Leitsatz (amtlich)
Eine nicht gerechtfertigte Überlänge des wehrdisziplinarrechtlichen Vorermittlungsverfahrens ist maßnahmemildernd zu berücksichtigen.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Süd (Urteil vom 21.11.2018; Aktenzeichen S 4 VL 18/17) |
Tenor
Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 4. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 21. November 2018 im Ausspruch über die Disziplinarmaßnahme geändert.
Der Soldat wird in den Dienstgrad eines Oberleutnants zur See herabgesetzt.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Soldaten auferlegt, der auch die ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.
Tatbestand
Rz. 1
Das disziplinarrechtliche Berufungsverfahren betrifft den Vorwurf eines fortgesetzten Trennungsgeldbetrugs.
Rz. 2
1. Der... Soldat wurde nach dem Grundwehrdienst 1996 zum Zeitsoldaten und 2004 zum Berufssoldaten ernannt. Zuletzt wurde er... zum Kapitänleutnant befördert und in die Besoldungsgruppe A 12 eingewiesen. Ab... 2013 war er Inspektionschef.... Seit 2015 gehört er... an. Er ist seit... 2019 im Status "krank zu Hause". Seine Dienstbezüge betragen monatlich 3 872,13 € netto zuzüglich Kindergeld für zwei Kinder, diejenigen seiner... Ehefrau ca. 3 200 € netto nebst Kindergeld für zwei weitere Kinder. Der Soldat zahlt monatlich etwa 2 000 € auf Immobilien- und Autokredite. Die Betreuungskosten für die vier Kinder belaufen sich auf monatlich etwa 1 500 €. Der Soldat bezeichnet seine finanzielle Situation als angespannt. Eine Zentralregisterauskunft vom 2. März 2020 und ein Disziplinarbuchauszug vom 5. März 2020 enthalten keine Eintragungen.
Rz. 3
2. In dem am 10. Februar 2016 ordnungsgemäß eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren ist der Soldat am 2. Juni 2017 beim Truppendienstgericht angeschuldigt worden, er habe in zwölf Forderungsnachweisen für die Monate Januar bis Dezember 2014 zum einen für insgesamt 50 Sonderurlaubs-, Erholungsurlaubs- oder Krankheitstage wahrheitswidrig Fahrten zwischen Wohnung und Dienststelle abgerechnet. Zum anderen habe er durch bewusst falsche Angabe einer mehr als elfstündigen Dienstzeit Verpflegungskostenzuschüsse für 82 Tage zu Unrecht in Rechnung gestellt. Aufgrund seiner fehlerhaften Angaben seien ihm für die Monate Januar bis Oktober 2014 insgesamt zumindest 972,50 € an Trennungsgeld und Verpflegungszuschuss zu viel ausgezahlt worden. Für die Monate November und Dezember 2014 sei es nicht mehr zur Überzahlung von Trennungsgeld und Verpflegungszuschuss im Gesamtbetrag von 540,35 € gekommen, weil die Abrechnungsstelle misstrauisch geworden sei; ansonsten hätte der Gesamtmindestschaden 1 512,85 € betragen (vgl. Anlage Schadensberechnung).
Rz. 4
3. Das Truppendienstgericht hat den Soldaten mit Urteil vom 21. November 2018 wegen eines Dienstvergehens "in den Dienstgrad eines Kapitänleutnants in der Besoldungsgruppe A 11 herabgesetzt". Es hat nach einer umfassenden Beweisaufnahme alle Anschuldigungen als erwiesen angesehen. Der Soldat habe als Vorgesetzter vorsätzlich gegen seine Pflicht zum treuen Dienen und seine Wahrheits- und Wohlverhaltenspflichten verstoßen. Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen sei eine Dienstgradherabsetzung. Zu seinen Gunsten seien seine tadellosen dienstlichen Leistungen und die fehlende disziplinare Vorbelastung zu berücksichtigen. Einsicht und Reue seien nicht festzustellen. Da der Soldat aber ohne das Disziplinarverfahren zum Korvettenkapitän befördert worden wäre und das Dienstvergehen vier Jahre zurückliege, könne auf eine Dienstgradherabsetzung verzichtet werden, zumal eine Herabsetzung in der Besoldungsgruppe möglich sei.
