Entscheidungsstichwort (Thema)
Eigentumsverzicht. Überschuldung. Instandsetzungsbedarf. Grundstückswert. Sachwert. Ertragswert. Bewertungsrichtlinien
Leitsatz (amtlich)
Zur Berechnung der aus dem Grundstück finanzierbaren Instandsetzungskosten, wenn Rohsachwert, Ertragswert und Grundstücksbelastung bei Eigentumsverzicht bekannt sind.
Normenkette
VermG § 1 Abs. 2
Verfahrensgang
VG Schwerin (Urteil vom 07.11.2001; Aktenzeichen 3 A 339/97) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 7. November 2001 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin beansprucht aus abgetretenem Recht die Rückübertragung eines Mietwohngrundstücks nach dem Vermögensgesetz. Der Eigentümer, der das Grundstück im Jahr 1958 zum Kaufpreis von 28 000 M erworben hatte, erklärte im September 1972 den Verzicht auf sein Eigentum. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Grundstück einen Einheitswert von 21 900 M und war mit einer im Jahr 1926 aufgenommenen, in Höhe von 10 254,26 M valutierenden Hypothek sowie mit zwei 1966 und 1967 bestellten Aufbaugrundschulden belastet, die mit insgesamt 2 160,35 M valutierten. Der Eigentümer erzielte für die sechs Wohnungen Mieterträge von 2 155 M jährlich. Nach Genehmigung des Eigentumsverzichts wurde das Grundstück im Dezember 1972 in Volkseigentum überführt.
Im Jahr 1990 beantragten die Rechtsnachfolger des ehemaligen Eigentümers die Rückübertragung des Grundstücks. Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 24. August 1994 ab: Der Schädigungstatbestand des § 1 Abs. 2 VermG sei nicht erfüllt. Das Grundstück sei nicht überschuldet gewesen. Der Zustand des Wohnhauses sei zwar renovierungsbedürftig, doch seien die Wohnungen immer bewohnbar gewesen. Der Zeitwert des Grundstücks hätte die Aufnahme eines Grundkredits bis rund 7 500 M zugelassen. Auch nach Abzug der Nebenkosten und der Instandhaltungsaufwendungen sei dem Eigentümer ein Überschuss verblieben. Der hiergegen eingelegte Widerspruch war erfolglos.
Nach Klageerhebung haben die Rechtsnachfolger des Eigentümers ihre Restitutionsansprüche an die Klägerin abgetreten. Diese hat zur Klagebegründung ausgeführt: Die Überschuldung des Grundstücks habe unmittelbar bevorgestanden. Bereits in einer Bauzustandsermittlung aus dem Jahr 1967 seien Kosten für die Reparatur des Daches und der Außenhaut mit 11 300 M veranschlagt worden. Der Instandsetzungsbedarf habe den Beleihungswert, der mit 80 % des Einheitswerts anzusetzen sei, deutlich überschritten.
Das Verwaltungsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Vernehmung ehemaliger Mieter als Zeugen die Klage abgewiesen: Die Überschuldung des Grundstücks habe beim Eigentumsverzicht nicht unmittelbar bevorgestanden. Der Zeitwert sei anhand der Bewertungsrichtlinien zum Entschädigungsgesetz vom 4. Mai 1960 zu ermitteln. Dabei sei vom Sachwert auszugehen, den der Sachverständige mit 2 900 M Bodenwert und – vor Abzug des Instandsetzungsbedarfs – 24 790 M Gebäudewert zutreffend festgestellt habe. Die Schätzung des Sachverständigen zum Instandsetzungsbedarf von 18 070 M sei demgegenüber nicht verwertbar, weil der Betrag maßgeblich auf den Angaben eines bei der Ortsbesichtigung zufällig anwesenden Mieters beruhe, die sich der Gutachter unter Überschreitung seiner Kompetenz zu Eigen gemacht habe. Auch der Ertragswert sei abweichend vom Gutachten mit 538,77 M jährlich anzusetzen; bei Hochrechnung dieses Werts auf 20 Jahre ergebe sich ein kapitalisierter nachhaltiger Reinertrag von 10 775,40 M. Auf dieser Grundlage errechne sich der Grundstückswert – ohne Berücksichtigung des Instandsetzungsbedarfs – nach der Formel ½ * (Sachwert + Ertragswert) abzüglich der Belastungen in Höhe von 12 414,61 M mit 6 818,09 M. Eine Überschuldung sei allerdings erst dann anzunehmen, wenn der Instandsetzungsbedarf das Zweifache dieses Werts, also 13 636,18 M überstiegen habe.
