Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, bestandskräftiger Musterungsbescheid. Vorgreiflichkeit des Musterungsverfahrens. Recht auf informationelle Selbstbestimmung. kein Anspruch auf Aussetzung des Anerkennungsverfahrens. Pflicht zur Darlegung der Beweggründe für die Gewissensentscheidung
Leitsatz (amtlich)
Ein Wehrpflichtiger, der bestandskräftig gemustert worden ist, später jedoch eine Überprüfung seiner Tauglichkeit begehrt, kann nicht verlangen, daß über seinen ohne eine Darlegung der Beweggründe für seine Gewissensentscheidung gestellten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht entschieden wird, bevor das Ergebnis der Überprüfung vorliegt.
Normenkette
KDVG § 2 Abs. 2, 4 Hs. 2, Abs. 5 S. 2, Abs. 6, § 3 Abs. 2, § § 4 ff., § 6 Abs. 1 S. 2, §§ 7, § 9 ff., § 13 Abs. 3, § 18; WPflG § 16 Abs. 2, § 20b S. 2, § 21 Abs. 1, § 26; GG Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 3; VwVfG § 48
Verfahrensgang
VG Gießen (Entscheidung vom 03.02.1998; Aktenzeichen 4 E 1409/95 (5)) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 3. Februar 1998 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Der am 14. November 1975 geborene Kläger wurde am 1. Dezember 1994 bestandskräftig gemustert. Am gleichen Tage beantragte er seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Der Antrag wurde vom Kreiswehrersatzamt Ravensburg unter dem 19. Januar 1995 an das Bundesamt für den Zivildienst weitergeleitet. Die nach § 2 Abs. 2 Satz 3 Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG) erforderlichen Unterlagen (ausführlicher Lebenslauf, persönliche, ausführliche Darlegung der Beweggründe für die Gewissensentscheidung und das Führungszeugnis) waren nicht beigefügt. Das Bundesamt lehnte deshalb die Anerkennung des Klägers mit Bescheid vom 9. Mai 1995 ab. Es hob den Bescheid am 6. Juli 1995 aber wieder auf, weil der Kläger den Zugang des Aufforderungsschreibens zur Vervollständigung der Antragsunterlagen bestritten hatte, und das Bundesamt den Zugang nicht nachweisen konnte.
Unter dem 5. Mai 1995 hatte der Kläger zwischenzeitlich beim Kreiswehrersatzamt Ravensburg durch seinen Bevollmächtigten den Antrag gestellt, den Musterungsbescheid vom 1. Dezember 1994 aufzuheben, da dieser schon zum Zeitpunkt des Erlasses rechtswidrig gewesen sei. Hilfsweise beantragte er weiter, eine Überprüfungsuntersuchung durchzuführen, da sich sein gesundheitlicher Zustand seit der Musterung vom Dezember 1994 erheblich verschlechtert habe. Am gleichen Tag informierte er das Bundesamt für den Zivildienst von diesen Anträgen und ersuchte darum, die Verfahrensakten an das Kreiswehrersatzamt Ravensburg zurückzureichen, da die dort gestellten Anträge dem Kriegsdienstverweigerungsverfahren gegenüber rechtlich vorgreiflich seien. Das Bundesamt kam dem nicht nach, sondern forderte den Kläger mit Schreiben vom 5. Juli 1995 erneut unter Fristsetzung zur Vervollständigung seines Kriegsdienstverweigerungsantrages vom 1. Dezember 1994 auf. Der Kläger kam dem nicht nach. Er beharrte auf seinem Rechtsstandpunkt, obwohl das Bundesamt die Vorgreiflichkeit der beantragten Tauglichkeitsüberprüfungsuntersuchung unter Hinweis auf seine bestandskräftige Musterung des Klägers zurückwies.