Rz. 5
4. Mit ihrer fristgerechten, auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung verfolgt die Wehrdisziplinaranwaltschaft das Ziel einer Dienstgradherabsetzung. Der Soldat habe im Tatzeitraum eine herausgehobene Stellung bekleidet, wiederholt über einen langen Zeitraum versagt und einen nicht nur geringen Schaden verursacht. Er habe weder Unrechtseinsicht noch Reue gezeigt, sondern Zeugen eines Komplotts bezichtigt. Die Verfahrensdauer habe der Soldat teilweise selbst zu verantworten. Unter anderem habe er in zwei Schlussanhörungen neuen Sachvortrag angebracht, dem durch einen Ortstermin und ein Schriftsachverständigengutachten nachgegangen worden sei.
Rz. 6
5. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält eine Herabsetzung in den Dienstgrad eines Oberleutnants zur See unter Verkürzung der Wiederbeförderungsfrist auf zwei Jahre für tat- und schuldangemessen.
Rz. 7
6. Der Soldat bestreitet das angeschuldigte Verhalten und verweist insbesondere auf seine guten dienstlichen Leistungen, seinen Werdegang und eine familiäre Belastungssituation im Tatzeitraum.
Rz. 8
7. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des Soldaten, zum truppendienstgerichtlichen Verfahren und zur Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung wird auf das Urteil des Truppendienstgerichts verwiesen. Zu den im Berufungsverfahren eingeführten Urkunden und Zeugenaussagen wird auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die zulässige Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist begründet. Der Soldat ist in den Dienstgrad eines Oberleutnants zur See herabzusetzen.
Rz. 10
1. Aufgrund der verfahrensfehlerfreien Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts steht für den Senat bindend fest, dass der Soldat die angeschuldigten Taten begangen und dadurch vorsätzlich seine Treue-, Wahrheits- und Wohlverhaltenspflichten verletzt hat. Denn bei einer - wie hier - auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Die Bindungswirkung entfällt zwar ausnahmsweise, wenn die erstinstanzliche Entscheidung an schweren Verfahrensmängeln im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 WDO leidet, was bei unzureichenden oder widersprüchlichen Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage der Fall sein kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - juris Rn. 12 m.w.N.). Das truppendienstgerichtliche Urteil enthält aber keine unklaren, lückenhaften oder widersprüchlichen Feststellungen. Es beruht auf einer nachvollziehbaren Würdigung einer umfangreichen Beweisaufnahme. Der Soldat selbst hat gegen das Urteil auch keine Berufung eingelegt.
Rz. 11
2. Bei Art und Maß der für das Dienstvergehen zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Im Einzelnen legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde:
Rz. 12
a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle und im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die betreffende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Dies ist bei vorsätzlicher Schädigung des Dienstherrn bzw. Gefährdung seines Vermögens durch einen Trennungsgeldbetrug eine Dienstgradherabsetzung (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2017 - 2 WD 5.17 - Buchholz 450.2 § 58 WDO 2002 Nr. 12 Rn. 70 m.w.N.).
Rz. 13
b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe in Ansatz gebrachten Regelmaßnahme gebieten. Dabei ist zu klären, ob es sich angesichts der be- und entlastenden Umstände um einen schweren, mittleren oder leichten Fall der schuldhaften Pflichtverletzung handelt. Liegt kein mittlerer, sondern ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist gegenüber dem Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach "oben" bzw. nach "unten" zu modifizieren. Zusätzlich sind die gesetzlichen Bemessungskriterien für die Bestimmung der konkreten Situation zu gewichten, wenn die Maßnahmeart, die den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet, dem Wehrdienstgericht hinsichtlich des Disziplinarmaßes einen Spielraum eröffnet. Eine Maßnahmemilderung kann zudem wegen einer überlangen Verfahrensdauer geboten sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 2 WD 20.18 - juris Rn. 66 m.w.N.).
Rz. 14
Nach Maßgabe dessen ist eine Herabsetzung des Soldaten in den Dienstgrad eines Oberleutnants zur See geboten.
