaubnisfreie Aufenthalt für türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren jedoch noch nicht endgültig und ersatzlos. Zum einen erhielten nach der Übergangsvorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1990 die sich bis dahin erlaubnisfrei rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden jugendlichen Ausländer auf Antrag eine Aufenthaltsgenehmigung, die gemäß Satz 2 der Vorschrift abweichend von bestimmten Erteilungsvoraussetzungen (z.B. Sicherung des Lebensunterhalts) erteilt werden konnte. Zum anderen sah § 2 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 18. Dezember 1990 - DVAuslG 1990 - (BGBl I S. 2983) für türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren, bei denen zumindest ein Elternteil eine Aufenthaltsgenehmigung besaß, nach wie vor einen erlaubnisfreien Aufenthalt im Bundesgebiet vor. Diese Regelung wurde erst durch die Änderungsverordnung vom 11. Januar 1997 (BGBl I S. 4) gestrichen, in der der Verordnungsgeber jedoch in § 28 Abs. 4 DVAuslG als Ausgleich vorsah, dass dieser Personenkreis bis zum 31. Dezember 1997 eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen konnte. Dieses Antragsrecht wurde in der Änderungsverordnung vom 2. April 1997 (BGBl I S. 751) dahingehend modifiziert, dass den Betroffenen bis zum 30. Juni 1998 sogar von Amts wegen eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde. Durch Änderungsgesetz vom 29. Oktober 1997 (BGBl I S. 2584) ordnete der Gesetzgeber schließlich in § 96 Abs. 4 AuslG 1990 an, dass unter anderem türkischen Staatsangehörigen unter 16 Jahren, die vor dem 15. Januar 1997 vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung befreit waren und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten, eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug abweichend unter anderem vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung erteilt wurde.
Rz. 24
Diese Rechtsentwicklung zeigt, dass der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber nicht die materiellrechtlichen Nachzugsvoraussetzungen für türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren verschärfen, sondern mit der Erstreckung des aufenthaltsrechtlichen Erlaubnisvorbehalts auch auf diesen Personenkreis nur die wirksame präventive Zuwanderungskontrolle gewährleisten wollte. Die Aufhebung des erlaubnisfreien Aufenthalts ist demnach dadurch gerechtfertigt und erweist sich als zwingend, weil angesichts steigender Zuwandererzahlen eine effektive Steuerung der Zuwanderung bei einer Befreiung von der Aufenthaltserlaubnispflicht nicht mehr sichergestellt war. Wie § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck bringt, liegt das Ziel der wirksamen Steuerung des Zuzugs von Ausländern auch dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz zugrunde.
Rz. 25
c) Die Aufenthaltserlaubnispflicht in § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch für türkische Staatsangehörige unter 16 Jahren ist schließlich geeignet, das angestrebte legitime Ziel zu erreichen, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (vgl. zu diesen Anforderungen: EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - Rs. C 225/12, Demir - NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 40). Eine Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme ist insbesondere deswegen zu verneinen, weil bereits vor der Einführung der Aufenthaltserlaubnispflicht die Möglichkeit einer zeitlichen Beschränkung des erlaubnisfreien Aufenthalts gemäß § 7 Abs. 5 AuslG 1965 (beispielsweise bei fehlender Lebensunterhaltssicherung) bestand. Die Einführung einer Anzeigepflicht für junge Ausländer als Voraussetzung eines - weiterhin erlaubnisfreien - rechtmäßigen Aufenthalts wäre kein gleich geeignetes Mittel gewesen, weil die materielle Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht von der Beachtung der Obliegenheit abhängig gewesen wäre, Einreise bzw. Inlandsaufenthalt anzuzeigen. Eine Ausnahme im Bundesgebiet geborener Personen wäre ebenfalls nicht wirksam zu überwachen gewesen. Ein Fall der Unverhältnismäßigkeit liegt auch nicht deswegen vor, weil die besonderen Umstände des Einzelfalles im Rahmen des § 4 Abs. 1 i.V.m. § 33 Satz 1 AufenthG keine Berücksichtigung fänden (vgl. zu diesem Gesichtspunkt: EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - Rs. C - 138/13, Dogan - InfAuslR 2014, 322 Rn. 38). Denn die als Ermessensvorschrift ausgestaltete Bestimmung des § 33 Satz 1 AufenthG ermöglicht gerade die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles mit der Folge, dass die Tatsache der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG nicht „automatisch“ zur Ablehnung des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis führt.
Rz. 26
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 2 VwGO. Die auf die streitige Revisionsentscheidung entfallenden Kosten hat nach § 154 Abs. 1 VwGO der Kläger zu tragen. Bezüglich des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils des Verfahrens waren die Kosten nach billigem Ermessen und unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes ebenfalls dem Kläger aufzuerlegen, weil dieser bei streitiger Entscheidung voraussichtlich auch insoweit unterlegen wäre.
Fundstellen
BVerwGE 2015, 276 |
FamRZ 2015, 404 |
InfAuslR 2015, 93 |
JZ 2015, 97 |
ZAR 2015, 109 |
DVBl. 2014, 3 |
KommJur 2014, 5 |