Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidungsbefugnisse der Hauptfürsorgestelle im Zustimmungsverfahren zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung eines Arbeitnehmers, dessen Schwerbehinderteneigenschaft noch ungewiß ist. Voraussetzungen der Zustimmungsfiktion. vorsorglicher Verwaltungsakt
Leitsatz (amtlich)
1. Die Hauptfürsorgestelle ist berechtigt, bei noch ungewisser, weil zwar beantragter, aber noch nicht festgestellter Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers über Anträge des Arbeitgebers auf Zustimmung zu außerordentlichen Kündigungen zu entscheiden.
2. Derartige Entscheidungen der Hauptfürsorgestelle sind vorsorgliche Verwaltungsakte, denen der Vorbehalt immanent ist, daß das Verfahren vor dem Versorgungsamt zu einer Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers führt.
Orientierungssatz
Parallelentscheidung: BVerwG, 1988-12-15, 5 C 63/85.
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Entscheidung vom 22.07.1985; Aktenzeichen 9 B 84 A.2177) |
VG Regensburg (Entscheidung vom 24.07.1984; Aktenzeichen RO 4 K 83 A.0711) |
Tatbestand
Der klagende Landkreis bestreitet dem Beklagten das Recht, durch seine Hauptfürsorgestellen vor Feststellung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt gegenüber außerordentlichen Kündigungen Sonderkündigungsschutz nach dem Schwerbehindertengesetz zu gewähren.
Mit Rücksicht darauf, daß ein in seinem Bauhof beschäftigter Straßenarbeiter am 23. Juli 1982 beim Versorgungsamt R. einen Feststellungsantrag gemäß § 3 SchwbG gestellt hatte, beantragte der Kläger am 10. September 1982 bei der Regierung von O. als Hauptfürsorgestelle gemäß § 18 SchwbG die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen mehrfachen unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst. Die Hauptfürsorgestelle hörte die Beteiligten an; dabei erklärte der Arbeitnehmer, daß das Versorgungsamt mit Bescheid vom 9. September 1982 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 30 vom Hundert festgestellt habe; ob er dagegen Rechtsmittel einlegen werde, sei noch offen. Die Hauptfürsorgestelle versagte am 20. September 1982 die Zustimmung fernmündlich, weil die Kündigung aus einem Grund erfolgen solle, der im Zusammenhang mit der Behinderung des Arbeitnehmers stehe, und bestätigte diese Versagung durch schriftlichen Bescheid vom 22. September 1982. Über den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wurde nicht mehr entschieden, nachdem die Arbeitsvertragsparteien das Arbeitsverhältnis vertraglich mit Wirkung zum 13. Oktober 1982 aufgelöst hatten.
Die nachfolgend erhobene Klage, gerichtet auf die Feststellung, der Versagungsbescheid der Hauptfürsorgestelle sei rechtswidrig gewesen, wies das Verwaltungsgericht aus formellen Gründen ab: Der Kläger begehre die Klärung abstrakter Rechtsfragen, wofür ihm ein Rechtsschutzinteresse fehle. Im Berufungsverfahren änderte der Kläger mit Zustimmung des Beklagten sein Klagebegehren und beantragte nunmehr festzustellen, daß die Regierung von O. – Hauptfürsorgestelle – nicht berechtigt sei, vor Feststellung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertengesetz zu gewähren. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zwar mit dem geänderten Begehren zulässig, da sich der Beklagte gegenüber dem Kläger der Befugnis berühme, eine Kündigungsschutzentscheidung nach Maßgabe von § 18 SchwbG bereits vor Ergehen der beantragten Feststellungsentscheidung des Versorgungsamts erlassen zu dürfen. An der Feststellung, daß diese Befugnis des Beklagten dem Kläger gegenüber nicht bestehe, habe dieser als Arbeitgeber auch ein berechtigtes Interesse, weil er mit einer entsprechenden Kündigungsschutzentscheidung jederzeit wieder rechnen müsse. Die Klage sei jedoch nicht begründet; denn die bezüglich des Kündigungsschutzes Schwerbehinderter vor Ergehen der versorgungsamtlichen Feststellungsentscheidung vorhandene Regelungslücke sei im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dahingehend zu schließen, daß sich der Schwerbehinderte den Kündigungsschutz des Schwerbehindertengesetzes jedenfalls dann sichere, wenn er die Feststellung seiner Behinderteneigenschaft bereits beantragt habe. Nur dies werde dem Schutzzweck des Schwerbehindertenrechts gerecht. Die hiermit verbundene Belastung des Arbeitgebers sei zumutbar und von der Sozialstaatsentscheidung des Art. 20 Abs. 1 GG gedeckt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Feststellung erreichen will, daß die Hauptfürsorgestelle nicht berechtigt ist, einen Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers gemäß § 18 in Verbindung mit § 12 SchwbG zu bescheiden, bevor das Versorgungsamt die Schwerbehinderung gemäß § 3 SchwbG festgestellt hat. Er rügt, das Berufungsgericht mißverstehe die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wenn es meine, daß danach der Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertengesetz bereits mit einem entsprechenden Antrag des Arbeitnehmers gemäß § 3 SchwbG einsetze. Zwar sei zutreffend, daß sich der Schwerbehinderte den Kündigungsschutz durch einen Antrag zu sichern habe, dies allein führe jedoch nicht zu einer Eingriffsbefugnis der Hauptfürsorgestelle. Zuständig sei die Hauptfürsorgestelle für die Gewährung von Kündigungsschutz nur, wenn tatsächlich eine Schwerbehinderung im Sinne des § 1 SchwbG vorliege; wenn und soweit die Frage der Schwerbehinderung von der Hauptfürsorgestelle innerhalb der zur Verfügung stehenden Entscheidungszeit nicht beurteilt werden könne, müsse es ihr aus rechtsstaatlichen Gründen untersagt sein, eine auf Unterstellungen gründende Rechtsentscheidung zu treffen.
Der Beklagte tritt dem entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht ist der Ansicht, das angefochtene Urteil sei im Ergebnis zutreffend. Das Berufungsgericht gehe in Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsgericht davon aus, daß der Sonderkündigungsschutz bereits mit der Antragstellung nach § 3 SchwbG beginne. Die Gewährung von Sonderkündigungsschutz durch die Hauptfürsorgestelle greife auch nicht rechtswidrig in die Befugnisse des Arbeitgebers ein; denn sie träfe nur vorsorgliche Entscheidungen unter dem Vorbehalt, daß die Schwerbehinderteneigenschaft des betroffenen Arbeitnehmers tatsächlich festgestellt werde; sie würden im Falle einer negativen Entscheidung des Versorgungsamts dadurch gegenstandslos, daß ihre Wirksamkeit durch Bedingungseintritt aufgelöst werde. Auch die Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers werde durch diese Auslegung nicht beeinträchtigt; denn es stehe ihm auch im Falle einer Versagung der Zustimmung durch die Hauptfürsorgestelle frei, zu kündigen; allerdings treffe ihn dann das Risiko, im Falle der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft die Folgen der Unwirksamkeit seiner Kündigung tragen zu müssen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet, so daß sie zurückzuweisen ist (§ 144 Abs. 2 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat mit der Zurückweisung der Berufung des Klägers Bundesrecht nicht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Hauptfürsorgestelle ist berechtigt, vor Feststellung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt über Anträge des Arbeitgebers auf Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers nach § 18 in Verbindung mit § 12 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl. I S. 1649) – SchwbG – zu entscheiden.
Das Schwerbehindertengesetz knüpft den Sonderkündigungsschutz Schwerbehinderter (§§ 12, 18) allein an den objektiven Bestand der Schwerbehinderteneigenschaft, nicht aber an deren Feststellung. Dies ergibt sich daraus, daß § 12 SchwbG lediglich den Begriff des Schwerbehinderten verwendet und eine Feststellungsentscheidung nicht erwähnt. § 1 SchwbG aber definiert den Schwerbehinderten im Sinne dieses Gesetzes als Person, die körperlich, geistig oder seelisch behindert und infolge ihrer Behinderung in ihrer Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 v.H. gemindert ist. Die Schwerbehinderteneigenschaft hängt demnach nicht von einer Anerkennung durch das Versorgungsamt (§ 3 Abs. 1 SchwbG) oder durch andere Stellen (§ 3 Abs. 2 SchwbG) ab; sie entsteht vielmehr kraft Gesetzes, wenn die in § 1 SchwbG genannten tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. BVerwGE 13, 195 200 sowie Urteile vom 17. September 1981 - BVerwG 2 C 4.79 - Buchholz 232 § 32 BBG Nr. 29 S. 5 = DVBl. 1982, 582/583 und vom 21. Oktober 1987 - BVerwG 5 C 42.84 - Buchholz 436.61 § 6 SchwbG Nr. 1 = NZA 1988, 431/432). Folglich hat der versorgungsamtliche Feststellungsbescheid nach § 3 Abs. 1 SchwbG – anders als der Gleichstellungsbescheid des Arbeitsamtes nach § 2 Abs. 1 SchwbG (vgl. BVerwGE 37, 79 81) – bezüglich der Schwerbehinderteneigenschaft keine rechtsbegründende (konstitutive), sondern lediglich erklärende (deklaratorische) Wirkung (vgl. BVerwGE 13, 195 200; 72, 8 10 sowie Urteil vom 17. September 1981 a.a.O.; im übrigen Wilrodt/Neumann, Schwerbehindertengesetz, 7. Aufl. 1988, Rdnrn. 11 f. zu § 1 mit weiteren Nachweisen).
Allerdings treten – wie der Senat bereits im Zusammenhang mit der Auslegung der §§ 4, 8 SchwbG dargelegt hat (vgl. Urteil vom 21. Oktober 1987 a.a.O.) – die rechtlichen Wirkungen der Schwerbehinderteneigenschaft nicht ohne weiteres ein. Rechte aus dem Schwerbehindertengesetz werden nicht von Amts wegen gewährt; sie müssen vom Schwerbehinderten in Anspruch genommen werden. Denn der Schwerbehindertenstatus gehört zum grundrechtlich geschützten Bereich der Persönlichkeitsrechte, weshalb § 3 Abs. 1 SchwbG allein dem Behinderten die Befugnis zuerkennt, durch seinen Antrag das in § 3 SchwbG vorgesehene Feststellungsverfahren in Gang zu setzen.
Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht – in sachlicher Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Sonderkündigungsschutz nach den §§ 12, 18 SchwbG (vgl. BAG 29, 17 24 ff., 29, 334 336 ff.; 39, 59 61; 41, 281 286; 43, 148 157 sowie Urteil vom 27. Februar 1987 - 7 AZR 632/85 - NZA 1988, 429/430) – entschieden, daß der Schwerbehindertenschutz des § 47 Abs. 2 SchwbG (vorherige Anhörung des Vertrauensmannes und der Hauptfürsorgestelle) gegenüber Entlassungen aus dem Beamtenverhältnis dann nicht in Anspruch genommen werden kann, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft im Zeitpunkt der Entlassung weder festgestellt noch ein entsprechendes Feststellungsverfahren beim Versorgungsamt eingeleitet war, weil kein Grund bestehe, dem an sich Schutzbedürftigen, der den ihm zustehenden Schutz – aus welchen Gründen auch immer – nicht in Anspruch nehmen wolle, den Schutz des fürsorgenden Staates gleichsam „aufzudrängen” (Urteil vom 17. September 1981 Buchholz a.a.O. S. 7).
Diese – aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstandende (vgl. BVerfG, Beschluß vom 9. April 1987 - 1 BvR 1406/86 - NZA 1987, 563) – teleologische Reduktion der §§ 12, 18, 47 Abs. 2 SchwbG hat jedoch dann keine tragfähige Grundlage, wenn der Schwerbehinderte vor Ausspruch der Kündigung bzw. Entlassung den Antrag nach § 3 SchwbG gestellt hat; denn dann hat er zu erkennen gegeben, daß er sich auf die ihm eingeräumten Schutzrechte berufen will (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. September 1981 Buchholz a.a.O. S. 5), und aus seiner Sicht alles getan, was für die verbindliche Klarstellung seines Schwerbehindertenstatus erforderlich ist (vgl. BAG 29, 334 340; 43, 148 158). Zu Recht gewährt deshalb das Bundesarbeitsgericht den besonderen Kündigungsschutz des Schwerbehindertengesetzes auch dann, wenn im Zeitpunkt der Kündigungserklärung zwar die Feststellung gemäß § 3 SchwbG noch nicht erfolgt, aber beantragt war und die Schwerbehinderteneigenschaft nach § 1 SchwbG objektiv vorlag (Urteil vom 27. Februar 1987 a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Nichts anderes gilt, wenn – wie im vorliegenden Fall – zwar ein die Schwerbehinderteneigenschaft verneinender Feststellungsbescheid ergangen, aber noch nicht unanfechtbar war (vgl. BAG 43, 148 151 unter Hinweis auf das Urteil vom 19. April 1979 - 2 AZR 469/78 - AP Nr. 5 zu § 12 SchwbG), denn solange der behinderte Arbeitnehmer noch Widerspruch gegen den versorgungsamtlichen Bescheid einlegen kann, ist ungewiß, ob der Feststellungsantrag zum Erfolg führen wird. Daß damit das Risiko der noch ungewissen Schwerbehinderteneigenschaft (teilweise) dem Arbeitgeber aufgebürdet wird, ist – wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat – verfassungsrechtlich unbedenklich und einfachrechtlich eine unausweichliche Folge der Grundentscheidung des Schwerbehindertengesetzes, dem Feststellungsbescheid nach § 3 keine konstitutive Wirkung beizumessen (vgl. BAG 30, 141 150 f.).
Der Kläger hält dem unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entgegen, die Hauptfürsorgestelle dürfe vor Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nicht zur Sache entscheiden, weil ihre Zuständigkeit ungeklärt wäre, die nur bestehe, wenn über die Zustimmung zur Kündigung gegenüber einem Schwerbehinderten zu entscheiden sei (vgl. BAG 29, 17 24; 29, 334 338; 30, 141 149; 43, 148 157). Der Gesetzgeber halte vielmehr für Fälle der vorliegenden Art als Lösung die Zustimmungsfiktion des § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG bereit: Die Hauptfürsorgestelle sei wegen ungeklärter Zuständigkeit zur Untätigkeit verpflichtet mit der Folge, daß die Zustimmung als erteilt gilt (so wohl auch – allerdings ohne Festlegung – BAG 30, 141 149; Urteil vom 27. Mai 1983 - 7 AZR 482/81 - AP Nr. 12 zu § 12 SchwbG Bl. 73 R; ausdrücklich Etzel, Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften – KR –, 2. Aufl. 1984, Rdnr. 15 zu § 18 SchwbG).
Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Die Anwendung des § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG auf Fälle ungeklärter, weil zwar beantragter, aber noch nicht festgestellter Schwerbehinderteneigenschaft führt – in Verbindung mit der postulierten Pflicht der Hauptfürsorgestelle zur Untätigkeit – zu Ergebnissen, die mit dem Schutzzweck und der Systematik des Schwerbehindertengesetzes unvereinbar sind. Die Zustimmungsfiktion des § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG beseitigt – ebenso wie die Erteilung eines sogenannten Negativattestes (vgl. BAG 17, 1 11 ff. sowie Urteil vom 27. Mai 1983 a.a.O. Bl. 73 R) – die Kündigungssperre des § 18 Abs. 1 in Verbindung mit § 12 SchwbG und § 134 BGB und damit den Sonderkündigungsschutz des Schwerbehindertengesetzes endgültig. Beide Vorgehensweisen würden der Hauptfürsorgestelle erlauben, sich ihrer Fürsorgeaufgabe aus formalen Gründen (fehlender Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft) zu entziehen, und dem Schwerbehinderten den Schutz des § 18 SchwbG stets und endgültig versagen (so – zum Negativattest – zutreffend BAG 29, 17 25 sowie BVerwG, Urteil vom 17. September 1981 Buchholz a.a.O. S. 6). Dies ist mit dem besonderen Schutzanliegen des Schwerbehindertengesetzes nicht vereinbar.
Das Schwerbehindertengesetz hat der Feststellungsentscheidung des Versorgungsamts bezüglich des Schwerbehindertenschutzes gerade keine konstitutive Wirkung beigemessen. § 3 SchwbG läßt sich allenfalls als Ausdruck eines aus Gründen besonderer Sachkunde angeordneten kompetenziell-verfahrensrechtlichen Vorrangs des Versorgungsamts verstehen, der – von den Fällen des § 3 Abs. 2 SchwbG abgesehen – zu einer verfahrensrechtlichen Monopolisierung der Feststellungsbefugnis beim Versorgungsamt führt. Daß der Gesetzgeber aber diesem Anliegen einer möglichst sachverständigen Entscheidung über das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft den Schutz des Schwerbehinderten gegenüber außerordentlichen Kündigungen gänzlich opfern wollte, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft im Zeitpunkt der Kündigung noch nicht festgestellt war, ist nicht ersichtlich. Vielmehr ergibt sich aus § 1 SchwbG, daß der materielle Schutz des Schwerbehinderten das vorrangige Ziel des Schwerbehindertengesetzes ist, dem gegenüber den Erwägungen kompetenziell-verfahrensrechtlicher Art, die den § 3 SchwbG tragen, nur dienende Funktion zukommt. Das Schwerbehindertengesetz ist in erster Linie ein „Fürsorgegesetz”, dessen praktische Durchführung nur auf dem Boden fürsorgerischen Denkens und Fühlens fruchtbar sein kann (BVerwGE 29, 140 141). Dem entspricht es, daß die Hauptfürsorgestelle auch in Fällen beantragter, aber noch nicht festgestellter Schwerbehinderteneigenschaft den besonderen Kündigungsschutz des § 18 SchwbG zu gewähren hat.
Eine Vernachlässigung des gesetzlichen Schutzzwecks läßt sich auch nicht mit der Behauptung rechtfertigen, die schutzwürdigen Belange des Schwerbehinderten könnten auch noch ausreichend im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzprozeß berücksichtigt werden, weil dort die Schwerbehinderteneigenschaft bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit der ordentlichen Kündigung oder des wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung besonders zu berücksichtigen sei und auf diese Weise die Arbeitsgerichte weitgehend oder sogar vollständig den Schutz gewähren könnten, der dem Schwerbehinderten sonst im Zustimmungsverfahren der Hauptfürsorgestelle zuteil werde (so BAG 29, 17 28 f.; 29, 334 339 f.; 30, 141 158). Dieser Einwand läßt neben den besonderen verfahrensrechtlichen Sicherungen (§ 18 Abs. 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 2 SchwbG) die spezifische Wirkungsweise des Sonderkündigungsschutzes nach dem Schwerbehindertengesetz außer acht. Dieser führt nämlich zur Nichtigkeit der Kündigung (§§ 12, 18 Abs. 1 SchwbG in Verbindung mit § 134 BGB) und damit zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Schwerbehinderten. Einen gleichwertigen Arbeitsplatzschutz für den Schwerbehinderten vermag die Berücksichtigung der Schwerbehinderteneigenschaft im Kündigungsschutzprozeß nicht zu bewirken (vgl. KR-Etzel, Rdnr. 25 zu §§ 12 - 17 SchwbG), da ihm dort ein Weiterbeschäftigungsanspruch grundsätzlich nicht gewährt wird (vgl. BAG 29, 334 344).
Daß § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG auf Fallgestaltungen der vorliegenden Art, wenn sie mit einer Pflicht der Hauptfürsorgestelle zur Untätigkeit verbunden sein sollten, nicht anwendbar ist, folgt auch aus systematischen Gründen. § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG ist Sanktionsnorm zu § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG; er soll der dort normierten Pflicht, den Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung binnen zehn Tagen zu bescheiden, Nachdruck verleihen. Die Fiktion einer positiven Entscheidung zugunsten des antragstellenden Arbeitgebers als Sanktion behördlicher Verfahrensverzögerungen ist aber nur gerechtfertigt, wenn die Hauptfürsorgestelle entscheiden durfte, aber nicht entschieden hat. Das Gesetz würde sich mit der selbst gewählten Sachgesetzlichkeit in Widerspruch setzen, wollte es positive Entscheidungen der Behörde im Wege der Fiktion auch dort ersetzen, wo es derartige Entscheidungen in der Sache gar nicht zuläßt. Dies wäre mit dem Sanktions- wie dem Surrogatscharakter der Zustimmungsfiktion unvereinbar. § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG setzt demnach erkennbar eine Entscheidungsbefugnis der Hauptfürsorgestelle in der Sache voraus. Fehlt es hieran, greift auch die Zustimmungsfiktion nicht ein.
Aber auch die weitere vom Kläger aufgestellte Voraussetzung trifft nicht zu: Die Behörde ist bei noch ungewisser Schwerbehinderteneigenschaft nicht zur Untätigkeit verpflichtet. Dies ergibt sich aus § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG. Diese Vorschrift ist – ebenso wie §§ 626 Abs. 2 BGB und 18 Abs. 2 SchwbG – Ausdruck des das Recht der außerordentlichen Kündigung beherrschenden Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BAG 39, 59 66). Sie schützt das berechtigte Interesse des Arbeitgebers an möglichst kurzfristiger Klärung der Frage, ob die öffentlich-rechtlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung vorliegen. Mit dieser Zweckrichtung des § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG ist eine Verfahrenspflicht zur Untätigkeit ebenso unvereinbar wie eine Verpflichtung der Hauptfürsorgestelle zur Aussetzung ihres Zustimmungsverfahrens bis zum Abschluß des Feststellungsverfahrens nach § 3 SchwbG, wie sie das Bundesarbeitsgericht für das Zustimmungsverfahren zu ordentlichen Kündigungen befürwortet (vgl. BAG 30, 141 148 f.; 43, 148 157 f.), bei außerordentlichen Kündigungen aber wegen § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG für ausgeschlossen hält (vgl. BAG 30, 141 149; a.A. wohl Gröninger, Schwerbehindertengesetz, 1981, Anm. 9 d, dd S. 30 d zu § 3). Wäre nämlich die Hauptfürsorgestelle bis zum Abschluß des Feststellungsverfahrens nach § 3 SchwbG zur Untätigkeit verpflichtet, müßte – da die Zustimmungsfiktion, wie dargelegt, in diesen Fällen nicht eingreift – dem Arbeitgeber das Sachbescheidungsinteresse für einen Antrag auf Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung (§ 18 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 SchwbG) abgesprochen werden, da er etwas beantragt, was die Hauptfürsorgestelle ihm derzeit nicht gewähren kann. Der Arbeitgeber könnte demnach auf unvorhersehbare Zeit die Aufhebung der öffentlich-rechtlichen Kündigungsschranke (§§ 18, 12 SchwbG in Verbindung mit § 134 BGB) durch Zustimmung der Hauptfürsorgestelle nicht erreichen und müßte das wirtschaftliche Risiko der Unwirksamkeit einer gleichwohl ausgesprochenen Kündigung in vollem Umfang tragen. Dies verstößt gegen den Schutzzweck des § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG, den Arbeitgeber binnen zehn Tagen über die Reichweite seines Kündigungsrisikos aus öffentlich-rechtlicher Sicht zu vergewissern und ihn von diesem gegebenenfalls durch Zustimmung zu entlasten.