Schließlich erließ das Bundesamt für den Zivildienst am 1. September 1995 einen Bescheid, mit dem der Antrag des Klägers auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer mit der Begründung abgelehnt wurde, die Antragsunterlagen seien nicht eingereicht worden. Mit seiner dagegen am 13. September 1995 beim Verwaltungsgericht Gießen erhobenen Klage, hat der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für den Zivildienst vom 1. September 1995 die Beklagte zu verurteilen, über seinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Mit Urteil vom 3. Februar 1998 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Es hat dies damit begründet, daß das Bundesamt für den Zivildienst an einer Entscheidung über den klägerischen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer weder durch den Antrag auf Rücknahme des Musterungsbescheides gemäß § 48 VwVfG noch durch den hilfsweise gestellten Antrag auf Durchführung einer Tauglichkeitsüberprüfungsuntersuchung gehindert gewesen sei. Es bestehe keine rechtliche Vorgreiflichkeit eines möglichen Verfahrens zu den beiden gestellten Anträgen. Eine solche Vorgreiflichkeit ergebe sich angesichts des bestandskräftig gewordenen Musterungsbescheids weder aus § 13 Abs. 3 KDVG, noch aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine Entscheidung auch in der Sache selbst über das Anerkennungsbegehren sei vom Kläger nicht beantragt worden. Eine solche Entscheidung habe auch deshalb nicht getroffen werden können, da der Kläger weder im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 5 KDVG erfüllt habe, wonach die Beweggründe der Kriegsdienstverweigerung schriftlich darzulegen seien.
Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 13 Abs. 3 KDVG, Art. 4 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 2 GG. Zur Begründung stützt er die von ihm angenommene Vorgreiflichkeit vor allem auf § 13 Abs. 3 KDVG. Eine an den verfassungsrechtlichen Anforderungen - Art. 4 Abs. 3 GG und am Verhältnismäßigkeitsprinzip - orientierte Auslegung der Regelung des § 13 Abs. 3 KDVG ergebe, daß der Wehrpflichtige einen Anspruch auf Aussetzung des Anerkennungsverfahrens mit der Folge habe, daß ein den Anerkennungsantrag ablehnender Bescheid rechtswidrig sei. Zwischen der Forderung nach einer Verbalisierung des Gewissens und der durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip geforderten geringstmöglichen Belastung des sich auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufenden Wehrpflichtigen folge, daß dieser seine Gewissensgründe solange nicht fixieren und darlegen müsse, wie seine Einberufung nicht in Betracht komme. Um das prozessuale, vom Verwaltungsgericht bemühte Institut des Rechtsschutzinteresses gehe es hingegen nicht. Vielmehr gehe es um die davon zu unterscheidende Frage, ob von dem Wehrpflichtigen gegen seinen Willen verlangt werden könne, seine Gewissensgründe offenzulegen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 3. Februar 1998 den Bescheid des Bundesamts für den Zivildienst vom 1. September 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Die Beklagte hat keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
1. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der auf die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Zivildienst gerichtete Anfechtungsantrag zulässig ist. Denn der Kläger kann und will nach derzeitigem Sachstand eine positive Entscheidung über seinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht erreichen. Vielmehr macht er im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO zulässig geltend, er habe einen Rechtsanspruch darauf, daß eine Sachentscheidung über diesen Antrag einstweilen zurückgestellt wird. Dementsprechend hat er für den Fall, daß eine behördliche Entscheidung noch nicht ergehen durfte, ein schützenswertes Interesse daran, daß durch Aufhebung des angefochtenen Bescheids das Verwaltungsverfahren auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer in den Stand zurückversetzt wird, in dem es sich vor dem Ergehen des Bescheids befand. Die Rechtskraft einer positiven gerichtlichen Entscheidung würde in einem solchen Fall bewirken, daß der Anerkennungsantrag nicht erneut unter denjenigen Voraussetzungen abgelehnt werden dürfte, die zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids Anlaß gegeben haben.
2. Die klagabweisende Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist im Ergebnis richtig. Die Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aussetzung der Entscheidung über seinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer durch das Bundesamt für Zivildienst, damit zuvor über seine Anträge beim Kreiswehrersatzamt entschieden werden kann. Das Bundesamt war entgegen der Auffassung der Revision befugt, den nicht mit den Unterlagen nach § 2 Abs. 2 Satz 3 KDVG vervollständigten Antrag mit Bescheid vom 1. September 1995 nach § 6 Abs. 1 Satz 2 KDVG abzulehnen. Weder dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz, insbesondere nicht dem § 13 Abs. 3 KDVG, noch der Verfassung in Gestalt des Rechts des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung oder des Art. 4 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist zu entnehmen, daß der Kläger trotz eines bestandskräftigen Musterungsbescheides seine die Kriegsdienstverweigerung tragende Gewissensgründe erst dann vorzubringen berechtigt ist, wenn die Rechtmäßigkeit seiner Musterung oder seine nunmehrige Tauglichkeit antragsgemäß (erneut) überprüft sind.
a) Der Kläger, der seinen Musterungsbescheid hat bestandskräftig werden lassen, kann sich hier nicht darauf berufen, daß das Kriegsdienstverweigerungsgesetz stets von einer Nachrangigkeit des Verfahrens auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer im Verhältnis zum Musterungsverfahren ausgeht. Denn diese Nachrangigkeit endet speziell mit der Bestandskraft des Musterungsbescheids bzw. einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides. Dies ergibt sich vornehmlich aus § 2 KDVG: Zwar soll der Anerkennungsantrag möglichst schon vierzehn Tage vor der Musterung eingereicht werden (§ 2 Abs. 4 2. Halbs. KDVG), indessen besagt § 2 Abs. 5 Satz 2 KDVG, daß über ihn erst nach Bestandskraft des Musterungsbescheids bzw. einer rechtskräftigen Entscheidung zu entscheiden ist. Denn das für die Antragsentgegennahme zuständige Kreiswehrersatzamt (§ 2 Abs. 2 Satz 1 KDVG) hat den Antrag erst nach Bestandskraft oder rechtskräftiger Entscheidung über den Musterungsbescheid den für die Kriegsdienstverweigereranerkennung zuständigen Stellen (§§ 4, 9 KDVG) zu übermitteln. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung nur eine zeitlich begrenzte Nachrangigkeit des Kriegsdienstverweigerungsverfahrens angeordnet.
Dem von der Revision demgegenüber als maßgeblich herangezogenem § 13 Abs. 3 KDVG ist nicht zu entnehmen, daß die Schnittstelle der Nachrangigkeit des Anerkennungsverfahrens, der bestandskräftige Musterungsbescheid, diese Bedeutung nicht mehr haben soll, wenn der bestandskräftig Gemusterte den Musterungsbescheid über § 48 VwVfG angreift oder wegen behaupteter gesundheitlicher Verschlechterung eine Tauglichkeitsüberprüfung mit dem Ziel der Ausmusterung beantragt. § 13 Abs. 3 KDVG bestimmt, daß es einer Entscheidung über den Antrag nicht bedarf, wenn und so lange eine Einberufung aus anderen Gründen nicht in Betracht kommt. Gegen einen unmittelbar auf § 13 Abs. 3 KDVG zu stützenden Anspruch auf Aussetzung des Anerkennungsverfahrens spricht bereits dessen Wortlaut, der nur ausdrückt, daß es unter den genannten Voraussetzungen keiner Entscheidung über den Antrag bedarf, und nicht etwa, daß keine Entscheidung ergehen darf. Hinzu kommt, daß die Vorschrift ihrer systematischen Stellung nach unmittelbar nur für das Verfahren vor den Ausschüssen gemäß den §§ 9 ff. KDVG gilt, welcher bei Anträgen von Soldaten und gedienten Wehrpflichtigen sowie von einberufenen und vorbenachrichtigten Wehrpflichtigen oder bei Weiterleitung durch das Bundesamt im Falle begründeter Zweifel (§ 7 KDVG) Anwendung findet, und entsprechend nur im Widerspruchsverfahren vor den Kammern gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KDVG gilt.