Der beim Eigentumsverzicht vorhandene Instandsetzungsbedarf habe diesen Betrag nicht überschritten. Ob der in der Bauzustandskartei von 1967 mit 11 300 M angegebene Instandsetzungsbedarf zugrunde gelegt werden könne, sei zweifelhaft, weil die Kartei in der Folgezeit ohne Datumsangaben ergänzt und geändert worden sei, die Änderung der Bauzustandsstufe von 2 auf 3 keine Hinweise auf einen unabweisbaren Instandsetzungsbedarf größeren Umfangs ergebe und unklar bleibe, welche Instandsetzungsmaßnahmen bis zum Eigentumsverzicht durchgeführt worden seien. Nach dem Ergebnis der Zeugenvernehmung könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein unabweisbarer Instandsetzungsaufwand von mehr als 13 300 M bestanden habe. Die Unerweislichkeit der Überschuldung gehe zu Lasten der Klägerin.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt, zu deren Begründung sie vorträgt: Das Verwaltungsgericht habe die Angaben des Sachverständigen zum Instandsetzungsbedarf verfahrensfehlerhaft für unverwertbar gehalten. Es sei nicht erkennbar, dass das Gutachten auf Angaben des Mieters beruhe, die von dessen Zeugenaussage abwichen. Bei seiner Beweislastentscheidung habe das Gericht verkannt, dass die von den zuständigen staatlichen Stellen im Jahr 1967 erstellte Bauzustandsermittlung zu einer Beweiserleichterung im Wege des Anscheinsbeweises führen müsse. In materiellrechtlicher Hinsicht sei zu klären, ob die Beleihungsgrenze anhand des Einheitswerts festgestellt werden könne, wenn der Instandsetzungsbedarf den Einheitswert abzüglich Belastungen um 7,5 % unterschreite; unklar sei auch, ob der Einheitswert in vollem Umfang oder zu 80 % als Beleihungsgrenze anzusetzen sei. Unzutreffend sei die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Beleihungsgrenze erst dann erreicht sei, wenn der Instandsetzungsbedarf den doppelten Betrag des ohne Berücksichtigung der Instandsetzungskosten errechneten Zeitwerts des Grundstücks überschreite.
Der Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil. Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin hat mit dem Ergebnis Erfolg, dass das angegriffene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen wird. Das Verwaltungsgericht hat den Begriff der Überschuldung (§ 1 Abs. 2 VermG) verkannt, indem es die Überschuldungsgrenze beim zweifachen Betrag des für Instandsetzungsmaßnahmen verfügbaren Beleihungswerts angesetzt hat (1). Die vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen ermöglichen es dem Senat nicht, in der Sache selbst zu entscheiden (2).
1. Durch § 1 Abs. 2 VermG wird die Anwendung des Vermögensgesetzes auf bebaute Grundstücke und Gebäude erstreckt, die aufgrund nicht kostendeckender Mieten und dadurch eingetretener oder unmittelbar bevorstehender Überschuldung durch Enteignung, Eigentumsverzicht, Schenkung oder Erbausschlagung in Volkseigentum übernommen wurden. Ein Grundstück oder Gebäude war überschuldet, wenn die ihm zuzuordnenden Verbindlichkeiten den um die eingetragenen Grundpfandrechte verminderten Zeitwert der Immobilie überschritten haben und wenn diese vorhandenen Schulden nicht innerhalb zumutbarer Zeit durch den zu erwartenden Mietertrag gedeckt werden konnten. Im Rahmen der Gegenüberstellung von Zeitwert und Verbindlichkeiten sind auch diejenigen Aufwendungen zu berücksichtigen, die beim Eigentumsverzicht zur Sicherung der bestimmungsgemäßen Nutzbarkeit der Immobilie unaufschiebbar notwendig gewesen wären, aber vom Eigentümer aufgrund der ökonomischen Zwangslage unterlassen wurden (Urteil vom 16. März 1995 – BVerwG 7 C 39.93 – BVerwGE 98, 87 ≪88 ff.≫; stRspr). Diese Gegenüberstellung hat das Verwaltungsgericht nicht in der vom Gesetz geforderten Weise vorgenommen.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Zeitwert im vorliegenden Fall nach den Bewertungsrichtlinien zum Entschädigungsgesetz vom 4. Mai 1960 (BewR) zu berechnen war. Da es den beim Eigentumsverzicht notwendigen Instandsetzungsaufwand nicht konkret ermittelt hat, kam eine vereinfachte Wertfeststellung auf der Grundlage des Einheitswerts nicht in Betracht (vgl. Urteil vom 16. März 1995 – BVerwG 7 C 39.93 – a.a.O. S. 98 f.). Aus diesem Grund stellen sich hier nicht die von der Revision aufgeworfenen Fragen, die Voraussetzungen der vereinfachten Wertfeststellung betreffen.
Nach Nr. IIIb BewR errechnete sich der Grundstückswert grundsätzlich aus dem Mittel von Sachwert und Ertragswert, also nach der Formel
Grundstückswert |
= |
½ * (Sachwert + Ertragswert). |
Der Grundstückswert durfte den Sachwert jedoch nicht übersteigen. Da der Sachwert durch den notwendigen Instandsetzungsbedarf verringert wird (vgl. Nr. IIIb Abs. 4 i.V.m. IIIa Abs. 6 Buchst. d BewR), mag es in bestimmten Fällen nahe liegen, die innerhalb der Beleihungsgrenze realisierbaren Instandsetzungskosten abstrakt anhand der übrigen bekannten Größen zu ermitteln; dann lässt sich die Überschuldungsfrage in vereinfachter Weise dadurch klären, dass aus dem Mittel von Rohsachwert (Sachwert ohne Berücksichtigung des Instandsetzungsbedarfs) und Ertragswert der Spielraum für Instandsetzungsmaßnahmen errechnet und mit unstreitig aufgewendeten Kosten verglichen wird. Das Verwaltungsgericht ist in dieser Weise vorgegangen. Dabei ist es jedoch dem logischen Fehler erlegen, dass es die Frage nach dem aus dem Grundstück finanzierbaren Instandsetzungsbedarf unter Vernachlässigung der übrigen Elemente der Formel der Bewertungsrichtlinien beantwortet hat.
Die aus dem Grundstück finanzierbaren Instandsetzungskosten werden durch den um die Grundpfandrechte verminderten Zeitwert bestimmt. Sind Rohsachwert, Ertragswert und valutierende Höhe der Grundpfandrechte (H) bekannt, lässt sich der Betrag der aus dem Grundstück finanzierbaren Instandsetzungskosten (x) auf der Grundlage der Bewertungsformel wie folgt errechnen:
Grundstückswert (Null) |
= |
½ * (Rohsachwert - x + Ertragswert) - H - x |
oder, anders ausgedrückt,
x |
= |
½ * (Rohsachwert - x + Ertragswert) - H. |
Wird diese Formel unter Beachtung mathematischer Grundsätze entsprechend umgestellt, ergibt sich die unbekannte Größe x nach der Formel
x |
= |
⅓ * (Rohsachwert + Ertragswert) - ⅔ * H. |
Die Ausgangsformel bringt zutreffend zum Ausdruck, dass der Instandsetzungsbedarf den Rohsachwert mindert, zugleich aber auch den Grundstückswert entsprechend herabsetzt. Da die aus dem Grundstück finanzierbaren Instandsetzungskosten durch den Grundstückswert begrenzt werden, sind Grundstückswert und Instandsetzungskosten gleichzusetzen, wenn nach der Bewertungsformel der verfügbare Betrag anhand des Rohsachwerts errechnet werden soll. Der Denkfehler des Verwaltungsgerichts besteht darin, dass es die Minderung des Rohsachwerts isoliert berücksichtigt und hieraus geschlossen hat, der die Beleihungsgrenze ausschöpfende Betrag fiktiver Instandsetzungskosten sei wegen der nur halben Berücksichtigung des Sachwerts in der Bewertungsformel zu verdoppeln. Dabei hat das Gericht die der Herabsetzung des Rohsachwerts entsprechende Minderung des Grundstückswerts vernachlässigt. Es hat damit die maßgebliche Formel der Bewertungsrichtlinien verlassen.
