Verfahrensgang
OVG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 02.04.2003; Aktenzeichen A 3 S 567/99) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 2. April 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Kläger begehren ihre Anerkennung als Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Hinblick auf eine ihnen in Syrien bzw. der Türkei drohende politische Verfolgung.
Die in der Provinz Hassake in Syrien geborenen Kläger – Schwester, Bruder und Frau des Bruders – sind kurdische Volkszugehörige jezidischer Religionszugehörigkeit. Sie kamen im Oktober 1998 in die Bundesrepublik Deutschland und beantragten ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor, sie seien in Syrien nicht registriert gewesen und besäßen deshalb keine Personaldokumente; als Angehörige der jezidischen Minderheit seien sie insbesondere von den Moslems schikaniert worden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – (Bundesamt) lehnte die Asylanträge ab (1.), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (2.) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (3.) nicht vorliegen, und drohte den Klägern für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Syrien an (4.).
Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt zu der Feststellung verpflichtet, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Es hat die Bescheide des Bundesamts aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Kläger staatenlos seien und ihnen als Jeziden in Syrien eine mittelbare staatliche Gruppenverfolgung drohe.
Mit seiner Berufung hat sich der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten gegen die Verpflichtung zur Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG gewandt, weil den Klägern in Syrien keine Gruppenverfolgung drohe. Die Kläger haben im Berufungsverfahren geltend gemacht, sie seien türkische Staatsangehörige; die Türkei müsse deshalb in die Prüfung nach § 51 Abs. 1 AuslG einbezogen werden.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Es könne offen bleiben, ob die Kläger Staatenlose, Syrer oder Türken seien. Die Verfolgungsgefahr im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG sei im Hinblick auf die in Aussicht genommene Abschiebung nach Syrien für dieses Land und nur für dieses Land zu prüfen. Ein rechtserheblicher Zusammenhang zwischen der Staatsangehörigkeit des Ausländers und dem Zielstaat der Abschiebung bestehe nicht. Deshalb erübrige es sich, die Verfolgungsgefahr im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG zusätzlich daraufhin zu überprüfen, ob sie von dem Staat ausgeht, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt. Für eine Ausdehnung des Verfahrens auf die Türkei oder andere Staaten bestünde auf Seiten der Kläger auch kein Rechtsschutzbedürfnis. Sollte eine Abschiebung nach Syrien scheitern, könnten die Kläger vor einer etwaigen Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat in einem weiteren Verfahren Abschiebungshindernisse hinsichtlich dieses Staates geltend machen. In Syrien hätten die Kläger aber weder eine Gruppenverfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur jezidischen Minderheit noch eine Verfolgung aus individuellen Gründen zu befürchten. Ebenso wenig lägen sonstige Abschiebungshindernisse hinsichtlich Syriens vor.
Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten in der mündlichen Verhandlung über die Revision verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Revision der Kläger ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Senat kann mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend entscheiden, ob die Kläger einen Anspruch auf asylrechtlichen Abschiebungsschutz haben. Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Entgegen der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung ist die Klage zulässig. Insbesondere fehlt den Klägern für ihr Begehren auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz wegen politischer Verfolgung in der Türkei nicht das erforderliche Rechtsschutzinteresse.
a) Rechtsgrundlage für dieses Begehren ist nunmehr nach In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Diese Bestimmung ist mit Wirkung vom 1. Januar 2005 an die Stelle des bisher einschlägigen § 51 Abs. 1 AuslG getreten (Art. 15 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz). Da das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, diese Rechtsänderung mangels besonderer Übergangsregelungen zu beachten hätte (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG), ist die neue Rechtslage auch für die Entscheidung des Revisionsgerichts maßgeblich (stRspr; vgl. Urteile vom 17. Dezember 1976 – BVerwG 7 C 69.74 – BVerwGE 52, 1 ≪3≫ und vom 12. Juli 2001 – BVerwG 3 C 14.01 – Buchholz 442.10 § 65 StVG Nr. 1 = NVwZ-RR 2002, 93).
