Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Disziplinarmaßnahmeverbot wegen Zeitablaufs während einer mangelbehafteten Disziplinarklage
Leitsatz (amtlich)
1. Im gerichtlichen Disziplinarverfahren nach Maßgabe des Sächsischen Disziplinargesetzes können Unrichtigkeiten des Protokolls über die mündliche Verhandlung hinsichtlich der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils entsprechend § 164 Abs. 1 ZPO jederzeit berichtigt werden.
2. Die Bestimmung des § 17 Satz 2 StGB ist auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme nicht anwendbar (Aufgabe von BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2006 - 2 C 11.05 - ZBR 2006, 385 ≪387≫).
3. Bei einer mit einem Mangel behafteten Disziplinarklageschrift ist das gerichtliche Disziplinarverfahren ebenso zu eröffnen wie bei einer ordnungsgemäßen Klage. Das rechtliche Hindernis ist gemäß § 56 SächsDG im Rahmen des gerichtlichen Disziplinarklageverfahrens zu beheben. Damit kann auch in einem solchen Fall das Maßnahmeverbot wegen Zeitablaufs während des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht eintreten (§ 15 Abs. 5 Satz 1 SächsDG).
Verfahrensgang
Sächsisches OVG (Urteil vom 30.04.2021; Aktenzeichen 12 A 184/18.D) |
VG Dresden (Urteil vom 05.12.2017; Aktenzeichen 10 K 1008/15) |
Tenor
Die Urteile des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. April 2021 und des Verwaltungsgerichts Dresden vom 5. Dezember 2017 werden aufgehoben.
Das monatliche Ruhegehalt des Beklagten wird um ein Fünftel für die Dauer von drei Jahren vermindert.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen.
Tatbestand
Rz. 1
Gegenstand des Disziplinarverfahrens ist das ungenehmigte Fernbleiben des beklagten Beamten vom Dienst.
Rz. 2
Der 1958 geborene Beklagte stand bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zum 1. Oktober 2019 als Polizeihauptkommissar (Besoldungsgruppe A 12) im Dienst des klagenden Freistaats. Der Beklagte, gelernter Baufacharbeiter, trat 1981 in den Dienst der Volkspolizei ein. Im Juli 1992 wurde er in den Polizeivollzugsdienst des Klägers übernommen und schließlich im November 2006 zum Polizeihauptkommissar befördert. Der Beklagte wurde wegen häufiger Fehlzeiten im November 2011 von der mit seinem Statusamt verbundenen Führungsfunktion im Polizeivollzugsdienst entbunden. Zuletzt wurde er als Sachbearbeiter im Ermittlungsdienst und in der Anzeigenaufnahme verwendet.
Rz. 3
Fehlzeiten wies der Beklagte bereits seit dem Jahr 2007 auf; dabei wurde bei ihm mehrfach Atemalkoholgeruch festgestellt. Die zahlreichen polizeiärztlichen Untersuchungen des Beklagten seit Sommer 2008 ergaben jedoch keinen Anhalt für Alkoholmissbrauch oder gesundheitliche Einschränkungen für den Polizeivollzugsdienst.
Rz. 4
Der Präsident der Polizeidirektion ordnete mit Verfügung vom 15. Juni 2011 mit sofortiger Wirkung und bis auf Weiteres gegenüber dem Beklagten an, jede Dienstunfähigkeit ab dem ersten Krankheitstag nur noch durch polizeiärztliches Attest nachzuweisen. Es wurde ausdrücklich festgehalten, dass dem Beklagten die Möglichkeit der Krankmeldung bis zur Dauer von drei Tagen ohne Krankmeldung verwehrt sei und die Vorlage von privatärztlichen Attesten zum Nachweis der Dienstunfähigkeit nicht mehr akzeptiert werde. Die Verfügung schloss mit dem Hinweis, dass die Vorlage lediglich privatärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder Krankmeldungen ohne Bescheinigung den Verdacht des unerlaubten Fernbleibens vom Dienst begründe.
Rz. 5
Mit Bescheid vom 11. Januar 2012 wurde der Verlust der Dienstbezüge des Beklagten aufgrund ungenehmigten schuldhaften Fernbleibens vom Dienst an 35 Tagen in der Zeit vom 13. September 2011 bis 18. November 2011 festgestellt. Der Beklagte zahlte den Betrag von ca. 4 800 € netto zurück.
Rz. 6
Bereits am 7. Februar 2011 war gegen den Beklagten ein erstes Disziplinarverfahren wegen unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst eingeleitet worden, welches mehrfach ausgedehnt wurde. In den Mitteilungen über die Ausdehnung des Disziplinarverfahrens war jeweils der Inhalt der Verfügung vom 15. Juni 2011 wiedergegeben und der Vorwurf erhoben worden, dass der Beklagte hiergegen verstoße. Daneben führten die Vorgesetzten mit dem Beklagten mehrfach Gespräche zur Einhaltung der Dienstzeit. Dabei wurde auch seine Verpflichtung angesprochen, eine Dienstunfähigkeit ab dem ersten Krankheitstag durch polizeiärztliches Attest nachzuweisen. Mit einem Anhörungsschreiben zu einer weiteren Feststellung des Verlusts von Dienstbezügen vom 18. November 2013 wurde dem Beklagten mitgeteilt, dass die privatärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die Zeit vom 18. September 2013 bis 4. Oktober 2013 letztmalig anerkannt würden und er sich ab sofort wieder an die Weisung vom 15. Juni 2011 zu halten habe.
Rz. 7
Mit Disziplinarverfügung vom 7. März 2014 (ausgehändigt am 10. März 2014) kürzte der Kläger dem Beklagten die Dienstbezüge wegen aufsummierter unentschuldigter Fehlzeiten von mehr als 55 Arbeitstagen in den Jahren 2011 bis 2013 um ein Fünftel für 30 Monate. Auch in der Disziplinarverfügung verwies der Kläger auf das Schreiben vom 15. Juni 2011.
Rz. 8
Auch im Anschluss an die Aushändigung der Disziplinarverfügung blieb der Beklagte dem Dienst ohne Vorlage von polizeiärztlichen Bescheinigungen seiner Dienstunfähigkeit fern. Er legte zwar privatärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, dies aber auch nicht in jedem Fall innerhalb der hierfür im Gesetz vorgegebenen Frist. Am 4. August 2014 verbot der Kläger dem Beklagten die Führung der Dienstgeschäfte; das Disziplinarverfahren leitete der Kläger mit Verfügung vom 19. August 2014 ein.
Rz. 9
Am 16. Juni 2015 ging beim Verwaltungsgericht Dresden eine Disziplinarklageschrift vom 11. Juni 2015 mit dem Briefkopf der Polizeidirektion ein, die vom damaligen Polizeipräsidenten nicht handschriftlich unterzeichnet war, sondern nur mit dessen Namen in Maschinenschrift abschloss. Darin wurde dem Beklagten mit dem Ziel der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis vorgeworfen, im Zeitraum vom 11. März bis zum 1. August 2014 an insgesamt 34 Tagen vollständig und an weiteren fünf Tagen für mehrere Stunden dem Dienst unerlaubt ferngeblieben zu sein.
Rz. 10
Nachdem der Vorsitzende der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts in einer einfachen gerichtlichen Verfügung auf die fehlende Unterschrift unter der Klage hingewiesen hatte, legte die Polizeidirektion dem Verwaltungsgericht am 20. September 2017 das Original der behördlichen Verfügung vor, die der Disziplinarklage vom Juni 2015 zugrunde lag. In der Verfügung war die Disziplinarklageschrift vom damals als Leiter der Polizeidirektion amtierenden Polizeipräsidenten mit vollem Namenszug handschriftlich unterzeichnet. Die Verfügung enthielt wortgleich die Klageschrift, die bereits am 16. Juni 2015 beim Verwaltungsgericht eingegangen war.
Rz. 11
Das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 5. Dezember 2017 endete zunächst mit dem Beschluss, dass die Entscheidung nach der Beratung verkündet wird, und der Angabe "Ende: 10.50 Uhr", ohne die Urteilsverkündung weiter zu erwähnen. In der Gerichtsakte ist nach diesem Protokoll der schriftlich abgefasste und von sämtlichen Richtern unterzeichnete Tenor mit dem durch Paraphe des Vorsitzenden unterzeichneten Vermerk "Verkündet 11.13" eingeheftet. Während des ersten Berufungsverfahrens wurde das Protokoll nach Anhörung der Beteiligten vom Vorsitzenden der Disziplinarkammer am 22. August 2018 um den Satz ergänzt: "Nach nichtöffentlicher Beratung und Wiederaufruf der Sache wird in Abwesenheit der Beteiligten um 11.13 Uhr die Urteilsformel, die der Niederschrift als Anlage beiliegt, durch Verlesung durch den Vorsitzenden verkündet." Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt.
Rz. 12
Mit seinem ersten Berufungsurteil hat das Oberverwaltungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Disziplinarklage abgewiesen. Die beim Verwaltungsgericht eingereichte Disziplinarklage des Klägers sei nicht unterschrieben gewesen und dieser Mangel könne im Berufsverfahren nicht mehr beseitigt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses erste Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen (BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 2 C 21.19 - BVerwGE 168, 74).
Rz. 13
Auch im zweiten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts abgeändert und die Disziplinarklage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Das Berufungsgericht sei aufgrund der erst am 22. August 2018 erfolgten Protokollierung der Verkündung des Urteils des Verwaltungsgerichts nicht gehindert, auf die Berufung des Beklagten eine eigene Sachentscheidung zu treffen. Es könne offengelassen werden, ob die Protokollberichtigung außerhalb des Zeitrahmens von fünf Monaten rechtmäßig sei. Denn eine rechtswidrige nachträgliche Protokollierung der Verkündung hätte jedenfalls nicht zur Folge, dass die Sache zwingend an die Disziplinarkammer zurückzugegeben sei. Die Berufung des Beklagten habe Erfolg, weil das Dienstvergehen eine Aberkennung des Ruhegehaltes nicht rechtfertige und die Kürzung des Ruhegehaltes wegen Zeitablaufs ausgeschlossen sei. Die vom Kläger beim Verwaltungsgericht am 16. Juni 2015 eingereichte Disziplinarklage habe wegen des Formmangels die Unterbrechung der Frist nicht bewirken können. Die spätere Beseitigung des Mangels der Schriftform der Disziplinarklage wirke nur ex nunc und habe das durch Zeitablauf eingetretene Disziplinarmaßnahmeverbot nicht mehr ungeschehen machen können.
Rz. 14
Hiergegen richtet sich die bereits vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er beantragt,
das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. April 2021 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 5. Dezember 2017 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass dem Beklagten das Ruhegehalt aberkannt wird.
Rz. 15
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Rz. 16
Die Revision des Klägers ist zulässig (1.) und auch begründet (2.). Angemessene Disziplinarmaßnahme zur Ahndung des innerdienstlichen Dienstvergehens des ungenehmigten Fernbleibens vom Dienst des Beklagten ist die Verminderung des Ruhegehaltes um ein Fünftel für die Dauer von drei Jahren. Die vorinstanzlichen Urteile sind dementsprechend aufzuheben.
Rz. 17
1. Die Revision des Klägers ist zulässig.
Rz. 18
a) Allerdings kann die vom Oberverwaltungsgericht im - zweiten - Berufungsurteil als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, ob das Berufungsgericht im "verwaltungsgerichtlichen Verfahren" in der Sache selbst entscheiden kann, wenn die Verkündung des erstinstanzlichen Urteils erst nach Ablauf von fünf Monaten protokolliert worden ist, im Revisionsverfahren nicht geklärt werden, weil sie sich nicht stellt. Denn die Statthaftigkeit, Form und Frist der Berufung richtet sich nach § 65 Sächsisches Disziplinargesetz vom 10. April 2007 (SächsGVBl. S. 54 - SächsDG), nicht nach den - allgemeinen - Vorschriften des "verwaltungsgerichtlichen Verfahren(s)" gemäß den §§ 124 ff. VwGO i.V.m. § 3 SächsDG. Das Bundesverwaltungsgericht ist aber an die Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht gebunden (§ 70 SächsDG und § 132 Abs. 3 VwGO).
Rz. 19
b) Entgegen dem Vorbringen des Beklagten genügt die Revisionsbegründung des Klägers den Vorgaben der § 70 SächsDG und § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO.
Rz. 20
Sie macht deutlich, dass der Kläger die Aufhebung des Berufungsurteils vom 30. April 2021 und die Aufrechterhaltung des Urteils des Verwaltungsgerichts anstrebt. Als verletzte Rechtsnorm benennt der Kläger in der Revisionsbegründung die für die Bemessungsentscheidung maßgebliche Vorschrift des § 13 Abs. 2 SächsDG. Nach Einschätzung des Klägers hat der Beklagte entgegen der Annahme des Berufungsgerichts durch sein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren. Unerheblich ist ferner, dass die Revisionsbegründung nicht auf die Frage eingeht, die das Berufungsgericht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache veranlasst hat. Das Bundesverwaltungsgericht ist nach § 70 SächsDG und § 137 Abs. 3 Satz 2 VwGO nicht an die geltend gemachten Revisionsgründe gebunden. Vielmehr hat es das Berufungsurteil in vollem Umfang nachzuprüfen; der Revisionskläger ist dementsprechend ebenfalls nicht auf die Gründe beschränkt, aus denen die Revision zugelassen worden ist (BVerwG, Beschluss vom 14. August 1962 - 5 B 83.61 - BVerwGE 14, 342 ≪344≫; Urteile vom 25. Oktober 1989 - 6 C 6.88 - BVerwGE 84, 53 ≪58≫ und vom 25. Januar 2021 - 9 C 1.19 - BVerwGE 171, 194 Rn. 18).
Rz. 21
2. Die Revision des Klägers ist auch begründet. Das Berufungsurteil verletzt §§ 13 und 15 SächsDG. Das Disziplinargesetz des klagenden Freistaats ist revisibles Recht. Unter "Landesrecht" i.S.v. § 127 Nr. 2 BRRG i.V.m. § 63 Abs. 3 Satz 2 BeamtStG sind die spezifisch beamtenrechtlichen Vorschriften des Landesrechts zu verstehen. Dazu zählen auch die Vorschriften des jeweiligen Landesdisziplinarrechts (BVerwG, Urteile vom 14. Dezember 2017 - 2 C 12.17 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 53 Rn. 10 und vom 23. April 2020 - 2 C 21.19 - BVerwGE 168, 74 Rn. 13; a.A. Gansen, Disziplinarrecht in Bund und Ländern, Band 2, Stand Juli 2021, § 69 BDG Rn. 28).
Rz. 22
Da das Urteil des Verwaltungsgerichts unter Berücksichtigung des Nachtrags vom 22. August 2018 ordnungsgemäß verkündet worden ist, stellt es kein bloßes Nicht- oder Scheinurteil dar, das vom Oberverwaltungsgericht auf die Berufung des Beklagten zur Klarstellung hätte aufgehoben werden müssen. Vielmehr konnte das Oberverwaltungsgericht über die Berufung des Beklagten in der Sache entscheiden und eine eigenständige Bemessungsentscheidung treffen (a). Ausgehend von der rechtmäßigen und auch im entscheidungserheblichen Zeitraum wirksamen Anordnung vom 15. Juni 2011 blieb der Beklagte im Zeitraum vom 11. März bis 1. August 2014 dem Dienst an 34 Tagen vollständig und an fünf weiteren Tagen stundenweise dem Dienst ungenehmigt fern (b). Dieses innerdienstliche Dienstvergehen beging der Beklagte vorsätzlich (c). Zum Tatzeitpunkt war dem Beklagten auch jeweils bewusst, pflichtwidrig zu handeln. Der Irrtum des Beklagten hinsichtlich der Aufhebung der Anordnung vom 15. Juni 2011 ist für das Unrechtsbewusstsein unerheblich, weil er vermeidbar war (d). Durch das festgestellte Verhalten beging der Beklagte ein innerdienstliches Dienstvergehen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG) (e). Dieses ist unter Würdigung aller be- und entlastenden Umstände mit einer Verminderung seines monatlichen Ruhegehaltes um ein Fünftel für die Dauer von drei Jahren zu ahnden (f).
Rz. 23
a) Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist ordnungsgemäß verkündet worden und damit wirksam. Das Oberverwaltungsgericht hatte über die Berufung des Beklagten in der Sache zu entscheiden.
Rz. 24
Hat ein Gericht beschlossen, sein Urteil zu verkünden, dies aber nicht getan, handelt es sich bei dem den Beteiligten vom Gericht dennoch zugestellten Schriftstück lediglich um einen Urteilsentwurf. Gegen ein solches Scheinurteil kann zwar Berufung eingelegt werden; das Berufungsgericht kann aber nur die Nichtexistenz eines erstinstanzlichen Urteils durch die Aufhebung der den Beteiligten zugegangenen Entscheidung klarstellen und die Sache an das erstinstanzliche Gericht zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens zurückverweisen (BGH, Beschluss vom 3. November 1994 - LwZB 5/94 - NJW 1995, 404 m.w.N.). Eine solche Fallkonstellation liegt hier in Bezug auf das erstinstanzliche Urteil vom 5. Dezember 2017 jedoch nicht vor, weil dieses unter Berücksichtigung der Berichtigung des Protokolls durch den Nachtrag vom 22. August 2018 ordnungsgemäß verkündet worden ist.
Rz. 25
Das Verwaltungsgericht hat entsprechend § 61 Abs. 1 Satz 1 SächsDG über die Disziplinarklage aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil entschieden. Dieses ist zu verkünden (§ 3 SächsDG und § 116 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dabei muss das Gericht die Urteilsformel entweder verlesen oder auf sie Bezug nehmen (§ 3 SächsDG, § 173 Satz 1 VwGO und § 311 Abs. 2 ZPO). Wie der Akte des erstinstanzlichen Verfahrens zu entnehmen ist, lag nach dem Ende der Beratung der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts eine von sämtlichen Richtern unterschriebene Urteilsformel vor. Allerdings fehlt im ursprünglichen Protokoll der erstinstanzlichen Verhandlung die Feststellung der Verkündung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts durch öffentliches Verlesen der Urteilsformel oder die Bezugnahme auf sie. Diese Unrichtigkeit des Protokolls ist durch den Nachtrag vom 22. August 2018 gemäß § 3 SächsDG, § 105 VwGO und § 164 ZPO berichtigt worden. Die Vorgaben des § 164 Abs. 2 und 3 ZPO hat das Verwaltungsgericht bei diesem Nachtrag beachtet.
Rz. 26
Unerheblich ist, dass zwischen der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 5. Dezember 2017 und dem Nachtrag vom 22. August 2018 mehr als acht Monate liegen. Denn § 164 Abs. 1 ZPO sieht vor, dass Unrichtigkeiten des Protokolls jederzeit berichtigt werden können. Zwar geht die zivilgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass innerhalb der Frist von fünf Monaten nach Verkündung des Urteils ein beweiskräftiges Protokoll über die Verkündung des Urteils auf der Grundlage der schriftlich fixierten Urteilsformel erstellt sein muss (BGH, Urteil vom 13. April 2011 - XII ZR 131/09 - NJW 2011, 1741 Rn. 20 f. und Beschluss vom 13. März 2012 - VIII ZB 104.11 - AnwBl 2012, 558 Rn. 12). Grund hierfür ist die Vorschrift des § 517 ZPO (vgl. auch § 548 ZPO für die Revision), wonach die einmonatige Berufungsfrist als Notfrist mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung beginnt. Da nach § 165 Satz 1 ZPO allein durch das Protokoll bewiesen werden kann, dass und mit welchem Inhalt ein Urteil verkündet worden ist, muss, falls das Urteil erst nach Ablauf der Frist von fünf Monaten zugestellt worden ist, über den Zeitpunkt der Verkündung vor Ablauf dieser Frist aus den Akten Gewissheit zu erlangen sein. Diese Überlegungen gelten jedoch nicht für die Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil nach Maßgabe des § 65 SächsDG. Denn nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SächsDG ist für den Beginn der einmonatigen Berufungsfrist nicht die Verkündung, sondern ausschließlich die Zustellung des vollständigen Urteils maßgebend.
Rz. 27
b) Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Beklagte im Zeitraum vom 11. März bis 1. August 2014 dem Dienst an 34 Tagen vollständig und an fünf weiteren Tagen für mehrere Stunden ungenehmigt ferngeblieben. Für keinen dieser Tage hat der Beklagte, wie ihm in der rechtmäßigen (aa) und auch ab 11. März 2014 weiter wirksamen (bb) Anordnung vom 15. Juni 2011 vorgegeben, eine polizeiärztliche Bescheinigung vorgelegt, dass er wegen einer Krankheit unfähig ist, seine Dienstpflichten zu erfüllen. Damit kann der Beklagte im Zeitraum vom 11. März bis Anfang August 2014 nicht geltend machen, er habe die ihm obliegende Dienstleistungspflicht deshalb nicht verletzt, weil er infolge einer Erkrankung von ihr jeweils befreit gewesen sei.
Rz. 28
Soweit der Beklagte geltend macht, die Anordnung vom 15. Juni 2011 habe im Zeitraum ab dem 11. März 2014 nicht mehr gegolten und er habe für die Fehltage privatärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eingereicht, ist darauf zu verweisen, dass er diese Bescheinigungen für die Zeiträume vom 22. April bis zum 19. Mai und vom 10. bis zum 18. Juli 2014 erst lange nach Ablauf der gesetzlichen Frist - Vorlage spätestens an dem auf den dritten Krankheitstag folgenden allgemeinen Arbeitstag - vorgelegt hat.
Rz. 29
aa) Solange ein Beamter dienstunfähig erkrankt ist, ist er von der Dienstleistungspflicht befreit, weil er sie nicht erfüllen kann (BVerwG, Urteile vom 12. Oktober 2006 - 1 D 2.05 - Rn. 32 m.w.N. und vom 12. November 2020 - 2 C 6.19 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 81 Rn. 17). Die im Juni 2011 maßgebliche Regelung des § 92 Abs. 2 Sächsisches Beamtengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Mai 2009 (SächsGVBl. S. 194) schreibt vor, dass Dienstunfähigkeit infolge Krankheit auf Verlangen nachzuweisen ist und der Dienstvorgesetzte die Untersuchung durch einen Amtsarzt oder einen beamteten Arzt anordnen kann. Von dieser Ermächtigung hat der Kläger durch die Anordnung vom 15. Juni 2011 rechtmäßig Gebrauch gemacht und damit die Rechts- und Pflichtenstellung des Beklagten entscheidend zu dessen Lasten "verschärft".
Rz. 30
Die Richtigkeit der vom Beklagten vorgelegten Bescheinigungen seiner behandelnden Privatärzte, die dem Beklagten die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bescheinigten, erschien angesichts der Ergebnisse der zahlreichen polizeiärztlichen Untersuchungen des Beklagten zweifelhaft. Denn die insgesamt acht polizeiärztlichen Untersuchungen im Zeitraum vom Juni 2008 bis Mai 2011 hatten beim Beklagten keine gesundheitlichen Einschränkungen für den Polizeivollzugsdienst festgestellt. In einer solchen Konstellation muss sich der Dienstherr nicht die bloßen privatärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen entgegenhalten lassen, sondern kann, gestützt auf die genannte gesetzliche Grundlage, die Bedingungen näher konkretisieren, unter denen der Beamte von der Dienstleistungspflicht infolge einer Erkrankung befreit ist (BVerwG, Urteil vom 12. November 2020 - 2 C 6.19 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 81 Rn. 28).
Rz. 31
bb) Die Anordnung vom 15. Juni 2011 war auch in dem hier relevanten Zeitraum ab dem 11. März 2014 unverändert wirksam. Sie stand weder unter der auflösenden Bedingung des Abschlusses des ersten Disziplinarverfahrens noch war sie in anderer Hinsicht Bestandteil dieses mit der Aushändigung der Disziplinarverfügung abgeschlossenen Disziplinarverfahrens. Die unbegrenzte Geltungsdauer der Anordnung kommt in der Formulierung "bis auf Weiteres" zum Ausdruck. Die Geltung der Anordnung wurde auch nicht dadurch infrage gestellt, dass die Verwaltung der Polizei vor dem März 2014 vom Beklagten vorgelegte privatärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gelegentlich akzeptiert hat. Im Schreiben vom 18. November 2013 war dem Beklagten seitens der Personalverwaltung verdeutlicht worden, dass die privatärztlichen Bescheinigungen letztmals für die Zeit bis Anfang Oktober 2013 anerkannt würden und zukünftig wiederum die Vorgaben der Anordnung vom 15. Juni 2011 zu beachten seien.
Rz. 32
c) Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte in Bezug auf das innerdienstliche Dienstvergehen des Fernbleibens vom Dienst vorsätzlich gehandelt. Der Beklagte hat bewusst und gewollt ein Verhalten gezeigt, das die objektiven Merkmale der Pflichtverletzung umfasst. Ausreichend ist hier dolus eventualis, d.h. der Beamte muss mit dem Eintritt des Erfolgs seiner Handlung in dem Sinne einverstanden sein, dass er ihn billigend in Kauf nimmt. Dies ist hier gegeben.
Rz. 33
Zwar nahm der Beklagte nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts an, hinsichtlich des Nachweises einer krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit gelte ab dem 11. März 2014 wiederum die allgemeine Regel, wonach ein privatärztliches Zeugnis am darauffolgenden allgemeinen Arbeitstag vorzulegen ist, wenn die Dienstunfähigkeit infolge Krankheit länger als drei Tage andauert. Tatsächlich galt aber, wie dargelegt, weiterhin die weiterreichende ("verschärfende") Anordnung vom 15. Juli 2011, wonach bereits am ersten Tag einer Krankheit der Polizeiarzt die Dienstunfähigkeit zu bestätigen hat. Diese irrtümliche Annahme des Beklagten betrifft das für die Annahme der Schuld i.S.v. § 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG erforderliche Unrechtsbewusstsein des Beamten.
Rz. 34
Ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum liegt vor, wenn sich der objektiv dienstfähige Beamte irrtümlich für dienstunfähig hält. In diesem Falle erstreckt sich der Irrtum des Beamten auf das (ungeschriebene) Tatbestandsmerkmal der Dienstfähigkeit (BVerwG, Urteile vom 9. April 2002 - 1 D 17.01 - Rn. 58 f. und vom 11. Oktober 2006 - 1 D 10.05 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 30 Rn. 34). Kennt der Beamte dagegen seine - gegebenenfalls eingeschränkte - Dienstfähigkeit oder hält er sie nicht für ausgeschlossen, hält sich aber gleichwohl aus Rechtsgründen nicht zur Dienstleistung verpflichtet, so befindet er sich in einem Rechtsirrtum, der nach den im Strafrecht entwickelten Grundsätzen des Verbotsirrtums zu behandeln ist und den Vorsatz nicht betrifft. Ein dienstfähiger Beamter, der ungenehmigt keinen Dienst leistet, handelt hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals "Dienstfähigkeit" mit bedingtem Vorsatz, wenn er ernsthaft für möglich hält, dienstfähig zu sein, und im Hinblick darauf billigend in Kauf nimmt, die Dienstleistungspflicht zu verletzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Oktober 2006 - 1 D 2.05 - Rn. 41 und Beschluss vom 21. Februar 2008 - 2 B 1.08 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 5 Rn. 5).
Rz. 35
d) Dem Beklagten war im Tatzeitraum auch jeweils bewusst, pflichtwidrig zu handeln.
Rz. 36
Das Unrechtsbewusstsein setzt voraus, dass der Beamte weiß, dienstrechtlich zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verpflichtet zu sein und durch sein konkretes Verhalten gegen diese Verpflichtung zu verstoßen. Dabei setzt das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit nicht die genaue Kenntnis der verletzten Rechtsvorschriften und Anordnungen des Dienstherrn voraus. Es genügt, wenn der Beamte Umfang und Inhalt seiner auf diesen Regelungen beruhenden Dienstpflichten im weitesten Sinne erfasst. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hatte der Beklagte das erforderliche Unrechtsbewusstsein.
Rz. 37
Zwar nahm der Beklagte im Tatzeitraum irrtümlich an, die Anordnung vom 15. Juni 2011 hinsichtlich der Verpflichtung zur Vorlage einer polizeiärztlichen Bestätigung der krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit gelte im Zeitraum ab dem 11. März 2014 nicht mehr. Dieser Irrtum ist jedoch für das für die Schuld des Beamten erforderliche Unrechtsbewusstsein unerheblich, weil er vermeidbar war.
Rz. 38
Erkennt der Beamte zutreffend den von ihm verursachten Geschehensablauf, der objektiv den Tatbestand eines Dienstvergehens erfüllt, nimmt er aber gleichwohl an, nicht pflichtwidrig gehandelt zu haben, so beruft er sich auf einen sog. Verbotsirrtum. Ein solcher Rechtsirrtum über das Bestehen, den Umfang oder den Inhalt dienstlicher Pflichten (vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 25. März 1980 - 1 D 14.79 - BVerwGE 63, 353 ≪364 f.≫ und vom 11. Dezember 1991 - 1 D 75.90 - BVerwGE 93, 202 ≪210 f.≫) kann das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit (Unrechtsbewusstsein) entfallen lassen. Wenn dem Beamten nicht widerlegt werden kann, die Pflichtverletzung unter einem Verbotsirrtum begangen zu haben, schließt ein solcher Irrtum die Schuld - und damit das Dienstvergehen - allerdings nur dann aus, wenn er unvermeidbar war (vgl. die insoweit heranzuziehende Bestimmung des § 17 Satz 1 StGB).
Rz. 39
Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums bestimmt sich nach der von dem Beamten nach seiner Amtsstellung (Status und Dienstposten) und seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten (Vorbildung und dienstlicher Werdegang) zu fordernden Sorgfalt unter Berücksichtigung der ihm zugänglichen Informationsmöglichkeiten. Das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit setzt in der Regel keine juristisch genauen Kenntnisse voraus; es genügt, wenn der Beamte Umfang und Inhalt seiner auf diesen Regelungen beruhenden Dienstpflichten im weitesten Sinne erfasst. Davon ist im Regelfall aufgrund der Ausbildung der Beamten und der Praxis dienstzeitbegleitender Belehrungen über Rechte und Pflichten im Dienstverhältnis auszugehen. Im Zweifel ist von einem Beamten - im eigenen Interesse - zu erwarten, dass er sich bei seiner Dienststelle rechtzeitig über Umfang und Inhalt seiner Dienstpflichten erkundigt. So kann er verhindern, dass ihm gegebenenfalls entgegengehalten wird, er habe zwar in einem Verbotsirrtum gehandelt, der jedoch vermeidbar gewesen sei (BVerwG, Urteile vom 22. Juni 2006 - 2 C 11.05 - ZBR 2006, 385 ≪387≫ und vom 13. September 2011 - 2 WD 15.10 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 33 Rn. 35 und Beschluss vom 21. Februar 2008 - 2 B 1.08 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 5 Rn. 6).
Rz. 40
Angesichts der Bedeutung der Fortgeltung der Anordnung vom 15. Juni 2011 für sein weiteres "Schicksal" als Beamter hätte es sich dem Beklagten geradezu aufdrängen müssen, die Frage der Weitergeltung der Anordnung vom 15. Juni 2011 durch eine Nachfrage bei der Leitung seiner Dienststelle verbindlich zu klären. Zu berücksichtigen ist insoweit auch das laufbahnbezogen hohe Statusamt des Beklagten im Polizeivollzugsdienst des Klägers. Durch die Disziplinarverfügung vom 7. März 2014 war der Beklagte vorgewarnt; es musste ihm klar sein, dass weitere Verstöße gegen die leicht einsehbare Pflicht, überhaupt zur Dienstleistung an der Dienststelle zu erscheinen, gravierende Folgen haben würden.
Rz. 41
e) Durch das festgestellte Verhalten hat der Beklagte ein innerdienstliches Dienstvergehen begangen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG). Der Beklagte hat die Dienstpflichten zum vollen beruflichen Einsatz und zur Befolgung dienstlicher Anordnungen seiner Vorgesetzten verletzt (§§ 34 f. BeamtStG).
Rz. 42
Der zwischenzeitliche Eintritt des Klägers in den gesetzlichen Ruhestand steht einer disziplinarrechtlichen Ahndung des noch im aktiven Beamtenverhältnis begangenen Dienstvergehens nicht entgegen. Die unveränderte Ausübung der Disziplinarbefugnis findet ihre Rechtfertigung in der Wahrung der Integrität des Beamtentums und des Ansehens des öffentlichen Dienstes sowie in dem Gebot der Gleichbehandlung (BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. November 2001 - 2 BvR 2138/00 - NVwZ 2002, 467; BVerwG, Urteile vom 28. Juli 2011 - 2 C 16.10 - BVerwGE 140, 185 Rn. 32, vom 28. Februar 2013 - 2 C 62.11 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 19 Rn. 68 und vom 31. August 2017 - 2 A 6.15 - Buchholz 11 Art. 5 Abs. 1 GG Nr. 9 Rn. 20).
Rz. 43
f) Die dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsinstanz obliegende Bemessungsentscheidung führt zu einer Verminderung des monatlichen Ruhegehaltes des Beklagten um ein Fünftel für die Dauer von drei Jahren (§ 11 Satz 1 SächsDG).
Rz. 44
Sind sämtliche be- und entlastenden Umstände bekannt, hat auch das Revisionsgericht eine eigenständige Bemessungsentscheidung zu treffen (aa). Wegen des entlastenden Umstands der unzureichenden Durchsetzung der Anordnung vom 15. Juni 2011 für den Zeitraum ab Aushändigung der Disziplinarverfügung vom 7. März 2014 führt das innerdienstliche Dienstvergehen des Beklagten trotz zu berücksichtigender Vorbelastungen nicht zur Höchstmaßnahme der Aberkennung des Ruhegehaltes (bb). Der Verhängung der milderen Maßnahme der Kürzung des Ruhegehaltes steht das Disziplinarmaßnahmeverbot wegen Zeitablaufs (§ 15 SächsDG) nicht entgegen (cc). Bei Würdigung aller be- und entlastenden Umstände ist die nach dem Gesetz höchstmögliche Verminderung des Ruhegehaltes des Beklagten als Disziplinarmaßnahme angemessen (dd).
Rz. 45
aa) § 61 Abs. 2 Satz 2 SächsDG bestimmt im Hinblick auf eine Disziplinarklage, dass das Gericht in dem Urteil auf die erforderliche Disziplinarmaßnahme erkennen oder die Disziplinarklage abweisen kann. Damit ist nach dem Sächsischen Disziplinargesetz den Verwaltungsgerichten die Disziplinarbefugnis zugewiesen. Gelangen diese zu der Überzeugung, dass ein Dienstvergehen vorliegt, bestimmen sie die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung, ohne in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht an die Wertungen des Dienstherrn gebunden zu sein (stRspr, BVerwG, Urteile vom 29. Mai 2008 - 2 C 59.07 - Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3 Rn. 11 und vom 28. Juli 2011 - 2 C 16.10 - BVerwGE 140, 185 Rn. 18 m.w.N.; Beschlüsse vom 15. März 2013 - 2 B 22.12 - Rn. 16 und vom 10. Dezember 2015 - 2 B 21.15 - Rn. 9). Diese Befugnis gilt nicht nur für das erstinstanzliche Gericht (§ 61 Abs. 2 Satz 2 SächsDG), sondern ebenso für das Berufungsgericht (§ 66 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 61 Abs. 2 Satz 2 SächsDG) und ebenso für das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsinstanz (§ 71 Abs. 1, § 66 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 61 Abs. 2 Satz 2 SächsDG). Sofern, wie hier, sämtliche be- und entlastenden Umstände bekannt sind, trifft das Bundesverwaltungsgericht eine eigenständige Bemessungsentscheidung.
Rz. 46
bb) Die nach § 13 Abs. 1 Satz 2 SächsDG an der Schwere des innerdienstlichen Dienstvergehens orientierte Bemessung der Disziplinarmaßnahme, bei der das Persönlichkeitsbild des Beklagten zu berücksichtigen ist, führt nicht zur Höchstmaßnahme der Aberkennung des Ruhegehaltes (§ 12 SächsDG). Der Beklagte hat durch sein Dienstvergehen nicht das Vertrauen des klagenden Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren.
Rz. 47
(1) Das Gebot, zum Dienst zu erscheinen, ist Grundpflicht eines jeden Beamten. Diese beamtenrechtliche Grundpflicht fordert vom Beamten, sich während der vorgeschriebenen Zeit an dem vorgeschriebenen Ort aufzuhalten und dort die ihm übertragenen dienstlichen Aufgaben wahrzunehmen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 25. September 2003 - 2 C 49.02 - Buchholz 240 § 9 BBesG Nr. 26 S. 41, vom 11. Oktober 2006 - 1 D 10.05 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 30 Rn. 34 und vom 27. Februar 2014 - 2 C 1.13 - BVerwGE 149, 117 Rn. 22). Wer dem Dienst vorsätzlich unerlaubt fernbleibt, missachtet damit zwangsläufig die Dienstpflichten zum vollen beruflichen Einsatz und zur Befolgung dienstlicher Anordnungen (BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014 - 2 C 1.13 - BVerwGE 149, 117 Rn. 22). Nur die pflichtgemäße Dienstleistung der Beamten und anderer Beschäftigter setzt die Verwaltung in die Lage, die ihr gegenüber der Allgemeinheit obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Das Erfordernis der Dienstleistung und die Bedeutung ihrer Unterlassung sind für jeden leicht zu erkennen. Setzt sich ein Beamter über diese Erkenntnis hinweg, zeigt er ein hohes Maß an Verantwortungslosigkeit. Je länger der Beamte schuldhaft dem Dienst fernbleibt, desto schwerer wiegt die hierin liegende Dienstpflichtverletzung.
Rz. 48
Vorsätzliches unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst führt regelmäßig zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, wenn es über Monate andauert oder in der Summe einen vergleichbaren Gesamtzeitraum erreicht (BVerwG, Urteile vom 22. April 1991 - 1 D 62.90 - BVerwGE 93, 78 ≪80 f.≫, vom 25. Januar 2007 - 2 A 3.05 - Buchholz 235.1 § 52 BDG Nr. 4 Rn. 42 und vom 27. Januar 2011 - 2 A 5.09 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 17 Rn. 35). Aufgrund der Bedeutung und der leichten Einsehbarkeit der Pflicht, überhaupt zum Dienst zu erscheinen, offenbart das Fernbleiben über einen solchen Zeitraum ein besonders hohes Maß an Verantwortungslosigkeit und Pflichtvergessenheit. Daher ist in diesen Fällen die Entfernung aus dem Dienst grundsätzlich Ausgangspunkt der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme (BVerwG, Urteile vom 7. November 1990 - 1 D 33.90 - Rn. 31 m.w.N., vom 22. April 1991 - 1 D 62.90 - BVerwGE 93, 78 ≪80 f.≫, vom 6. Mai 2003 - 1 D 26.02 - Rn. 54 f. und vom 12. November 2020 - 2 C 6.19 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 81 Rn. 21 ff. sowie Beschluss vom 31. Juli 2019 - 2 B 56.18 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 70 Rn. 11).
Rz. 49
Gegenstand des gerichtlichen Disziplinarverfahrens ist hier lediglich die Zeit vom 11. März bis zum 1. August 2014. In diesem Zeitraum ist der Beklagte an 34 Tagen vollständig und an weiteren fünf Tagen stundenweise dem Dienst ungenehmigt ferngeblieben. Zwar liegt hier kein ungenehmigtes Fernbleiben vom Dienst über Monate hinweg vor; allerdings ist bei der disziplinarrechtlichen Bewertung des Verhaltens des Beklagten seine ganz erhebliche Vorbelastung nachteilig zu berücksichtigen.
Rz. 50
Zum Persönlichkeitsbild des Beamten i.S.v. § 13 Abs. 1 Satz 3 SächsDG gehören insbesondere frühere disziplinarische oder strafrechtliche Verfehlungen, deren Berücksichtigung bei der Maßnahmebemessung kein rechtliches Hindernis entgegensteht. Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung ist die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten. Aus einer Vorbelastung kann geschlossen werden, dass sich der Beamte eine vorherige strafgerichtliche oder disziplinarische Sanktionierung nicht hat zur Mahnung und Warnung dienen lassen, sodass eine stufenweise Steigerung der Disziplinarmaßnahme geboten ist. Das Gewicht der Vorbelastung im Einzelfall, die als erschwerender Umstand auch zur Höchstmaßnahme führen kann, hängt vor allem von der dafür rechts- oder bestandskräftig ausgesprochenen Sanktion und vom zeitlichen Abstand zur neuen Verfehlung ab (BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 2001 - 1 D 2.01 - Rn. 31 m.w.N. und vom 25. Juli 2013 - 2 C 63.11 - BVerwGE 147, 229 Rn. 22 und Beschlüsse vom 11. Februar 2014 - 2 B 37.12 - Rn. 33, vom 18. Juni 2014 - 2 B 9.14 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 24 Rn. 10, vom 12. August 2021 - 2 VR 6.21 - Rn. 19 und vom 16. August 2021 - 2 B 21.21 - Rn. 11).
Rz. 51
Der Beklagte weist zwei einschlägige Vorbelastungen auf: zum einen die bestandskräftige Feststellung des Verlusts der Dienstbezüge aufgrund ungenehmigten schuldhaften Fernbleibens vom Dienst an 35 Tagen in der Zeit vom 13. September bis 18. November 2011 und zum anderen die ebenfalls bestandskräftige Disziplinarverfügung vom 7. März 2014 über die Kürzung der Dienstbezüge um ein Fünftel für 30 Monate wegen unentschuldigter Fehlzeiten von mehr als 55 Arbeitstagen in den Jahren 2011 bis 2013. Auch die Disziplinarverfügung vom März 2014 ist hier zu verwerten. Die Frist für das Verwertungsverbot begann nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SächsDG ausgehend von der Aushändigung der Verfügung an den Beklagten am 10. März 2014 mit Ablauf des 10. April 2014. Allerdings hat die Frist für das Verwertungsverbot nach § 16 Abs. 2 Satz 2 SächsDG nicht geendet, weil das am 19. August 2014 gegen den Beklagten eingeleitete Disziplinarverfahren noch nicht unanfechtbar abgeschlossen ist.
Rz. 52
Der Beklagte hat die ihm obliegende und leicht einsehbare Grundpflicht, an der Dienststelle zur Dienstleistung zu erscheinen, immer wieder verletzt. Er hat sich weder durch die Ermahnungen seiner Vorgesetzten hinsichtlich der Einhaltung der Vorgaben für die Anerkennung einer krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit noch durch die besoldungs- und disziplinarrechtlichen Maßnahmen des Klägers zu einem pflichtgemäßen Verhalten bewegen lassen. Vielmehr hat er sein pflichtwidriges Verhalten unmittelbar nach Aushändigung der Disziplinarverfügung am 10. März 2014 fortgesetzt. Zudem war ihm dabei bewusst, dass die zahlreichen polizeiärztlichen Untersuchungen seit Mitte 2008 keinerlei Anhaltspunkte für gesundheitliche Einschränkungen für den Polizeivollzugsdienst erbracht hatten.
Rz. 53
(2) Auf der Grundlage des Schuldprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auch im Disziplinarverfahren gelten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 8. Dezember 2004 - 2 BvR 52/02 - BVerfGK 4, 243 ≪257≫), ist hier aber die disziplinarrechtliche Höchstmaßnahme wegen eines entlastenden Umstands ausgeschlossen.
Rz. 54
Die gegen den Beamten ausgesprochene Disziplinarmaßnahme muss unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen (BVerwG, Urteile vom 20. Oktober 2005 - 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 ≪258 f.≫, vom 28. Februar 2013 - 2 C 62.11 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 19 Rn. 32 und vom 16. Juni 2020 - 2 C 12.19 - BVerwGE 168, 254 Rn. 19).
Rz. 55
In seinem Urteil vom 22. Juni 2006 - 2 C 11.05 - (ZBR 2006, 385 ≪387≫) hat der Senat unter Hinweis auf die Bestimmung des § 17 Satz 2 StGB ausgeführt, ein vermeidbarer Irrtum des Beamten über die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens, der die Vorsatzschuld nicht ausschließt, könne bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme mildernd berücksichtigt werden. Diese Rechtsprechung gibt der Senat auf, weil sich die Bemessung der Disziplinarmaßnahme nach den Vorgaben der Disziplinargesetze des Bundes und der Länder richtet, nicht jedoch nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für die Strafzumessung.
Rz. 56
Der Aberkennung des Ruhegehaltes steht hier als entlastender Umstand entgegen, dass sich der Kläger bei der zentralen Frage der Bedingungen für ein rechtmäßiges Fernbleiben des Beklagten vom Dienst infolge einer Krankheit inkonsequent verhalten hat. Der Kläger hat zwar dem Beklagten mit der Anordnung vom 15. Juni 2011 rechtmäßige und schlüssige Vorgaben gemacht, unter denen dieser wegen einer Krankheit von der Dienstleistungspflicht ausschließlich vorübergehend hätte befreit sein können, er hat diese jedoch in dem hier maßgeblichen Zeitraum vom 11. März bis Anfang August 2014 nicht konsequent durchgesetzt.
Rz. 57
Entgegen der ausdrücklichen Ankündigung in der Anordnung vom 15. Juni 2011, dem Beklagten sei die Möglichkeit der Krankmeldung bis zur Dauer von drei Tagen ohne Krankmeldung verwehrt und die Vorlage von privatärztlichen Attesten zum Nachweis der Dienstunfähigkeit werde nicht mehr akzeptiert, hat der Kläger im Zeitraum ab dem 11. März 2014 mehrfach vom Beklagten - zudem erheblich verspätet - eingereichte privatärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in der Weise akzeptiert, dass die entsprechenden Tage als Krankmeldung im Arbeitszeiterfassungssystem ohne Nachteil für das Arbeitszeitkonto des Beklagten berücksichtigt wurden. Hiervon hat der Beklagte nach der Rückkehr in den Dienst durch die Einsichtnahme in das Zeiterfassungssystem Kenntnis erlangt. Diese inkonsequente Handhabung der privatärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen war kein Einzelfall. Auch im Anhörungsschreiben vom 18. November 2013 wurde dem Beklagten mitgeteilt, dass die - für die Zeit vom 18. September bis 4. Oktober 2013 vorgelegten - privatärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen letztmalig anerkannt werden könnten, jedoch für die Zukunft wiederum die Anweisung vom 15. Juni 2011 gelte. Ungeachtet dieser Ankündigung hat der Kläger auch in dem hier relevanten Zeitraum - zudem verspätet vorgelegte - privatärztliche Bescheinigungen ausreichen lassen.
Rz. 58
Darüber hinaus war den leitenden Beamten des Polizeireviers des Beklagten nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts bekannt, dass der Beklagte bei der Vorlage der privatärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Zeitraum ab dem 11. März 2014 davon ausging, diese reichten zum Nachweis der krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit aus. Zwar ist der Dienstherr aufgrund der allgemeinen Fürsorgepflicht (§ 45 BeamtStG) grundsätzlich nicht gehalten, seine Beamten generell und ohne Weiteres über sämtliche für ihre Rechtsstellung bedeutsamen Vorschriften zu belehren (BVerwG, Urteile vom 11. Februar 1977 - 6 C 105.74 - BVerwGE 52, 70 ≪79≫, vom 21. April 1982 - 6 C 34.79 - BVerwGE 65, 197 ≪203≫ und vom 30. Januar 1997 - 2 C 10.96 - BVerwGE 104, 55 ≪57 f.≫). Eine Ausnahme gilt jedoch für den Fall eines vom Dienstherrn erkannten oder erkennbaren Irrtums des Beamten in einem bedeutsamen Punkt (BVerwG, Urteile vom 13. August 1973 - 6 C 26.70 - BVerwGE 44, 36 ≪44≫ und vom 11. Februar 1977 - 6 C 105.74 - BVerwGE 52, 70 ≪79≫ sowie Beschlüsse vom 6. März 2002 - 2 B 3.02 - Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 120 S. 5 und vom 27. Dezember 2016 - 2 B 3.16 - Rn. 10). Hiervon ausgehend hätte zumindest die Leitung des Polizeireviers den Beklagten auf die für diesen besonders bedeutsame Weitergeltung der Anordnung vom 15. Juni 2011 hinweisen müssen.
Rz. 59
cc) An der nach § 5 Abs. 2 SächsDG allein in Betracht kommenden Kürzung des Ruhegehaltes des Beklagten ist der Senat nicht wegen Zeitablaufs nach § 15 SächsDG gehindert. Dabei kommt es auf die vom Berufungsgericht erörterte Frage nicht an, ob die Einreichung des Originals der behördeninternen Verfügung zur Erhebung der Disziplinarklage beim Verwaltungsgericht am 20. September 2017 den wesentlichen Mangel der Klageschrift ex tunc oder nur ex nunc beseitigt.
Rz. 60
Mit der Aushändigung des Bescheids über das Verbot der Führung der Dienstgeschäfte am 4. August 2014 war das Dienstvergehen des Beklagten vollendet. § 15 Abs. 2 SächsDG bestimmt, dass eine Kürzung des Ruhegehaltes nicht mehr ausgesprochen werden darf, wenn seit der Vollendung eines Dienstvergehens mehr als drei Jahre vergangen sind. Durch die Einleitung des Disziplinarverfahrens am 19. August 2014 wurde die Frist des § 15 Abs. 2 SächsDG nach § 15 Abs. 4 SächsDG mit der Folge des Neubeginns des Fristenlaufes unterbrochen. Die Frist des § 15 Abs. 2 SächsDG ist hier allerdings für die Dauer des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 15 Abs. 5 Satz 1 SächsDG gehemmt, d.h. der Zeitraum des gerichtlichen Disziplinarverfahrens wird in die gesetzlich bestimmte Frist von drei Jahren nicht eingerechnet (vgl. § 209 BGB). Die Hemmung trat bereits mit Eingang der Klage beim Verwaltungsgericht am 16. Juni 2015 ein (§ 3 SächsDG und § 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO); während des gerichtlichen Disziplinarverfahrens kann ein Disziplinarmaßnahmeverbot nach § 15 SächsDG nicht eintreten.
Rz. 61
Das gerichtliche Disziplinarverfahren i.S.v. § 15 Abs. 5 Satz 1 SächsDG begann mit dem Eingang der Disziplinarklage beim Verwaltungsgericht am 16. Juni 2015. Für die Anwendung des § 15 Abs. 5 Satz 1 SächsDG ist hier unerheblich, dass diese Klageschrift nicht unterschrieben war und dieser wesentliche Mangel der Klageschrift erst durch die Vorlage des vom zuständigen Bediensteten des Dienstherrn eigenhändig mit vollem Namenszug unterschriebenen Originals der behördlichen Verfügung beim Verwaltungsgericht am 20. September 2017 beseitigt worden ist, die der Abfassung und Versendung der Klageschrift an das Verwaltungsgericht zugrunde liegt. Zu Beginn des gerichtlichen Verfahrens am 16. Juni 2015 war die am 20. August 2014 durch die Einleitung des behördlichen Disziplinarverfahrens neu in Gang gesetzte Frist von drei Jahren (§ 15 Abs. 2 SächsDG) noch nicht abgelaufen.
Rz. 62
Der Wortlaut des § 15 Abs. 5 Satz 1 SächsDG spricht für die Annahme, dass auch eine mit einem wesentlichen Mangel behaftete Klageschrift die Wirkung des § 15 Abs. 5 Satz 1 SächsDG entfaltet. Denn das Gesetz spricht lediglich von der Dauer des gerichtlichen Disziplinarverfahrens. Ein solches ist auch durch die mangelbehaftete Klageschrift vom 16. Juni 2015 eingeleitet worden. Denn durch die Klageschrift war das normativ vorgegebene Verfahren in Gang gesetzt worden. Für die Klage war entsprechend der Aktenordnung für die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 16. Dezember 2011 (SächsJMBl. 2012, S. 1) ein Aktenzeichen vergeben und in das Verfahrensregister des Verwaltungsgerichts eingetragen worden. Ferner war die Klage dem Beklagten entsprechend § 55 SächsDG zugestellt und er vom Verwaltungsgericht gemäß § 55 SächsDG auf die Fristen des § 56 Abs. 1 SächsDG - allerdings unvollständig - und des § 59 Abs. 2 SächsDG hingewiesen worden.
Rz. 63
Dass das Verwaltungsgericht auf den Eingang der Klageschrift am 16. Juni 2015 hin ein Klageverfahren i.S.v. § 15 Abs. 5 SächsDG eingeleitet hat, stimmt mit der besonderen Verfahrensgestaltung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens überein. Dieses ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass es mit § 56 SächsDG (entspricht § 55 BDG) eine in das gerichtliche Disziplinarverfahren inkorporierte Möglichkeit der Mängelbeseitigung bereithält, wesentliche Mängel des behördlichen Disziplinarverfahrens und der Klageschrift zu beheben (vgl. die erste Revisionsentscheidung in dieser Sache, BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 - 2 C 21.19 - BVerwGE 168, 74 Rn. 17 ff.). Entspricht die Disziplinarklage in jeder Hinsicht den gesetzlichen Vorgaben, ist die Klageschrift nach Zuteilung eines Aktenzeichens und der Eintragung im Verfahrensregister dem betroffenen Beamten zuzustellen. Aber auch bei einer mit einem Mangel behafteten Klageschrift ist das gerichtliche Verfahren unabhängig davon einzuleiten, ob das Verwaltungsgericht den wesentlichen Mangel der Klageschrift bereits bei Eingang der Klage erkennt oder dieser Mangel erst später festgestellt wird. Denn das Gesetz sieht in § 56 SächsDG ausdrücklich vor, dass das durch den Mangel der Klageschrift begründete rechtliche Hindernis im Rahmen des eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahrens behoben werden kann. Beseitigt der Dienstherr den vom Gericht festgestellten wesentlichen Mangel der Klageschrift rechtzeitig, wird das gerichtliche Disziplinarverfahren fortgesetzt. Gelingt ihm die Mängelbeseitigung innerhalb der vom Gericht festgesetzten Frist nicht, wird das Disziplinarverfahren durch Beschluss des Gerichts mit der Folge des Disziplinarklageverbrauchs eingestellt (§ 56 Abs. 3 und 4 SächsDG). Die Rechtsfolgen des wesentlichen Mangels der Klageschrift treten aber in jedem Fall in dem mit Eingang der Klageschrift bereits eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren ein.
Rz. 64
Auch der Zweck des gesetzlichen Disziplinarmaßnahmeverbots wegen Zeitablaufs nach § 15 SächsDG (§ 15 BDG) spricht für die Erstreckung der Vorschrift des § 15 Abs. 5 SächsDG auf eine mit einem wesentlichen Mangel behaftete Klageschrift.
Rz. 65
§ 15 SächsDG ist mit seinem abgestuften System und der Unterscheidung zwischen bloß pflichtenmahnenden Disziplinarmaßnahmen und den disziplinarrechtlichen Höchstmaßnahmen Ausdruck des Zwecks des Disziplinarverfahrens. Abweichend vom Strafverfahren, das der Vergeltung begangenen Unrechts dient, ist es Zweck des Disziplinarrechts, das Vertrauen in die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit der Beamten und damit die Integrität des Berufsbeamtentums sowie die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes zu sichern. Kommt lediglich eine pflichtenmahnende (erzieherische) Maßnahme in Betracht, ist das Disziplinarmaßnahmenverbot wegen Zeitablaufs zu beachten. Dabei sind die Fristen nach der Schwere der pflichtenmahnenden Maßnahme gestaffelt (§ 15 Abs. 1 bis 3 SächsDG). Je schwerer das Dienstvergehen wiegt und je stärker danach das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit beeinträchtigt ist, umso länger besteht nach dem Gesetz der Bedarf nach Ausspruch einer Disziplinarmaßnahme. Besteht jedoch zwischen der Dienstpflichtverletzung und der disziplinarrechtlichen Reaktion keine ausreichende zeitliche Nähe mehr, die eine solche erzieherische Maßnahme im dienstlichen Interesse noch sinnvoll erscheinen ließe, hat eine Ahndung zu unterbleiben; dem Gedanken des Rechtsfriedens räumt das Gesetz insoweit den Vorrang ein. Eine dennoch erfolgende Disziplinierung käme einer dem Disziplinarrecht fremden Vergeltung gleich. Hat dagegen das Dienstvergehen zu einem endgültigen Verlust des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit geführt, bleiben die beiden Maßnahmen der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis und der Aberkennung des Ruhegehaltes, die nicht dem individuellen Erziehungszweck, sondern dem ungeachtet des Zeitablaufs zu wahrenden Interesse an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes dienen, stets zulässig. Ist der Beamte wegen seines Dienstvergehens auf Dauer untragbar geworden, so ändert auch der Zeitablauf hieran nichts (BVerwG, Beschlüsse vom 21. November 2013 - 2 B 86.13 - Rn. 7 ff. ≪11≫ und vom 20. Januar 2014 - 2 B 89.13 - Rn. 12 f.).
Rz. 66
Durch die Vorschrift des § 15 Abs. 5 SächsDG, der den Ablauf der Fristen des § 15 Abs. 1 bis 3 SächsDG ausschließt, hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass das Bedürfnis nach einer Einwirkung auf den Beamten durch eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme für die Dauer des gesamten gerichtlichen Disziplinarverfahrens - im Gegensatz zum gewöhnlichen Zeitablauf - unberührt bleibt. Das gerichtliche Disziplinarverfahren ist aber, wie dargelegt, auch bei Eingang einer mangelbehafteten Disziplinarklageschrift einzuleiten.
Rz. 67
dd) Die Würdigung der be- und entlastenden Gesichtspunkte des Dienstvergehens, der Persönlichkeit des Beklagten und des Umfangs des Vertrauensverlusts führt dazu, dass die nach § 11 SächsDG höchstmögliche Disziplinarmaßnahme unterhalb der Aberkennung des Ruhegehaltes zu verhängen ist. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass der Kläger gegen den Beklagten erst verspätet vorgegangen ist. Denn das unverändert pflichtwidrige Verhalten des Beklagten im unmittelbaren Anschluss an die Aushändigung der Disziplinarverfügung am 10. März 2014 hatte dem Kläger deutlich vor Augen geführt, dass sich der Beklagte auch nicht durch die bereits ausgesprochene Disziplinarmaßnahme der erheblichen Kürzung der Dienstbezüge beeindrucken lässt.
Rz. 68
Die Pflicht, zum Dienst zu erscheinen, ist eine Grundpflicht eines Beamten. Diese leicht einsehbare Grundpflicht hat der Beklagte auch im hier relevanten Zeitraum vom 11. März bis zum 1. August 2014 in ganz erheblicher Weise verletzt. Durch eine einfache Nachfrage bei der Leitung des Polizeireviers hätte der Beklagte die für ihn bedeutsame Frage der Fortgeltung der Anordnung vom 15. Juni 2011 klären können. Gerade der Polizeivollzugsdienst ist zur Erfüllung der ihm obliegenden Aufgabe der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darauf angewiesen, dass die Polizeivollzugsbeamten entsprechend den Dienstplänen tatsächlich zum Dienst erscheinen. Ein Polizeivollzugsbeamter, der meint, seine Arbeitszeiten nicht nach den Vorgaben des Dienstherrn, sondern nach eigenen Befindlichkeiten bestimmen zu können, ist ein denkbar schlechtes Vorbild für die übrigen Bediensteten. Die laufbahnbezogen hohe Wertigkeit des Statusamtes (Polizeihauptkommissar), das der Beklagte im Polizeivollzugsdienst des klagenden Freistaats bekleidete, ist erschwerend zu berücksichtigen. Die Dienstpflichtverletzungen im Zeitraum ab dem 11. März 2014 sind zudem keine Einzelfälle. Bereits seit dem Jahr 2007 weist der Beklagte regelmäßig ganz erhebliche Fehlzeiten auf. Auch zwei einschlägige Vorbelastungen hat sich der Beklagte nicht zur Warnung gereichen lassen. Die Gespräche, in denen Vorgesetzte den Beklagten auf seine Dienstpflichten hingewiesen haben, haben diesen ebenfalls nicht zu einem pflichtgemäßen Verhalten bewegen können. Das pflichtwidrige Verhalten hat der Beklagte auch unmittelbar nach Aushändigung der Disziplinarverfügung am 10. März 2014 fortgesetzt. Infolge der wiederholten Dienstpflichtverletzungen des Beklagten sah sich der Kläger bereits Ende des Jahres 2011 gezwungen, diesen im Interesse der Funktionsfähigkeit des betreffenden Bereichs der Polizei von seiner Leitungsfunktion zu entbinden. Aufgrund der ab Mitte Juni 2008 zahlreich angesetzten polizeiärztlichen Untersuchungen war dem Beklagten auch bewusst, dass zumindest seitens des polizeiärztlichen Dienstes auch im Hinblick auf den von ihm geltend gemachten Lagerungsschwindel keine gesundheitlichen Einschränkungen für den Polizeivollzugsdienst festgestellt werden konnten.
Rz. 69
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Abs. 1 Satz 1 SächsDG. Einer Festsetzung eines Streitwerts für das Revisionsverfahren bedarf es nicht. Denn für das Verfahren werden Gebühren nach dem Gebührenverzeichnis (Nr. 14 und 30 der Anlage zu § 79 SächsDG) erhoben.
Fundstellen
Haufe-Index 15100484 |
BVerwGE 2022, 273 |
ZBR 2022, 255 |
DÖD 2022, 127 |
DÖV 2022, 472 |
JZ 2022, 289 |
JZ 2022, 302 |
JZ 2022, 303 |
LKV 2022, 269 |
VR 2022, 215 |