Entscheidungsstichwort (Thema)
Die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG stellt keinen Besitz der Aufenthaltserlaubnis nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG dar
Leitsatz (amtlich)
Ein Ausländer besitzt nur dann im Sinne des § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis, wenn diese ihm tatsächlich erteilt wurde. Die bloße Antragstellung reicht auch dann nicht aus, wenn sie dazu führt, dass der bisherige Aufenthaltstitel nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend gilt.
Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 26.07.2022; Aktenzeichen OVG 2 B 2/20) |
VG Berlin (Entscheidung vom 30.08.2019; Aktenzeichen 11 K 490.18) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. Juli 2022 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der... in Berlin geborene Kläger ist sri-lankischer Staatsangehöriger tamilischer Volkszugehörigkeit. Er ist seit 2001 im Besitz von Aufenthaltstiteln, zuletzt einer bis zum 14. Juli 2016 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, deren Verlängerung er vor ihrem Ablauf beantragte.
Rz. 2
Der Kläger ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Nach Verurteilungen wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit Nötigung und wegen eines Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz 2014 und 2015 verurteilte ihn das Landgericht D. im Jahr 2018 zu drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe. Der Kläger hatte sich des vorsätzlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen und mit vorsätzlicher Körperverletzung, ebenfalls in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, schuldig gemacht. Im Jahr 2021 wurde der Kläger wegen eines 2020 begangenen verbotenen Kraftfahrzeugrennens zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt.
Rz. 3
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17. Oktober 2018 wies das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten des Beklagten den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus und lehnte seinen Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels ab. Ferner wurde ihm die Abschiebung nach Sri Lanka angedroht.
Rz. 4
Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Während des Berufungsverfahrens hat der Beklagte die Abschiebungsandrohung aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers im Übrigen zurückgewiesen. Die Ausweisung sei rechtmäßig. Der Aufenthalt des Klägers gefährde im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Bei ihm liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Zwar sei kein generalpräventives, wohl aber ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse gegeben, da die hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung erneuter Verkehrsstraftaten bestehe. Dem Kläger stehe kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) zur Seite. Selbst wenn zu seinen Gunsten von einem schwerwiegenden Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG auszugehen wäre, so ginge auch dann die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung zu seinen Lasten aus. Zu seinen Gunsten sei zu berücksichtigen, dass er sein gesamtes bisheriges Leben in Deutschland verbracht habe, er mit den hiesigen Lebensverhältnissen eingehend vertraut sei und der ganz überwiegende Teil seiner sozialen Kontakte im Bundesgebiet bestehe. Allerdings sei ihm die wirtschaftliche Integration nicht vollständig geglückt. Auch sei seine fehlende Rechtstreue zu berücksichtigen. Der Kläger sei kein faktischer Inländer. Die Verhältnisse im Heimatland des Klägers und die zu erwartenden Integrationsschwierigkeiten rechtfertigten kein anderes Ergebnis. Gefahren im Heimatstaat, bei deren Vorliegen von einem Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG auszugehen sei, seien in diesem Rahmen nicht zu prüfen. Es könne daher offenbleiben, wie die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage in Sri Lanka, namentlich im Hinblick auf die Versorgung mit Medikamenten zur Bekämpfung der Erkrankung des Klägers, zu beurteilen sei. Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers scheitere an § 5 Abs. 1 Nr. 2 und an § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
Rz. 5
Mit seiner vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das Oberverwaltungsgericht habe die zu seinen Gunsten sprechenden Umstände nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Abwägung eingestellt. Er sei in Deutschland verwurzelt und daher als faktischer Inländer anzusehen. Zu Unrecht habe das Oberverwaltungsgericht die für ihn bestehenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht berücksichtigt.
Rz. 6
Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Ohne Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) hat das Berufungsgericht die Ausweisung des Klägers (1.) und die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (2.) für rechtmäßig erachtet.
Rz. 8
1. Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Rz. 9
a) Die Ausweisung setzt neben der Gefährdung der in § 53 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Schutzgüter eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls voraus, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Die Abwägung erfolgt dabei nicht auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen eines der Ausländerbehörde eröffneten Ermessens, sondern auf der Tatbestandsseite einer nunmehr gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar. Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen in den §§ 54 und 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder "besonders schwerwiegend" (Absatz 1) oder als "schwerwiegend" (Absatz 2). Bei der Abwägung sind schließlich gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 25 f. m. w. N.).