Nach Sinn und Zweck steht die Regelung außerdem in einem funktionalen Zusammenhang mit dem Beschleunigungsgebot des § 13 Abs. 1 KDVG. Das ggf. langwierige Anerkennungsverfahren soll vermieden werden, wenn sich schon aus einfachen feststellbaren Gründen ergibt, daß der Betroffene für den Wehrdienst nicht zur Verfügung steht. Demgegenüber gewährt § 13 Abs. 3 KDVG dem Antragsteller keine eigenständigen subjektiven Rechte. Die gesetzliche Regelung soll der Entlastung der für die Anerkennung zuständigen Stellen, zumindest der Ausschüsse und Kammern dienen (vgl. Fritz/Baumüller/Brunn, KDVG, 1985, § 13 Rz. 8). Daß er mittelbar den Kriegsdienstverweigerer davor schützt, ohne Not seine Gewissensgründe (eingehend) zu offenbaren (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. August 1986 – BVerwG 6 C 2.85 – BVerwGE 74, 342, 344), stellt lediglich einen Reflex dieser im wesentlichen verfahrensökonomischen Funktion dar und gewährt keinen über Art. 4 Abs. 3 GG hinausgehenden Anspruch auf Nichtoffenbarung dieser Gründe (vgl. dazu nachfolgend b, bb). Zwar hat die Behörde bei der grundsätzlich in ihrem Ermessen liegenden Verfahrensgestaltung diese Gesichtspunkte dann in ihre Erwägungen einzubeziehen, wenn die Umstände des Einzelfalls dazu Anlaß geben. Der vorliegende Fall zeichnet sich indes nicht durch Besonderheiten aus, die eine Ermessensentscheidung zugunsten des Klägers nahelegen könnten. Denn da der Antrag im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 3 KDVG unvollständig war, erübrigte sich eine eingehende Überprüfung der Gewissensgründe.
Auch entstehungsgeschichtlich geht es der Vorschrift allein um eine Entlastung der Entscheidungsgremien. Diese sollen von Entscheidungen freigehalten werden, die für den Kriegsdienstverweigerer keine aktuellen Auswirkungen haben können, da seine Einberufung zum Wehrdienst bereits aus anderen Gründen ausgeschlossen ist (vgl. die Begründung des Fraktionsentwurfs vom 24. November 1982, BTDrucks 9/2124 S. 14; Fritz/Baumüller/Brunn, KDVG, 1985, § 13 Rn. 8). Der betroffene Wehrpflichtige hat in diesen Fällen kein Recht, auf der Durchführung des Anerkennungsverfahrens zu bestehen (vgl. Brecht, Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst, 4. Aufl. 1999, § 13 Anm. 4).
b) § 13 Abs. 3 KDVG ist auch nicht, wie dies die Revision annimmt, verfassungskonform dahin gehend auszulegen, daß das Bundesamt für den Zivildienst das Anerkennungsverfahren im Interesse des Wehrpflichtigen zwingend auszusetzen habe, damit vorerst die Einwände gegen den bestandskräftigen Musterungsbescheid überprüft oder das Ergebnis der erneuten Tauglichkeitsüberprüfungsuntersuchung abgewartet würden. Die Auffassung der Revision, daß die Verfassung den Wehrpflichtigen davor schütze, seine Gewissensgründe für die Kriegsdienstverweigerung zu offenbaren, bis mit Gewißheit feststehe, daß er sich nicht auf eine Wehrdienstausnahme berufen könne, ihn also davor schütze, seine Gewissensgründe in diesem Sinne „ohne Not” zu offenbaren, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Die Verfassung gebietet weder direkt noch in verfassungskonformer Auslegung des § 13 Abs. 3 KDVG, daß der bestandskräftig Gemusterte durch Anträge, welche die Entscheidung des Musterungsverfahrens ändern sollen bzw. mit denen die eigene Tauglichkeit erneut überprüft werden soll, den Aufschub der Anerkennungsentscheidung erreichen kann, nur um sich sogar die Vorlage der gesetzlich vorgeschriebenen Antragsunterlagen zu ersparen.
Anderes ergibt sich weder aus dem Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung noch aus Art. 4 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
aa) Das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf informationelle Selbstbestimmung überläßt es nicht der Entscheidung des Kriegsdienstverweigerers, wann er – ohne seine Anerkennung zu gefährden – die für die Anerkennung erforderlichen Unterlagen beibringt. Dem Verwaltungsgericht ist hierin im Ergebnis beizupflichten.
Die Verpflichtung, dem Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer einen ausführlichen Lebenslauf, eine ausführliche Darlegung der Beweggründe für die Gewissensentscheidung sowie ein Führungszeugnis beizufügen, greift allerdings stets in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ein (vgl. BVerfGE 65, 1 ff.). Indessen sind Einschränkungen dieses Grundrechts durch den Gesetzgeber zulässig, wenn sie im überwiegenden Allgemeininteresse erfolgen und sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkung für den Bürger klar und erkennbar aus dem Gesetz ergeben und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet ist (BVerfGE 65, 1, 44; 92, 191, 197). Solche verfassungsgemäßen Einschränkungen ergeben sich hier aber bereits aus Art. 4 Abs. 3 GG selbst; sie werden ergänzt durch verschiedene Vorschriften des Kriegsdienstverweigerungs- und des Wehrpflichtgesetzes.
So setzt das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen aus Art. 4 Abs. 3 GG die Offenbarung dieser Gewissensgründe geradezu voraus (vgl. Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts. 1986, S. 280). Denn nur derjenige, dem sein Gewissen - und nicht etwa sonstige, vor allem situationsbezogene Gründe - den Kriegsdienst mit der Waffe verbietet, darf dazu wegen Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG nicht gezwungen werden (vgl. BVerfGE 48, 127, 168; 69, 1, 25; BVerwG, Urteile vom 24. Juli 1959 – BVerwG 7 C 129.59 – BVerwGE 9, 97, 99 und vom 11. Mai 1962 – BVerwG 7 C 143.60 – BVerwGE 14, 146, 149). Die Regelung des § 2 Abs. 2 KDVG stellt in Ergänzung dazu klar, daß die Beweggründe der Gewissensentscheidung schriftlich darzulegen und um die - für die Beurteilung der Beweggründe wichtigen - Unterlagen Lebenslauf und Führungszeugnis zu ergänzen sind. Zusammen mit den weiteren Regelungen, wer die zuständige Stelle ist, die diese Daten entgegenzunehmen hat (§ 2 Abs. 2 Satz 1 KDVG), wem sie wann zu welchem Zweck zu übersenden (§ 2 Abs. 5 Satz 2, §§ 4 ff., §§ 9 ff.), wie lange sie aufzubewahren und wann zu vernichten sind (§ 2 Abs. 6 KDVG, § 26 WPflG), genügen sie in ihrer Gesamtheit den durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorgegebenen Voraussetzungen einer zulässigen Beschränkung, indem sie den Betroffenen vor einer unnötigen Offenbarung seiner persönlichen Lebensumstände und der Zweckentfremdung seiner Daten nachhaltig schützen.