b) Ein Rechtsschutz- bzw. Sachentscheidungsinteresse an der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG insbesondere hinsichtlich der Türkei kann den Klägern nicht bereits deshalb abgesprochen werden, weil sich die (negativen) Feststellungen zu § 51 Abs. 1 und § 53 AuslG in den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes nicht auf die Türkei beziehen und den Klägern in den Bescheiden eine Abschiebung nur nach Syrien, nicht aber in die Türkei angedroht worden ist. Der gegenteiligen, vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung (vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 1. März 2004 – A 13 S 38/03 –; a.A. OVG Hamburg, Beschluss vom 11. Oktober 2001 – 2 Bs 4/00.A – InfAuslR 2002, 268) ist nicht zu folgen. Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 8. Februar 2005 (BVerwG 1 C 29.03 – zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) im Einzelnen ausgeführt. Danach kann über den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG – anders als über Abschiebungsverbote nach 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG – grundsätzlich nur einheitlich entschieden werden, wobei sämtliche Staaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in die Prüfung einzubeziehen sind. Der von den Klägern begehrte asylrechtliche Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist gemäß den §§ 3 und 4 AsylVfG mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention verbunden und kann daher grundsätzlich nur bei einer Verfolgung durch den Staat der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – durch den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts zugesprochen werden. Nur wenn diese Staaten keinen Schutz gewähren, kommt eine Flüchtlingsanerkennung durch die Beklagte in Betracht. Das wiederum hat zur Folge, dass die Zulässigkeit des Rechtsschutzbegehrens eines Asylbewerbers nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob das Bundesamt Feststellungen zu Abschiebungsverboten hinsichtlich dieser vorrangig zur Schutzgewährung verpflichteten Staaten getroffen oder ihm die Abschiebung in diese Staaten angedroht hat. Daraus folgt, dass ein Rechtsschutzinteresse der Kläger an der begehrten Feststellung zu § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei, als deren Staatsangehörige sie sich betrachten, nicht verneint werden kann.
2. Das Berufungsgericht durfte auch einen materiellen Anspruch der Kläger auf Feststellung von asylrechtlichem Abschiebungsschutz nicht mit der von ihm angeführten Begründung verneinen. Ob die Kläger die hierfür erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, insbesondere ob sie tatsächlich türkische Staatsangehörige sind und ihnen auf dem Gebiet dieses Staates Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG drohen, lässt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beurteilen. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
3. Das Berufungsgericht wird in dem erneuten Verfahren prüfen müssen, ob die Kläger eine – und ggf. welche – Staatsangehörigkeit besitzen, und ob ihnen im Staat ihrer Staatsangehörigkeit politische Verfolgung droht. Falls das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kläger türkische Staatsangehörige sind und ihnen in der Türkei Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht, wird es weiter zu prüfen haben, ob die Kläger nicht bereits in Syrien, wo sie sich von Geburt an bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland 1998 aufgehalten haben, ausreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung gefunden haben und auch wieder finden können (vgl. zu dieser Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes im Einzelnen Urteil vom 8. Februar 2005 – BVerwG 1 C 29.03 – a.a.O.). Davon könnte allerdings nur dann ausgegangen werden, wenn Syrien auch zu einer Rücknahme der Kläger bereit ist.
Unabhängig von der Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG müsste das Berufungsgericht dann im Hinblick auf die hier streitige Abschiebungsandrohung weiter prüfen, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich Syriens bestehen.
Sollte das Berufungsgericht eine türkische Staatsangehörigkeit der Kläger verneinen, müsste es prüfen, ob ihnen in Syrien als syrischen Staatsangehörigen oder als Staatenlosen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht (vgl. aber für den Fall eines Wiedereinreiseverbots für Staatenlose aus in asylrechtlichem Sinne nichtpolitischen Gründen: Urteil vom 22. Februar 2005 – BVerwG 1 C 17.03 – zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen).
Hilfsweise hätte das Berufungsgericht gegebenenfalls zu prüfen, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich Syriens bestehen.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Dr. Mallmann, Richter, Beck, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen