Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausgleich erworbener körperlicher Beeinträchtigungen. Beeinträchtigung. Behandlungsrisiko. Beihilfe. Beihilfefähigkeit. Folgeleiden. Gesundheitsvorsorge. Heilbehandlung. Hodenkrebs. Hodenoperation. Kryokonservierung. körperliche Beeinträchtigung. künstliche Befruchtung. medizinisches Standardverfahren. Nebenfolge. Nebenwirkung. Operation. Operationsrisiko. Spermien. Spermiengewinnung. Unfruchtbarkeit. Vorsorgemaßnahme. Wahrscheinlichkeit. Zeugungsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ist bei einer ärztlich gebotenen Operation mit hoher Wahrscheinlichkeit mit schweren und unumkehrbaren Nebenwirkungen zu rechnen, so dienen auch solche Maßnahmen der Heilung oder Linderung von Leiden bzw. dem Ausgleich einer durch die Behandlung erworbenen körperlichen Beeinträchtigung, die darauf gerichtet sind, diese Nebenwirkungen zu vermeiden oder bei Unvermeidbarkeit jedenfalls deren Folgen zu minimieren. Sind die Aufwendungen für die Operation selbst beihilfefähig, so umfasst dies auch die Nebenmaßnahmen.
Normenkette
BVO Rh-Pf § 1 Abs. 1 Nr. 1; BVO Rh-Pf § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c; BVO Rh-Pf § 2 Abs. 2; BVO Rh-Pf § 3 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 21.03.2006; Aktenzeichen 2 A 10800/05) |
VG Koblenz (Urteil vom 28.04.2005; Aktenzeichen 6 K 2679/04.KO) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. März 2006 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I
Der Kläger ist Beamter des beklagten Landes. Sein im Mai 1978 geborener Sohn musste sich im Dezember 2003 einer Operation wegen eines Karzinoms unterziehen, bei der der rechte Hoden entfernt wurde. Im Januar 2004 wurde er erneut operiert; hierbei wurde eine sogenannte Lymphadenektomie (Lymphknotenentfernung) vorgenommen. Zwei Tage vor dieser Operation wurden ihm Spermien entnommen, aufbereitet und tiefgefroren (sog. Kryokonservierung), um sie im Falle eines zur Unfruchtbarkeit führenden Operations- oder Behandlungsverlaufs für eine spätere Zeugung zur Verfügung zu haben.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger Beihilfeleistungen für die Kosten der Spermienaufbereitung und Kryokonservierung. Der Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, es handele sich nicht um krankheitsbedingte Aufwendungen, sondern um Kosten einer Vorsorgemaßnahme.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen, im Wesentlichen aus folgenden Gründen:
Die vom Kläger geltend gemachten Aufwendungen seien beihilfefähig. Spermiengewinnung, -aufbereitung und Kryokonservierung seien medizinisch erforderlich gewesen, weil das Risiko einer Zeugungsunfähigkeit konkret gegeben gewesen sei und die Maßnahme der Sicherstellung der Zeugungsfähigkeit gedient habe. Die Notwendigkeit habe sich auch daraus ergeben, dass neben der operativen Behandlung eine Chemotherapie geboten gewesen sei, deren Nebenwirkung auf die Spermienentstehung ebenfalls die Zeugungsfähigkeit des Sohnes gefährdet habe. In einem solchen Falle entspreche es medizinischem Standard, Spermien zu gewinnen, aufzubereiten und im Wege der Kryokonservierung haltbar zu machen. Die Aufwendungen seien daher sowohl in einem konkreten Krankheitsfall als auch zum Ausgleich erworbener körperlicher Beeinträchtigungen entstanden. Das Risiko der Zeugungsunfähigkeit sei konkret gegeben gewesen; ihr hätte nach Realisierung durch keine therapeutische Maßnahme mehr begegnet werden können.
Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass weder im damaligen Zeitpunkt eine künstliche Befruchtung angestanden habe, noch jetzt absehbar sei, ob der Sohn des Klägers einen Kinderwunsch haben und ob sich seine Partnerin möglicherweise gegen eine künstliche Befruchtung sträuben werde. Bei der Frage der Beihilfefähigkeit komme es nicht auf spekulative Erwägungen und subjektive Beweggründe an, sondern auf eine objektiv vorliegende Indikation. Die Maßnahme falle auch nicht als Vorsorgemaßnahme oder als Maßnahme im Zusammenhang mit einer künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) unter beihilferechtliche Ausschlussbestimmungen. Die Spermienaufbereitung und Kryokonservierung seien vielmehr als ärztliche Leistungen aus Anlass einer bereits eingetretenen Krankheit anzusehen. Ob der Anspruch des Klägers auch die Kosten der Lagerung der tiefgefrorenen Spermien umfasse, sei nicht zu prüfen, weil der Kläger diese Kosten nicht geltend mache.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt,
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. März 2006 und des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 28. April 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Vertreterin des Bundesinteresses hat mitgeteilt, dass mit Ausnahme zweier Einzelfallentscheidungen in Schleswig-Holstein in Bund und Ländern die Beihilfefähigkeit für Aufwendungen der hier in Rede stehenden Art verneint werde. Man gehe allgemein davon aus, dass die Kryokonservierung von Samenzellen über die Aufwendungen der künstlichen Befruchtung hinausgehe und als Vorsorgemaßnahme einzustufen sei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten, über die im Einverständnis aller Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Das Urteil des Berufungsgerichts verletzt kein revisibles Recht. Dem Kläger steht der geltend gemachte Beihilfeanspruch zu.
Für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfen verlangt werden (vgl. Urteile vom 28. Juni 1965 – BVerwG 8 C 80.64 – BVerwGE 21, 264 ≪265 ff.≫; vom 24. März 1982 – BVerwG 6 C 95.79 – BVerwGE 65, 184 ≪187≫; vom 15. Dezember 2005 – BVerwG 2 C 35.04 – Buchholz 270 § 5 BhV Nr. 17 ≪Rn. 11≫). Dies gilt auch für die hier anzuwendenden Bestimmungen.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c, § 2 Abs. 2 der Beihilfevorschriften des beklagten Landes vom 31. März 1958 in der Fassung des Gesetzes vom 20. November 2003 (GVBl S. 343) – BVO –. Nach diesen Bestimmungen sind beihilfefähig u.a. Aufwendungen, die für die Behandlung der im Familienzuschlag berücksichtigungsfähigen Kinder in Krankheitsfällen und durch Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge entstanden sind. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts gehörte der damals knapp 26-jährige Sohn des Klägers zum Personenkreis derer, deren Behandlungskosten dem Grunde nach beihilfefähig waren. Auf die Beihilfe besteht, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind, ein Rechtsanspruch (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BVO).
Dem Grunde nach beihilfefähig sind nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO die notwendigen Aufwendungen in angemessenem Umfange, soweit sie dem Beihilfeberechtigten oder seinem berücksichtigungsfähigen Angehörigen in Krankheitsfällen zur Wiedererlangung der Gesundheit, zur Besserung oder Linderung von Leiden oder für die Beseitigung oder zum Ausgleich angeborener oder erworbener körperlicher Beeinträchtigungen entstanden sind. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVO sind aus Anlass einer Krankheit beihilfefähig die Aufwendungen für ärztliche Leistungen. Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge sind nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 BVO nur beihilfefähig, soweit sie bestimmte Schutzimpfungen und bestimmte zahnärztliche Leistungen betreffen.
Die Aufwendungen für die Gewinnung, die Aufbereitung und die Tiefkühlung der Spermien zwei Tage vor der eigentlichen Operation des Sohnes sind nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVO beihilfefähig. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Krankheitsfall, nämlich dem behandlungsbedürftigen Hodenkarzinom. Die aus diesem Anlass gebotenen und durchgeführten ärztlichen Maßnahmen dienten der Wiedererlangung der Gesundheit des Patienten und dem Ausgleich erworbener körperlicher Beeinträchtigungen. Zu einer Heilbehandlung gehören auch zusätzliche Maßnahmen, die zwar für sich genommen nicht die Heilung des Leidens herbeiführen können (Urteil vom 27. November 2003 – BVerwG 2 C 38.02 – BVerwGE 119, 265 ≪269≫; BSG, Urteil vom 3. April 2001 – B1 KR 40/00R. – BSGE 88, 62 ≪64≫ m.w.N.; BGH, Urteil vom 17. Dezember 1986 – IVa ZR 78/85 – BGHZ 99, 228 ≪231≫), wohl aber der Vermeidung oder Minimierung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartender Behandlungsrisiken und Folgeleiden dienen und für den Fall eines ungünstigen Operationsverlaufs geeignet sind, durch den Eingriff erworbene körperliche Beeinträchtigungen ganz oder teilweise auszugleichen. Ist bei einer ärztlich gebotenen Operation mit hoher Wahrscheinlichkeit mit schweren und unumkehrbaren Nebenwirkungen zu rechnen, so dienen auch solche Maßnahmen der Heilung oder Linderung bzw. dem Ausgleich einer durch die Behandlung erworbenen körperlichen Beeinträchtigung, die darauf gerichtet sind, diese Nebenwirkungen zu vermeiden oder bei negativem Verlauf jedenfalls deren Folgen zu minimieren.
Hauptgegenstand der ärztlichen Leistung war die operative Entfernung der Lymphknoten. Nach den auf einem Sachverständigengutachten beruhenden Feststellungen des Berufungsgerichts war diese Operation mit einem hohen Risiko verbunden. Zum einen konnte die bei der operativen Behandlung des Karzinoms erforderliche radikale Lymphadenektomie auch bei kunstgerechter Durchführung unvermeidlicherweise zu einer Durchtrennung kleinster peripherer Nerven bzw. Ganglien im Fettbindegewebe und dadurch letztlich zur Zeugungsunfähigkeit führen. Zum anderen bestand im Zeitpunkt der Operation die konkrete Wahrscheinlichkeit, dass ungeachtet der operativen Entfernung der vom Tumor befallenen Körperteile eine weitere Chemotherapie erforderlich war, um eventuelle Absiedelungen des Karzinoms zu bekämpfen. Diese Chemotherapie hätte auch die Funktionsfähigkeit des gesunden Hodens erfassen und damit ebenfalls zur Zeugungsunfähigkeit führen können. Die streitige Maßnahme diente somit dazu, der als unerwünschter Nebenfolge der Operation vorhersehbaren und mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden Unfruchtbarkeit des Patienten entgegenzuwirken. Es handelte sich damit um eine Maßnahme, die als untergeordneter Teil einer operativen und medikamentösen Behandlung des Hodenkrebses an deren Beihilfefähigkeit teilnimmt. Auch wenn das Ziel der Operation die Beseitigung des Tumors und damit in erster Linie die Lebenserhaltung des Sohnes des Klägers war, so war es zugleich ihr Ziel, bei der Operation nach Möglichkeit auch die Fortpflanzungsfähigkeit zu erhalten.
Der Anspruch des Klägers scheitert nicht daran, dass im Zeitpunkt der Entnahme, der Aufbereitung und der Kryokonservierung des Spermas die Zeugungsfähigkeit noch bestand und nicht feststand, ob sie durch die Operation oder die eventuell erforderlich werdende nachfolgende Chemotherapie beeinträchtigt oder ganz beseitigt würde. Hier reicht aus, dass mit dem Eintritt dieser Folge auch bei Anwendung aller ärztlichen Kunst mit so hoher Wahrscheinlichkeit gerechnet werden musste, dass es den Regeln ärztlicher Kunst entsprach, die medizinisch möglichen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts gehörte die umstrittene Maßnahme in einem Fall wie dem hier zu beurteilenden zum medizinischen Standardverfahren.
Dem Anspruch steht auch nicht entgegen, dass die streitige Maßnahme nicht geeignet ist, den etwa eingetretenen Verlust der Zeugungsfähigkeit selbst rückgängig zu machen oder dauerhaft auszugleichen. Weder ein vollständiger noch ein dauerhafter Erfolg sind Voraussetzung für die Beihilfefähigkeit der Maßnahme. Eine Maßnahme dient schon dann der Linderung körperlicher Leiden oder dem Ausgleich erworbener körperlicher Beeinträchtigungen, wenn dieser Erfolg nur partiell oder nur zeitweise erreichbar ist. Es ist kein notwendiges Merkmal des Begriffs der Behandlung, dass eine Krankheit dauerhaft geheilt bzw. dass der regelwidrige Körperzustand vollständig wiederhergestellt wird (vgl. Urteile vom 30. Oktober 2003 – BVerwG 2 C 26.02 – BVerwGE 119, 168 ≪170≫; vom 27. November 2003 – BVerwG 2 C 38.02 – a.a.O. m.w.N.).
Dient somit die Maßnahme der Gewinnung, Aufbereitung und Kryokonservierung des Spermas der Wiedererlangung der Gesundheit und dem Ausgleich erworbener körperlicher Beeinträchtigungen, so stellt sich nicht die Frage, ob die Beihilfefähigkeit etwa deswegen ausscheidet, weil Aufwendungen für Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 BVO – von den dort genannten, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen – nicht beihilfefähig sind. Sind die durch eine Krankheit und die erforderliche Operation hervorgerufenen unumkehrbaren Nebenfolgen in einem solchen Grade wahrscheinlich, dass es ärztlicher Kunst entspricht, standardisierte Gegenmaßnahmen zu treffen, so dienen diese Maßnahmen unmittelbar dem Operationserfolg selbst und sind keine Vorsorgemaßnahmen.
Dieses Verständnis der Beihilfevorschriften widerspricht nicht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu der Frage, ob die Kosten des Einfrierens und der Lagerung zuvor gewonnenen und aufbereiteten Spermas von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen sind. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26. Juni 1990 – 3 RK 19/89 – (NJW 1991, 773) befasst sich nicht mit Beihilfevorschriften, sondern mit § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V, der ebenso wie § 27a SGB V (vgl. dazu BSG, Urteil vom 25. Mai 2000 – B 8 KN 3/99 KR R. – BSGE 86, 174 ≪178≫; Beschluss vom 9. Dezember 2004 – B 1 KR 95/03 B – juris) nach Wortlaut und systematischem Zusammenhang einen anderen Inhalt hat. Auch geht es im hier zu entscheidenden Fall um Aufwendungen für die Gewinnung, Aufbereitung und Kryokonservierung des Spermas, nicht um Aufwendungen für dessen dauerhafte Lagerung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Albers, Prof. Dawin, Dr. Kugele, Groepper, Dr. Bayer
Fundstellen
BVerwGE 2007, 91 |
ZBR 2007, 320 |
DÖV 2007, 303 |
DVBl. 2007, 781 |
NPA 2008 |
KHR 2007, 34 |