Rz. 15
aa) Das Dienstvergehen weist im Hinblick auf seine Eigenart und Schwere einen erhöhten Schweregrad auf.
Rz. 16
Denn der Soldat hat wiederholt durch eine Vielzahl von Falschangaben über einen Zeitraum von fast einem Jahr auf das Vermögen seines Dienstherrn zugegriffen. Er hat zwischen dem 10. Februar 2014 und dem 6. Januar 2015 in monatlichen Abständen insgesamt zwölf Forderungsnachweise für die Gewährung von Trennungsgeld für jeden Monat des Jahres 2014 eingereicht, die allesamt wahrheitswidrige Angaben enthielten. Insgesamt machte er zu 50 Tagen wahrheitswidrige Angaben zu Fahrten zwischen seiner Wohnung und der Dienststelle, zu 42 dieser Tage zudem unzutreffende Angaben zur Abwesenheitsdauer von seiner Wohnung sowie zu weiteren 40 Tagen falsche Angaben zur Abwesenheitsdauer von seiner Wohnung. Außerdem enthielt ein Forderungsnachweis unzutreffende Angaben zu den Tagen des Ein- und Ausladens von Umzugsgut. Der dadurch eingetretene Vermögensschaden und die dadurch bewirkte Vermögensgefährdung waren mit insgesamt 1 512,85 € beträchtlich. Für die Monate Januar bis Oktober 2014 wurden dem Soldaten 972,50 € zu viel ausgezahlt. Für die Monate November und Dezember 2014 wären ihm weitere 540,35 € zu Unrecht ausgezahlt worden; dazu kam es nur deshalb nicht, weil das Dienstvergehen vorher aufgedeckt wurde. Der Soldat hat mit seinem Verhalten jeweils vorsätzlich zentrale soldatische Pflichten - die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG), die Wahrheitspflicht (§ 13 Abs. 1 SG) und die Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) - verletzt und zugleich eine hohe kriminelle Energie zutage gelegt; dies gilt ungeachtet dessen, dass sein Dienstherr eine strafrechtliche Verfolgung wegen Betrugs und versuchten Betrugs nicht veranlasst hat. Wer sich auf eine solche Weise fortlaufend aus Eigennutz über die finanziellen Interessen seines Dienstherrn hinwegsetzt, offenbart erhebliche Charaktermängel (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2017 - 2 WD 5.17 - Buchholz 450.2 § 58 WDO 2002 Nr. 12 Rn. 73).
Rz. 17
Erschwerend tritt hinzu, dass der Soldat im Tatzeitraum aufgrund seines Dienstgrads als Kapitänleutnant eine Vorgesetztenfunktion hatte. Denn ein Vorgesetzter soll nach § 10 SG in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben. Dies gilt im besonderen Maße für den Leiter einer Ausbildungseinheit. Wer in dieser Stellung seine Dienstpflichten verletzt, gibt ein besonders schlechtes Vorbild ab.
Rz. 18
bb) Das Dienstvergehen hatte darüber hinaus erhebliche nachteilige Auswirkungen für den Dienstherrn. Neben der beträchtlichen Schädigung bzw. Gefährdung seines Vermögens musste der Dienstherr mit entsprechendem Verwaltungsaufwand die Überzahlungen vom Soldaten zurückfordern. Zudem hat der Soldat andere Soldaten eines Komplotts bezichtigt, was zu erheblicher Unruhe geführt hat.
Rz. 19
cc) Die von finanziellem Eigennutz geprägten Beweggründe des Soldaten wirken sich ebenfalls zu seinem Nachteil aus.
Rz. 20
dd) Das Maß der Schuld des uneingeschränkt schuldfähigen Soldaten wird in erster Linie durch sein vorsätzliches Handeln geprägt. Milderungsgründe in den Umständen der Tat oder in der Person des Soldaten liegen nicht vor. Zwar war er im Tatzeitraum wegen der dienstlich bedingten Abwesenheit seiner Ehefrau einer erhöhten familiären Belastungssituation ausgesetzt. Es ist aber nicht ersichtlich, dass diese von so außergewöhnlichen Besonderheiten gekennzeichnet war, dass ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden konnte, zumal der Dienstvorgesetzte dem Soldaten in dieser Situation aus Fürsorgegründen flexiblere und reduzierte Dienstzeiten ermöglicht hat. Zudem ist kein innerer Zusammenhang zwischen der Belastungssituation und den Pflichtverletzungen erkennbar.
Rz. 21
ee) Hinsichtlich der Bemessungskriterien "Persönlichkeit" und "bisherige Führung" sind Unrechtseinsicht und Reue beim Soldaten nicht festzustellen und können daher nicht mildernd berücksichtigt werden. Dass er disziplinarisch und strafrechtlich nicht vorbelastet ist, spricht nur mit geringem Gewicht für ihn, weil er damit nur die Mindesterwartungen seines Dienstherrn pflichtgemäß erfüllt hat. Für den Soldaten sprechen - aufgrund des längeren Zurückliegens allerdings ebenfalls nur mit geringem Gewicht - die ihm 2005 und 2007 gewährten Leistungsprämien und sein Auslandseinsatz... im Jahr 1996.
Rz. 22
Dem Soldaten sind des Weiteren seine zuletzt sehr soliden dienstlichen Leistungen zugutezuhalten, die in der Sonderbeurteilung vom 21. Mai 2019 zum Ausdruck kommen. Diese weist einen Durchschnittswert der Aufgabenerfüllung von "7,14" aus. Oberstleutnant i. G. A. hat in der Berufungshauptverhandlung an dieser Beurteilung des Soldaten festgehalten. Den Milderungsgrund einer Nachbewährung vermag der Senat allerdings mangels deutlicher Leistungssteigerung bzw. Beibehaltung eines hohen Leistungsniveaus (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2019 - 2 WD 18.18 - Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 31 m.w.N.) nicht festzustellen. Denn in der letzten planmäßigen Beurteilung des Soldaten vor dem Dienstvergehen durch Oberstleutnant B. vom 18. Oktober 2013 wurde seine Aufgabenerfüllung noch mit einem Durchschnittswert von "7,4" benotet, der vom nächsthöheren Vorgesetzten auf "7,5" angehoben wurde; die Entwicklungsprognose wurde "ganz klar" mit "oberhalb der allgemeinen Laufbahnperspektive" angegeben. Oberstleutnant B. hat in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung erklärt, die Beurteilung hätte Ende 2014 - kurz vor der letzten Tathandlung - fast identisch ausgesehen. Der Soldat hat aber das Leistungsniveau, welches er noch unmittelbar vor dem Dienstvergehen hatte, nicht wieder erreicht.
Rz. 23
ff) Bei einer Abwägung aller den Soldaten be- und entlastenden Umstände ist ein Abweichen von der Regelmaßnahme einer Dienstgradherabsetzung nicht geboten. Innerhalb des insoweit nach § 62 Abs. 1 Satz 1 WDO eröffneten Spielraums, wonach bei Offizieren eine Degradierung bis zum niedrigsten Offizierdienstgrad ihrer Laufbahn zulässig ist - d.h. bei einem Kapitänleutnant um höchstens zwei Dienstgrade bis in den Dienstgrad eines Leutnants zur See - wäre angesichts der deutlich zum Nachteil des Soldaten ausfallenden Gesamtabwägung eigentlich eine Herabsetzung um zwei Dienstgrade geboten.
Rz. 24
c) Die Überlänge des Disziplinarverfahrens von mehr als einem Jahr gebietet es jedoch, das Disziplinarmaß zu verringern.