Unzutreffend ist schließlich auch die Ansicht des Klägers, die Hauptfürsorgestelle dürfe über Zustimmungsanträge des Arbeitgebers nur entscheiden, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers feststeht. Die Zuständigkeit der Hauptfürsorgestelle hängt nach § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG allein davon ab, daß ein Zustimmungsantrag vom Arbeitgeber gemäß § 18 Abs. 2 SchwbG gestellt worden ist, nicht aber von der Schwerbehinderteneigenschaft des zu Kündigenden. Dies hat auch seinen guten Sinn. Denn es ist nicht Aufgabe der Hauptfürsorgestelle, die Schwerbehinderteneigenschaft eines bestimmten Arbeitnehmers zu klären – dies obliegt nach § 3 Abs. 1 SchwbG grundsätzlich den Versorgungsämtern – oder auch nur als Vorfrage über sie zu entscheiden, sondern Kündigungsschutz zu gewähren (§ 28 Abs. 1 Nr. 2 SchwbG), d.h. die vom Arbeitgeber geltend gemachten Kündigungsgründe gegen die Schutzinteressen des behinderten Arbeitnehmers abzuwägen. Tragfähige Entscheidungen über die Schwerbehinderteneigenschaft zu treffen, wäre der Hauptfürsorgestelle innerhalb der vom Gesetz eingeräumten Frist auch gar nicht möglich. Wenn gleichwohl § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG die Hauptfürsorgestelle unter kurzfristigen Entscheidungszwang stellt, kann hieraus nur geschlossen werden, daß das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft weder Tatbestandsmerkmal der Zuständigkeit noch Maßstab der Entscheidung der Hauptfürsorgestelle über die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung ist. Zwar muß sich die Hauptfürsorgestelle – wie sich aus § 18 Abs. 4 SchwbG ergibt – über die Art der Behinderung vergewissern, um beurteilen zu können, ob die Kündigung aus einem Grund erfolgt ist, der mit der Behinderung in Zusammenhang steht. Von der Hauptfürsorgestelle wird aber nicht verlangt zu beurteilen, ob die Erwerbsfähigkeit des Behinderten nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 v.H. im Sinne des § 1 SchwbG gemindert ist.
Etwas anderes folgt auch nicht aus § 12 SchwbG, auf den § 18 Abs. 1 SchwbG verweist und der das Erfordernis der Zustimmung davon abhängig macht, daß die Kündigung das Arbeitsverhältnis eines Schwerbehinderten betrifft. § 12 SchwbG wendet sich nämlich gar nicht an die Hauptfürsorgestelle, sondern an den, der die Kündigung ausspricht, also an den Arbeitgeber. Diese Vorschrift stellt ein gesetzliches Wirksamkeitserfordernis für ein Handeln des Arbeitgebers auf und gebietet diesem, vor der Kündigung die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle einzuholen. Mittelbare Adressaten des § 12 SchwbG sind diejenigen staatlichen Institutionen, die die Wirksamkeit der Kündigung zu beurteilen haben, mithin die Arbeitsgerichte. § 12 SchwbG ist demnach ausschließlich Handlungsnorm für den Arbeitgeber und Beurteilungsnorm für die Arbeitsgerichte, nicht aber für die Hauptfürsorgestelle. Denn diese hat nicht über die Wirksamkeit der Kündigung zu urteilen, sondern die geltend gemachten Kündigungsgründe mit den Schutzinteressen des behinderten Arbeitnehmers abzuwägen.
Ob der Arbeitnehmer, dessen Kündigung beabsichtigt ist, Schwerbehinderter im Sinne des § 1 SchwbG ist, hat demnach allein der Arbeitgeber als Vorfrage seiner Handlungspflicht zu beurteilen. Die hiermit vor bestandskräftiger Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft durch die Versorgungsämter verbundenen Unsicherheiten fallen in die Risikosphäre des Arbeitgebers, nicht in die der Hauptfürsorgestelle. Die Hauptfürsorgestelle wird deshalb auch nicht von Amts wegen tätig, sondern nur auf Antrag des Arbeitgebers. Ist der Arbeitgeber der Ansicht, die Behinderung des Arbeitnehmers erfülle nicht die Voraussetzungen des § 1 SchwbG, mag er ohne Zustimmung der Hauptfürsorgestelle kündigen, freilich auf das Risiko hin, daß die Kündigung im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzprozeß für unwirksam erklärt wird (§ 18 Abs. 1 in Verbindung mit § 12 SchwbG und § 134 BGB). Ist ihm das Risiko eines positiven Ausgangs des Feststellungsverfahrens nach § 3 SchwbG zu groß, mag er vorsorglich das Zustimmungsverfahren einleiten – die Hauptfürsorgestelle m u ß dann gemäß § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG entscheiden. Erteilt die Hauptfürsorgestelle ihre Zustimmung, kann der Arbeitgeber in jedem Fall wirksam kündigen; das Risiko der Schwerbehinderteneigenschaft ist ihm abgenommen. Verweigert die Hauptfürsorgestelle die Zustimmung, bleibt das Risiko beim Arbeitgeber; kündigt er gleichwohl und wird später rückwirkend auf den Zeitpunkt der Kündigung die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers festgestellt, ist seine Kündigung unheilbar unwirksam.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Rechtmäßigkeit der Sachentscheidung der Hauptfürsorgestelle weder in formeller noch in materieller Hinsicht von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers abhängt, dessen Kündigung vom Arbeitgeber beabsichtigt ist. Die Hauptfürsorgestelle entscheidet auch nicht unter der auflösenden Bedingung, daß das Feststellungsverfahren zum Nachteil des behinderten Arbeitnehmers ausgeht. Die Sachentscheidungen der Hauptfürsorgestelle stellen sich vielmehr als vorsorgliche Verwaltungsakte dar, die der Arbeitgeber – als Ausgleich dafür, daß das Gesetz ihm im Interesse des Schutzes potentieller Schwerbehinderter das Aufklärungsrisiko über das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft zuweist – wegen der Eilbedürftigkeit der beabsichtigten Kündigung bereits in einem Zeitpunkt beanspruchen darf, in dem noch Ungewißheit darüber besteht, ob das öffentlich-rechtliche Kündigungshindernis des § 18 Abs. 1 in Verbindung mit § 12 SchwbG überhaupt besteht. Dem vorsorglichen, für den Fall des positiven Ausgangs des versorgungsamtlichen Feststellungsverfahrens beantragten Verwaltungsakt ist der Vorbehalt immanent, daß ihm rechtliche Bedeutung nur zukommt, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft später tatsächlich festgestellt wird. Auf diesen Vorbehalt kann der Bescheid aus Gründen der Rechtsklarheit ausdrücklich hinweisen, muß es aber nicht, da sich der Vorbehalt für alle Beteiligten hinreichend erkennbar aus der zur Entscheidung gestellten Fallgestaltung von selbst ergibt. Das Gesetz stellt demnach den Grundgedanken der Verfahrenswirtschaftlichkeit (vgl. § 9 Satz 2 SGB X), Entscheidungen erst und nur zu treffen, wenn sie sich als notwendig erweisen, hinter die berechtigten Interessen des Arbeitgebers zurück und nimmt in Kauf, daß sich die Sachentscheidungen der Hauptfürsorgestelle später als gegenstandslos herausstellen, weil ein Zustimmungserfordernis in Wahrheit gar nicht bestanden hat (vgl. auch Meisel, Anmerkung zu AP Nrn. 3 und 4 zu § 12 SchwbG; Thieler, Das Schwerbehindertengesetz, 1987, Rdnr. 5 zu § 18; Jung/Cramer, Schwerbehindertengesetz, 3. Aufl. 1987, Rdnr. 12 b zu § 15). Ein solcher „substratloser” Verwaltungsakt mag von der Verwaltungsbehörde aufgehoben werden, erforderlich ist dies freilich keineswegs, da hiermit, nachdem durch den Abschluß des Feststellungsverfahrens nach § 3 Abs. 1 SchwbG die mangelnde Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers und damit das Nichteingreifen der öffentlich-rechtlichen Kündigungssperre feststeht, ein zusätzlicher Klarstellungsgewinn nicht verbunden wäre.
Im Ergebnis hat nach alledem der Verwaltungsgerichtshof zu Recht die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 60571 |
Buchholz 436.61 § 18 SchwbG, Nr 2 (LT) |
BVerwGE 81, 84-94 (LT) |
BVerwGE, 84 |
NVwZ 1989, 1172 (LT) |
NZA 1989, 554-554 (LT) |
RzK IV 8c, Nr 17 (LT) |
ZTR 1989, 409-409 (S1) |
DÖV 1989, 819-821 (LT) |
DVBl 1989, 574 (L) |
EzA § 15 SchwbG 1986, Nr 6 (LT) |
EzA § 21 SchwbG, Nr 6 (L) |
EzBAT § 54 BAT Schwerbehinderte, Nr 9 (LT) |
FEVS 38, 309-319 (LT) |
JA 1990, 27-29 (ST) |
JZ 1989, 843 |
JZ 1989, 843-846 (ST) |
VR 1989, 317 (K) |
ZfSH/SGB 1989, 586-590 (LT) |
ZfS 1989, 240-244 (LT1-2) |