Die zutreffende Berechnung der im vorliegenden Fall aus dem Grundstück noch finanzierbaren Instandsetzungskosten
x |
= |
⅓ * (27.690 + 10.775,40) - ⅔ * 12.414,61 |
ergibt hiernach den Betrag von 4 545,39 M. Da das Verwaltungsgericht von einem Beleihungsspielraum von 13 636,18 M, also dem dreifachen Betrag ausgegangen ist, hat es die Klage zu Unrecht mit der Begründung abgewiesen, der beim Eigentumsverzicht möglicherweise vorhandene Instandsetzungsbedarf habe den Zeitwert des Grundstücks nicht überschritten.
2. Ob sich das angegriffene Urteil aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO), kann der Senat nicht beurteilen, weil das Verwaltungsgericht die hierzu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat.
Zwar begegnet die Feststellung des Grundstückswerts – ohne Berücksichtigung des notwendigen Instandsetzungsaufwands – keinen Bedenken. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht den Ertragswert zutreffend berechnet. Im Einklang mit Nr. III Buchst. b Abs. 5 Satz 4 BewR hat es den Reinertrag durch Abzug eines Pauschalbetrags von 75 % der Mieteinnahmen mit jährlich 538,77 M festgestellt und durch dessen Vervielfältigung mit dem Faktor 20 den kapitalisierten nachhaltigen Reinertrag mit 10 775,40 M angenommen. Dabei ist es zu Recht davon ausgegangen, dass nach den hier maßgeblichen Bewertungsrichtlinien Bau- und Unterhaltungsmängel den Ertragswert nicht verringern; soweit dem Urteil des Senats vom 30. Mai 1996 – BVerwG 7 C 47.94 – (Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 78 S. 225 ≪229≫) etwas anderes zu entnehmen ist, hält der Senat daran nicht fest.
Es fehlt aber an tatsächlichen Feststellungen zur Höhe des unabweisbaren Instandsetzungsbedarfs im Zeitpunkt des Eigentumsverzichts. Das Verwaltungsgericht konnte sich – von seinem Rechtsstandpunkt aus – auf die Feststellung beschränken, dass der möglicherweise vorhandene Instandsetzungsbedarf jedenfalls diesseits der von ihm angenommenen Beleihungsgrenze geblieben sei. Da es sich zu der Frage, welche Instandsetzungskosten tatsächlich erforderlich waren, nicht festgelegt hat, ist allerdings offen, ob notwendige Instandsetzungsmaßnahmen unmittelbar bevorstanden, deren Kosten die maßgebliche Beleihungsgrenze von 4 545,39 M überschritten. Das Sachverständigengutachten kann der Senat hierbei nicht zugrunde legen, weil das Verwaltungsgericht sich an der Übernahme der Angaben des Sachverständigen zum Instandsetzungsbedarf gehindert gesehen und die Revision hiergegen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht hat (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Die notwendigen tatsächlichen Feststellungen wird das Verwaltungsgericht in seiner erneuten Verhandlung zu treffen haben.
Daran führt auch der Hinweis der Revision auf die Einordnung des Gebäudes in die Bauzustandsstufe 3 nicht vorbei. Das Merkmal “schwerwiegende Schäden”, das nach der hier einschlägigen Anlage I zur Ordnung über die Vorbereitung und Durchführung der Ermittlung des Bauzustandes der Wohngebäude in der DDR vom 23. August 1965 (GBl DDR II S. 652) zur Einordnung in die Bauzustandsstufe 3 führte, sagt über die entsprechenden Instandsetzungskosten und vor allem über die Dringlichkeit der Instandsetzungsmaßnahmen nichts Konkretes aus. Die Einstufung des Gebäudes in die Bauzustandsstufe 3 kann deshalb allenfalls Anhaltspunkte dafür geben, dass sich die Notwendigkeit einer größeren Instandsetzung zu einem mehr oder weniger bestimmten Zeitpunkt abzeichnete. Den Anscheinsbeweis für Instandsetzungsmaßnahmen, die zur Sicherung der bestimmungsgemäßen Nutzung des Gebäudes unaufschiebbar notwendig waren, liefert eine solche Einstufung nicht, weil es an gesicherten Tatsachen fehlt, die den Schluss auf eine typischerweise unmittelbar bevorstehende Überschuldung zulassen könnten.
Unterschriften
Sailer, Gödel, Kley, Herbert, Neumann
Fundstellen