Rz. 25
aa) Bei pflichtenmahnenden Disziplinarmaßnahmen - wie einer Dienstgradherabsetzung - stellt ein gegen Art. 6 EMRK und Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßendes überlanges Disziplinarverfahren einen Milderungsgrund dar. Denn das Verfahren als solches wirkt bereits belastend und ist deshalb mit pflichtenmahnenden Nachteilen verbunden, die nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Sanktionsbedürfnis mindern (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2020 - 2 WD 2.19 - juris Rn. 39 m.w.N.). Die Verfahrensdauer bemisst sich nicht allein nach der Dauer des gerichtlichen Verfahrens. Vielmehr sind auch Zeiten eines gesetzlich vorgeschriebenen behördlichen Vorschaltverfahrens zu berücksichtigen (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Juni 1978 - 6232/73 - NJW 1979, 477 Rn. 98 und vom 16. Juli 2009 - 8453/04 - NVwZ 2010, 1015 Rn. 45; BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - juris Rn. 45). Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (vgl. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Verfahrensverzögerungen, die ein Beteiligter selbst zu verantworten hat, begründen in der Regel keine unangemessene Verfahrensdauer. Umgekehrt kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 - 2 BvR 289/10 - Vz 10/16 - juris Rn. 9 m.w.N.).
Rz. 26
bb) Danach weist zunächst das Verfahren bis zur Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens eine nicht gerechtfertigte Überlänge von etwa einem halben Jahr auf. Die Einleitungsbehörde trifft im Wehrdisziplinarrecht eine Einleitungspflicht, sobald zureichende Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens rechtfertigen. Werden dem Wehrdisziplinaranwalt Tatsachen bekannt, welche die Verhängung einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme erwarten lassen, nimmt er nach § 92 Abs. 1 Satz 2 WDO Vorermittlungen auf und führt die Entscheidung der Einleitungsbehörde herbei. Maßgeblich für die Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens ist auch bei § 92 Abs. 3 WDO, ob zureichende Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens vorliegen. Ist das der Fall, dürfen Einleitungsbehörde und Wehrdisziplinaranwaltschaft die Vorermittlungen nicht weiterführen, bis der Sachverhalt anschuldigungsreif aufgeklärt ist. Vielmehr haben sie das Verfahren bei Vorliegen (nur) eines Anfangsverdachts einzuleiten und danach die weiteren Ermittlungen der Wehrdisziplinaranwaltschaft zugunsten und zulasten des Soldaten zu veranlassen. Andernfalls würde die gesetzliche Zweiteilung zwischen Einleitung des Verfahrens und Anschuldigung ebenso umgangen wie die verfahrensmäßige Sicherung einer beschleunigten Durchführung des vorgerichtlichen Verfahrens in § 101 Abs. 1 WDO. Dabei unterliegt auch die Prüfung, ob ein hinreichender Anfangsverdacht vorliegt, dem Beschleunigungsgebot des § 17 Abs. 1 WDO (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - juris Rn. 43).
Rz. 27
Hier wurden die disziplinaren Vorermittlungen gegen den Soldaten Anfang Februar 2015 aufgenommen. Spätestens Anfang Juli 2015 lagen zureichende Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens vor. Zu diesem Zeitpunkt war der Entwurf der Einleitungsverfügung bereits gefertigt und dem Soldaten ausgehändigt worden. Nach einer dem Beschleunigungsgebot entsprechenden zügigen Durchführung der erforderlichen Anhörungen der Vertrauensperson und des Soldaten hätte das gerichtliche Disziplinarverfahren jedenfalls Mitte August 2015 eingeleitet werden können. Tatsächlich ist es erst am 10. Februar 2016 und somit um sechs Monate verspätet eingeleitet worden.
Rz. 28
Der Soldat hat in dieser Phase auch nicht die Möglichkeit gehabt, durch einen Rechtsbehelf auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken. Zwar kann nach § 95 Abs. 1 Satz 1 WDO jeder, gegen den eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme verhängt werden kann, die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens gegen sich beantragen, um sich von dem Verdacht eines Dienstvergehens zu reinigen. Die Einleitungsbehörde ist auf einen solchen Antrag hin nur verpflichtet, Vorermittlungen durchzuführen; sie entscheidet im weiteren Verlauf frei darüber, ob sie von einer Disziplinarmaßnahme absieht, eine einfache Disziplinarmaßnahme verhängt oder ein gerichtliches Disziplinarverfahren einleiten will (vgl. Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 95 Rn. 1). Eine Beschleunigung kann mit einem solchen Antrag nur verbunden sein, wenn die Einleitungsbehörde den Vorwurf nicht kennt oder noch keine Vorermittlungen aufgenommen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2007 - 1 BvR 2536/07 - BVerfGK 13, 58 Rn. 16). Sind - wie hier - bereits Vorermittlungen aufgenommen, bewirkt der Antrag nach § 95 Abs. 1 Satz 1 WDO nicht, dass die Entscheidung über die Einleitung des Disziplinarverfahrens entfällt oder binnen einer bestimmten Frist ergehen muss. Unabhängig davon, ob nach Beginn der Vorermittlungen ein Antrag des Soldaten nach § 95 Abs. 1 Satz 1 WDO ohnehin mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig gewesen wäre (vgl. Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 95 Rn. 1 m.w.N.), hätte er somit nicht zu einer Beschleunigung des Verfahrens geführt.