Rz. 10
b) Gemessen hieran hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass ein besonders schwerwiegendes Interesse an der Ausweisung des Klägers nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt, da er mit Urteil des Landgerichts D. vom 17. April 2018 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde.
Rz. 11
Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die weitere Erwägung des Oberverwaltungsgerichts, die Ausweisung des Klägers sei aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt, da die hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung erneuter Verkehrsstraftaten bestehe. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat daher bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts liegt beim Kläger eine fehlerhafte Einstellung zu den Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs, verbunden mit einer Überschätzung der eigenen fahrerischen Fähigkeiten, vor. Sieht er sich provoziert oder unter Druck gesetzt, steht er der körperlichen Unversehrtheit Dritter zumindest gleichgültig gegenüber. Zudem ist der Kläger wegen einer Verkehrsstraftat, die am 8. Juli 2020 und damit noch während des Laufs der Bewährungsfrist aufgrund der vorigen Verurteilung begangen wurde, erneut verurteilt worden.
Rz. 12
Aus den von ihm festgestellten Umständen hat das Oberverwaltungsgericht ohne Rechtsfehler den Schluss gezogen, dass keine Grundlage für die Annahme einer positiven Entwicklung beim Kläger besteht und die Prognose gerechtfertigt ist, der Kläger werde weitere vergleichbare Straftaten im Bundesgebiet begehen.
Rz. 13
c) Zugunsten des Klägers besteht weder ein besonders schwerwiegendes (§ 55 Abs. 1 AufenthG) noch ein schwerwiegendes (§ 55 Abs. 2 AufenthG) Bleibeinteresse. Der Kläger könnte insoweit allenfalls die in § 55 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vertypten Tatbestände für sich in Anspruch nehmen, die indessen beide voraussetzen, dass der Ausländer zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Das ist beim Kläger nicht der Fall. Die Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis war bereits am 14. Juli 2016 und damit vor der Ausweisungsentscheidung abgelaufen. Zwar galt seine Aufenthaltserlaubnis von diesem Zeitpunkt an bis zur Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend. Diese Fiktionswirkung stellt aber nicht den nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis dar (vgl. VGH München, Beschluss vom 3. April 2019 - 10 C 18.2425 - juris Rn. 10; Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand Oktober 2023, § 55 AufenthG Rn. 21).
Rz. 14
Das Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis macht schon nach seinem Wortlaut deutlich, dass die Aufenthaltserlaubnis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung tatsächlich vorhanden und damit bereits erteilt sein muss. In systematischer Hinsicht folgt aus § 55 Abs. 3 AufenthG, dass ein besonders schwerwiegendes oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nicht schon dann aus der Antragstellung hergeleitet werden kann, wenn sie nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Folge hat, dass ein zuvor erteilter Aufenthaltstitel als fortbestehend gilt, sondern erst dann, wenn dem Antrag entsprochen wird. Die bloße Antragstellung reicht damit für die Begründung eines vertypten Bleibeinteresses nicht aus. Dieses Verständnis entspricht dem aus den Gesetzesmaterialien abzuleitenden Zweck des Tatbestandsmerkmals, das nur den Inhaber eines Aufenthaltstitels schützen will (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 53 zur Niederlassungserlaubnis). Aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren folgt nichts anderes (so aber Ciersky-Reis, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 55 AufenthG Rn. 10, 36 ff.), da sich aus diesen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen selbst eine materiell geschützte Rechtsposition - hier ein vertyptes Bleibeinteresse im Sinne von § 55 Abs. 1 oder 2 AufenthG - nicht ergibt, sondern sie darin vorausgesetzt wird (stRspr, vgl. zu Art. 19 Abs. 4 GG, BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 ≪20≫).
Rz. 15
d) Im Ergebnis ohne Rechtsfehler ist das Oberverwaltungsgericht gleichwohl davon ausgegangen, dass das dem Kläger zur Seite stehende Bleibeinteresse seinem Gewicht nach dem in § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG normierten Interesse entspricht. Die Katalogisierung der Bleibeinteressen in § 55 AufenthG schließt eine derartige Berücksichtigung weiterer unbenannter Bleibeinteressen nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 - 1 C 3.16 - BVerwGE 157, 325 Rn. 24 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097, S. 49).
Rz. 16
Zu Unrecht hat das Oberverwaltungsgericht allerdings dem Kläger die Eigenschaft eines sogenannten faktischen Inländers abgesprochen. Der Kläger lebt von Geburt an in Deutschland, hat im Bundesgebiet einen Schulabschluss erlangt und war im Anschluss daran - abgesehen von der Zeit seiner Inhaftierung - berufstätig. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat er sich lediglich einmal für zwei Wochen in Sri Lanka aufgehalten. Daher ist er in einer Weise als im Bundesgebiet verwurzelt und in Sri Lanka entwurzelt anzusehen, die es rechtfertigt, ihn als faktischen Inländer zu behandeln.
Rz. 17
Trotz dieser unzutreffenden Bewertung der Situation des Klägers ist die Gewichtung seiner Bleibeinteressen durch das Oberverwaltungsgericht nicht zu beanstanden. Denn auch die Ausweisung einer Person, die aufgrund ihrer Verwurzelung in Deutschland und der damit korrespondierenden Entwurzelung im Heimatland als faktischer Inländer behandelt werden muss, ist nicht von vornherein unzulässig. Vielmehr ist der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergeht, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in Deutschland einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits, Rechnung zu tragen (EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97, Baghli/Frankreich - NVwZ 2000, 1401 Rn. 45 f.; EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - Rn. 82 f.; BVerfG, Beschlüsse vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 19 und vom 25. August 2020 - 2 BvR 640/20 - InfAuslR 2020, 424 Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 33 und Beschluss vom 2. August 2023 - 1 B 20.23 - juris Rn. 3). Diesen rechtlichen Anforderungen genügen die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts. Es berücksichtigt, dass der Kläger sein gesamtes bisheriges Leben in Deutschland verbracht hat, dass sein Aufenthalt stets legal war, dass er die deutsche Sprache beherrscht und einen Realschulabschluss erreicht hat und dass er den überwiegenden Teil seiner sozialen Bezüge in Deutschland hat sowie mit den hiesigen Lebensumständen eingehend vertraut ist. In die zu berücksichtigenden Umstände hat das Oberverwaltungsgericht ferner eingestellt, dass der Kläger abgesehen von den Zeiten seiner Inhaftierung durchgehend berufstätig war.
Rz. 18
Frei von Verstößen gegen Bundesrecht ist das Oberverwaltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die genannten positiven Umstände der Rechtmäßigkeit der Ausweisung dennoch nicht entgegenstehen. Dabei hat es zutreffend darauf abgestellt, dass dem Kläger eine vollständige Integration in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht mangels Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht geglückt ist und er im Wirtschaftsleben nicht beständig Fuß gefasst hat, seine Erwerbsbiografie vielmehr durch zahlreiche Wechsel seiner Tätigkeitsbereiche geprägt ist. Auch die mangelnde Rechtstreue des Klägers, die sich in der mehrfachen Straffälligkeit des Klägers manifestiert, hat das Oberverwaltungsgericht rechtsfehlerfrei in die Abwägung eingestellt.
Rz. 19
e) Im Einklang mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht drohende Beeinträchtigungen von Belangen des Klägers im Herkunftsstaat in den Blick genommen, die keinen strikten verfassungs- oder völkerrechtlichen Schutz in dem Sinne genießen, dass die deutschen Behörden unter allen Umständen verpflichtet wären, den Ausländer durch Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor ihrem Eintritt zu bewahren. Dies sind solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 35). Das Oberverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass der Kläger, obwohl seine Bindungen an Sri Lanka gering seien, die tamilische Sprache spreche. Es sei zu erwarten, dass er sich innerhalb der tamilischen Gesellschaft integrieren könne. Er könne sich zumindest eine einfache Lebensgrundlage schaffen; zudem sei nicht zu erkennen, dass der Kläger nicht zumindest anfänglich von Familienangehörigen unterstützt werden könne. Schließlich sei davon auszugehen, dass er ausreichenden Zugang zu der von ihm benötigten medizinischen Versorgung haben werde. Der von dem Oberverwaltungsgericht aufgrund der von ihm getroffenen, den Senat in Ermangelung zulässiger und begründeter Verfahrensrügen bindenden tatsächlichen Feststellungen gezogene Schluss, ein Leben in Sri Lanka sei dem Kläger zumutbar und stehe nicht außer Verhältnis zu den gegen ihn sprechenden Belangen, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 20
f) Offenbleiben kann, ob zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG eingreift. Dabei bedarf es hier keiner abschließenden Entscheidung der vom Oberverwaltungsgericht aufgeworfenen Frage, ob und in welchem Umfang solche Abschiebungsverbote im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Denn das Vorliegen eines Abschiebungsverbots könnte die Rechtsstellung des Klägers nicht verbessern, sondern lediglich dazu führen, dass seinen Bleibeinteressen geringeres Gewicht beizumessen wäre, und stünde der Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht entgegen.