bb) Auch Art. 4 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewährt dem Kläger - entgegen der Auffassung der Revision - keinen Anspruch auf Aussetzung des Anerkennungsverfahrens. Dies ergibt sich aus folgendem:
Jede Regelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung hat darauf zu achten, daß die Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG nicht in ihrem sachlichen Gehalt eingeschränkt wird. Danach darf niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Dieses Grundrecht gilt unmittelbar und bedarf nicht erst der Aktualisierung durch den Gesetzgeber. Hieraus ergibt sich vor allem anderen, daß der Wehrpflichtige vor Abschluß des Anerkennungsverfahrens - trotz Fortbestands seiner Wehrdienstpflicht - davor zu schützen ist, Dienst mit der Waffe zu tun (BVerfGE 69, 1, 54 ff.). Aus der unmittelbaren Geltung des Grundrechts kann hingegen nicht gefolgert werden, daß über einen vom Kriegsdienstverweigerer gestellten Antrag auf Anerkennung erst entschieden werden dürfte, wenn dessen Einwendungen gegen einen bestandskräftigen Musterungsbescheid beschieden oder wenn wegen einer behaupteten Änderung des Gesundheitszustandes seit der Musterung eine Überprüfung seiner Tauglichkeit stattgefunden hat. Das Grundrecht unterscheidet nicht zwischen denjenigen, für die eine Wehrdienstausnahme eingreift oder eingreifen könnte und den anderen, bei denen dies nicht der Fall ist.
Die vom Kläger begehrte Rechtsfolge ist auch nicht notwendig mit der Ermächtigung des Gesetzgebers zur Regelung des Anerkennungsverfahrens verbunden. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG ermächtigt den Gesetzgeber zur Regelung des „Näheren”. Das „Nähere” ist das für die geordnete Durchführung von Satz 1 des Art. 4 Abs. 3 GG Erforderliche (vgl. Eckertz, a.a.O., S. 429). Eine Regelung, die über die Vorschrift des § 2 Abs. 5 Satz 2 KDVG hinausgehend eine Entscheidung über den ohne Darlegung der Beweggründe für die Gewissensentscheidung und der weiteren Anlagen (Lebenslauf, Führungszeugnis) gestellten Antrag auf Anerkennung – unter Beibehaltung der Wirkungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 KDVG – auch noch dann aufschiebt, wenn der Musterungsbescheid unanfechtbar ist oder über ihn rechtskräftig entschieden wurde, ist demgegenüber sachlich nicht zu rechtfertigen. Sie würde es zudem ermöglichen, den Verfahrensgang immer aufs Neue zu blockieren, und entspräche schließlich auch nicht dem typischen Interesse der Wehrpflichtigen. Denn dieser soll nicht länger als erforderlich in der Ungewißheit leben, ob er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wird; nur wenn er hierüber Gewißheit hat, kann er seine weitere Lebensplanung darauf einstellen. Dementsprechend ist das Anerkennungsverfahren auch im Interesse des Kriegsdienstverweigerers in hohem Maße durch den Grundsatz der Beschleunigung geprägt (vgl. § 13 Abs. 1 und Abs. 2, §§ 17, 18, 19 Abs. 2 KDVG - vgl. BVerfGE 69, 1, 52).