Rz. 29
cc) Der sich anschließende Zeitraum zwischen der Zustellung der Einleitungsverfügung an den Soldaten und dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht ist nicht in die Betrachtung der Verfahrensdauer einzubeziehen, weil der Soldat in diesem Zeitraum durch einen Antrag nach § 101 Abs. 1 WDO eine Beschleunigung des Verfahrens hätte bewirken können (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - juris Rn. 42).
Rz. 30
dd) Das sodann etwa ein Jahr und fünfeinhalb Monate lange erstinstanzliche Verfahren weist unter Berücksichtigung der nach § 198 Satz 2 GVG maßgeblichen Umstände des Einzelfalls eine nicht gerechtfertigte Überlänge von etwa vier Monaten auf. Zwar hat der Soldat die Vorwürfe bestritten, was eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich gemacht hat. Jedoch handelte es sich um der Sache nach gleichgelagerte Tatvorwürfe, deren rechtliche Beurteilung nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden war. Alle wesentlichen Unterlagen und das Schriftsachverständigengutachten lagen bei Eingang der Anschuldigungsschrift bereits vor. Daher wäre zu erwarten gewesen, dass das Urteil binnen eines guten Jahres ergeht, zumal auch die Rechtsfragen durch die Senatsrechtsprechung bereits geklärt waren (vgl. die Nachweise unter II 2a)).
Rz. 31
Besondere Gründe für die mangelnde Förderung des Verfahrens sind der Akte nicht zu entnehmen. Dies lässt darauf schließen, dass sie auf die allgemein bekannte Überlastung der Truppendienstgerichte zurückgeht. Dieser strukturelle Mangel rechtfertigt die Überlänge nicht. Allerdings hat eine durch einen Terminverlegungsantrag des Soldaten begründete und deshalb ihm zuzurechnende Verzögerung des erstinstanzlichen Verfahrens um einen guten Monat unberücksichtigt zu bleiben.
Rz. 32
ee) Das Berufungsverfahren war um rund drei Monate überlang. Bei der Berechnung der Dauer des Berufungsverfahrens ist der Zeitraum von der Einlegung der Berufungsschrift beim Truppendienstgericht (hier: 29. Januar 2019) bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts (hier: 14. Mai 2020) anzusetzen. Dies gilt unabhängig davon, wann die Berufungsakten vom Truppendienstgericht über den Bundeswehrdisziplinaranwalt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurden. Denn auch die Bearbeitungs- und Postlaufzeiten sind dem Staat zuzurechnen und unterliegen dem Beschleunigungsgebot nach § 17 Abs. 1 WDO (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - juris Rn. 43). Da die Berufung auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkt worden ist und der Senat damit keine Tatsachen- und Schuldfeststellungen hat treffen müssen, wäre ein Abschluss des Berufungsverfahrens ebenfalls binnen eines guten Jahres angezeigt gewesen.
Rz. 33
Im Hinblick auf die 13-monatige Überlänge des Verfahrens erschien es angemessen, den Soldaten um einen Dienstgrad weniger in den eines Oberleutnants zur See herabzusetzen.
Rz. 34
3. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat nach § 139 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 WDO der Soldat zu tragen. Es besteht kein Grund, die ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen aus Billigkeitsgründen gemäß § 140 Abs. 2 Satz 1 WDO dem Bund aufzuerlegen.
Fundstellen