Rz. 21
Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes zugunsten des Klägers hätte zur Folge, dass die zwangsweise Beendigung seines Aufenthalts auf absehbare Zeit aus Rechtsgründen nicht durchgeführt werden könnte. In einem solchen Fall sind nach den für die sogenannte "inlandsbezogene Ausweisung" entwickelten Grundsätzen die Bleibeinteressen des betroffenen Ausländers geringer zu gewichten, da deren konkrete Beeinträchtigung durch eine Abschiebung nicht droht (in diesem Sinne BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 28 m. w. N.). Die vom Kläger für geboten erachtete Feststellung eines Abschiebungsverbotes aufgrund seiner Erkrankung hätte daher nicht zur Konsequenz, dass die Abwägung im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG zu seinen Gunsten ausfiele, da die gegen ihn sprechenden Belange im Übrigen überwiegen. Unabhängig davon steht eine Abschiebung des Klägers - und damit eine Beeinträchtigung seiner Bleibeinteressen - aufgrund der Aufhebung der Abschiebungsandrohung durch den Beklagten nebst dessen Vorbringen hierzu im Revisionsverfahren derzeit ohnehin nicht zu erwarten.
Rz. 22
g) Die Ausweisung des Klägers verstößt nicht gegen Unionsrecht. Ihrer Rechtmäßigkeit steht nicht entgegen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Oberverwaltungsgerichts aufgrund der Aufhebung der Abschiebungsandrohung keine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115/EG vorgelegen hat. Das Nichtergehen oder die Aufhebung einer solchen Rückkehrentscheidung lässt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung unberührt. Diese unterfällt nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG, die daher auch ihre Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen nicht bestimmt. Die mit der Richtlinie 2008/115/EG geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beziehen sich nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung. Die Richtlinie hat hingegen nicht zum Ziel, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 [ECLI:EU:C:2022:913] - Rn. 84; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 40 ff.). Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers hängt daher nicht davon ab, ob eine Rückkehrentscheidung besteht, zumal die Ausweisung des Klägers nicht von vornherein gezielt allein auf eine Verschlechterung seines aufenthaltsrechtlichen Status gerichtet war (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 42).
Rz. 23
Zwar hat der Gerichtshof zur Erläuterung des Regelungsgehalts der Richtlinie 2008/115/EG unter anderem darauf hingewiesen, es laufe dem Gegenstand dieser Richtlinie und dem Wortlaut ihres Artikels 6 zuwider, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestünde (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 [ECLI:EU:C:2021:432] - Rn. 55). Hieraus kann jedoch, wie sich aus der nach diesen Ausführungen ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs deutlich ergibt, nicht der Schluss gezogen werden, das Unionsrecht knüpfe die Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsentscheidung grundsätzlich an den Bestand einer Rückkehrentscheidung. Ziel der Richtlinie 2008/115/EU ist es gerade nicht, eine - dann gegebenenfalls auch auf Ausweisungen bezogene - Harmonisierung der Vorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu erreichen (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 84).
Rz. 24
2. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht außerdem entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis hat. Der Verlängerung steht der Regelversagungsgrund des bestehenden Ausweisungsinteresses entgegen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts lässt sich nicht entnehmen, dass hiervon ausnahmsweise abzuweichen oder nach § 5 Abs. 3 AufenthG abzusehen wäre.
Rz. 25
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
NVwZ-RR 2024, 302 |
NVwZ-RR 2024, 5 |
DÖV 2024, 453 |
InfAuslR 2024, 252 |
InfAuslR 2024, 311 |
JZ 2024, 174 |
VR 2024, 180 |
ZAR 2024, 6 |
Asylmagazin 2024, 134 |
NPA 2024, 0 |