Im übrigen aber hat das Anerkennungsverfahren die Funktion, daß sich die zuständigen staatlichen Stellen davon überzeugen, ob mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, daß die Verweigerung des Wehrpflichtigen auf einer durch Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Gewissensentscheidung beruht. Insoweit hat das Anerkennungsverfahren dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu entsprechen. Dieser fordert, daß der antragstellende Wehrpflichtige nicht stärker belastet werden darf, als dies zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist. Die Mittel, die das Gesetz verwendet, müssen geeignet sein, den angestrebten Zweck zu erreichen (BVerfGE 69, 1, 35). Auch insoweit begegnet es aber keinen Bedenken, daß ab Bestandskraft des Musterungsbescheids dem Wehrpflichtigen regelmäßig zugemutet wird, das Anerkennungsverfahren, das er selbst durch einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer in Gang gesetzt hat, durch Vorlage der nach § 2 Abs. 2 Satz 3 KDVG geforderten Anlagen zu betreiben. Dies ist schon deshalb zum Schutze öffentlicher Interessen geboten, weil aus Gründen der Wehrgerechtigkeit grundsätzlich jeder Wehrpflichtige in die Personalplanung der Streitkräfte einzubeziehen ist. Abweichendes gilt für diejenigen, die als Kriegsdienstverweigerer anerkannt sind oder für die eine Wehrdienstausnahme eingreift. Zweck des Musterungsverfahrens ist es festzustellen, ob der ungediente Wehrpflichtige für den Wehrdienst zur Verfügung steht oder ob dies aufgrund einer Wehrdienstausnahme nicht der Fall ist (§ 16 Abs. 2 WPflG). Das Musterungsverfahren ist damit die entscheidende Grundlage für die Personalplanung der Bundeswehr. Spätestens ab dessen unanfechtbaren Abschluß ist dem Kriegsdienstverweigerer eine Vervollständigung seines Antrags durch Vorlage seiner persönlichen Daten und Darlegung der Beweggründe seiner Gewissensentscheidung auch zuzumuten. Denn es liegt in seiner Hand, berechtigte Einwände gegen den Musterungsbescheid so rechtzeitig vorzubringen, daß dieser nicht wirksam wird (vgl. Eckertz, a.a.O., S. 430 ff.). Soweit hierin eine Belastung des Kriegsdienstverweigerers liegt, ist dieser angesichts der damit verbundenen rechtlichen Vorteile eher gering. Denn § 3 Abs. 2 Satz 1 KDVG schützt ihn vor einer Einberufung, bis sein Antrag unanfechtbar bzw. rechtskräftig abgelehnt ist. Kommt es dem Kriegsdienstverweigerer aber in atypischer Weise allein und entscheidend darauf an, die Beweggründe für seine Gewissensentscheidung nicht eher preiszugeben, bevor nicht mit Sicherheit feststeht, daß er dem bestandskräftigen Musterungsbescheid entsprechend weiterhin wehrdienstfähig ist, so ist ihm zuzumuten, daß er das Verfahren der Rücknahme seines Antrags und der späteren Stellung eines Zweitantrags wählt. Zwar ist ein Zweitantrag mit Erschwernissen und insbesondere mit dem Verlust der Wohltat des § 3 Abs. 2 Satz 1 KDVG verbunden (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 2 letzter Teils. KDVG und Fritz/Baumüller/Brunn, a.a.O., § 3 Rn. 11 ff.). Das alles hindert aber jedenfalls - und dies ist im Hinblick auf die unmittelbare Geltung des Grundrechts nach Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG allein von Bedeutung - die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht, wenn dieser den Kriegsdienst mit der Waffe aufgrund einer Gewissensentscheidung verweigert, die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Zweitantrag fortdauert und sich verfestigt hat (Beschluß vom 8. März 1999 – BVerwG 6 B 121.98 – Nord ÖR 1999, 231).
Eine Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung des § 13 Abs. 3 KDVG zu schließen wäre, läßt diese rechtliche Situation, wie sie nach Verfassungsrecht und aufgrund des Kriegsdienstverweigerungs- und Wehrpflichtrechts besteht, nicht erkennen.
3. Darauf, ob die Anträge des Klägers nach § 48 VwVfG und auf Überprüfung seiner Tauglichkeit Erfolgsaussichten haben, kommt es hiernach nicht an. Deshalb ist es auch unerheblich, daß der Kläger seine Einwände gegen den bestandskräftigen Musterungsbescheid bislang nicht in einer Weise dargelegt hat, bei der eine Überprüfung nach § 48 VwVfG überhaupt naheliegen würde. Ebensowenig kommt es darauf an, daß der Kläger nach § 20 b Satz 2 WPflG auf Antrag ohnehin erneut ärztlich zu untersuchen wäre, nachdem er nicht innerhalb von zwei Jahren nach der Musterung einberufen worden ist.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Niehues, Albers, Eckertz-Höfer, Büge, Graulich
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 08.09.1999 durch Klebba Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen