Entscheidungsstichwort (Thema)
Besuchsaufenthalt. einheitliches Visum. eingeschränkte gerichtliche Kontrolle. Grundsatz der Verfahrensautonomie. Letztentscheidungskompetenz der zuständigen Behörden. Visum mit beschränkter Gültigkeit. weiter Beurteilungsspielraum. Zweifel an der Rückkehrbereitschaft.
Leitsatz (amtlich)
1. Die zuständigen Auslandsvertretungen verfügen bei der Prüfung der Visumanträge nach dem Visakodex gemäß dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (C-84/12, Koushkaki) über einen unmittelbar vom Unionsrecht vorgegebenen weiten Beurteilungsspielraum. Dieser bezieht sich auf die Verweigerungsgründe und die Würdigung der hierfür maßgeblichen Tatsachen.
2. Die unionsrechtlichen Vorgaben für den weiten Beurteilungsspielraum der Auslandsvertretungen bei der Prüfung von Anträgen nach dem Visakodex sind bei der gerichtlichen Kontrolle nach nationalem Recht zu beachten. Diese richtet sich nach den Maßstäben, die bei der Überprüfung eines behördlichen Beurteilungsspielraums nach deutschem Recht gelten.
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 810/2009 Art. 4, 21, 23 Abs. 4, Art. 32 Abs. 1, Art. 35 Abs. 6; EUV Art. 6 Abs. 3; EMRK Art. 13; GRC Art. 47; GG Art. 19 Abs. 4
Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 19.11.2014; Aktenzeichen 6 B 20.14) |
VG Berlin (Entscheidung vom 23.06.2011; Aktenzeichen 14 K 25.11 V) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. November 2014 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I
Rz. 1
Der Kläger begehrt die Erteilung eines Schengen-Visums zum Zweck des Besuchs eines im Bundesgebiet lebenden Sohnes.
Rz. 2
Der im Jahr 1956 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er lebt gemeinsam mit seiner Ehefrau im Iran. Laut seinen Angaben hat er vier Geschwister, von denen zwei im Iran und zwei seit mehr als 20 Jahren in Deutschland leben. Vier seiner Kinder leben seit mehreren Jahren ebenfalls in Deutschland, ein weiteres Kind lebt in Belgien.
Rz. 3
Am 2. Februar 2010 beantragte der Kläger die Erteilung eines Schengen-Visums zum Zweck des Besuchs seines im Bundesgebiet lebenden Sohnes. Er gab an, Rentner zu sein. Ferner legte er einen Kaufvertrag für ein Haus im Iran sowie einen Kontoauszug über ein Sparguthaben vor. Gegen die Ablehnung dieses Antrages durch Bescheid der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Teheran vom 14. Februar 2010 remonstrierte der Kläger. Er machte geltend, Inhaber eines Möbelgeschäftes in Z. zu sein, das er unter Beibehaltung der wesentlichen Entscheidungsbefugnisse seinem Sohn übertragen habe und für das er eine betriebswirtschaftliche Auswertung vorlegen könne. Zudem ergebe sich seine Rückkehrbereitschaft auch daraus, dass sich seine Frau und einer seiner Söhne im Iran aufhielten.
Rz. 4
Mit Remonstrationsbescheid vom 1. Juni 2010 hob die Botschaft den Bescheid vom 14. Februar 2010 auf und lehnte den Antrag auf Erteilung eines Visums ab. Die familiäre Verwurzelung des Klägers im Iran könne zwar grundsätzlich als ausreichend angesehen werden. Der Kläger habe jedoch keinen Nachweis über den weiteren tatsächlichen Verbleib seiner Familie im Iran vorgelegt. Die wenigen vorgelegten Unterlagen erlaubten keine positive Beurteilung der Verwurzelung des Klägers im Heimatland und auch keine positive Prognose seiner Rückkehrbereitschaft. Der Lebensunterhalt könne von dem nachgewiesenen Sparguthaben nicht bestritten werden, und ein Nachweis des Einkommens als Rentner sei nicht erfolgt. Die materielle Verwurzelung im Iran werde als gering angesehen, zumal der Kläger zum Nachweis von Immobilienbesitz lediglich einen Kaufvertrag vorgelegt habe.
Rz. 5
Der hiergegen gerichteten Klage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, bei Nachweis eines Krankenversicherungsschutzes das beantragte Visum zu erteilen.
Rz. 6
Mit Urteil vom 19. November 2014 hat das Oberverwaltungsgericht auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Der Kläger habe gegenwärtig keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums, weil die Beklagte zu Recht angenommen habe, dass begründete Zweifel an seiner Rückkehrbereitschaft bestehen. Die Erteilung eines einheitlichen Visums komme nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. b Visakodex nicht in Betracht, wenn begründete Zweifel an der Absicht des Antragstellers bestünden, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 19. Dezember 2013 (C-84/12 [ECLI:EU:C:2013:862], Koushkaki) hätten die zuständigen Behörden bei der Prüfung der Visaanträge einen weiten Beurteilungsspielraum, der sich sowohl auf die Anwendungsvoraussetzungen der einschlägigen Vorschriften als auch auf die Verweigerungsgründe beziehe. Der vom Gerichtshof konstatierte Beurteilungsspielraum habe eine Einschränkung der Kontrolle durch das nationale Gericht zur Folge. Soweit die behördliche Entscheidung auf wertenden Betrachtungen beruhe, sei die Kontrolle auf die Prüfung beschränkt, ob die Behörde von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen sei, den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen könne, verkannt, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen habe. Hieran gemessen sei die behördliche Wertung, dass begründete Zweifel an der Rückkehrabsicht des Klägers bestehen, nicht zu beanstanden. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf ein Visum mit beschränkter Gültigkeit gemäß Art. 25 Visakodex.
Rz. 7
Der Kläger macht mit seiner Revision eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG geltend. Soweit das Berufungsgericht einen nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum der Behörde bei der Prüfung des Verweigerungsgrundes „Rückkehrbereitschaft” gemäß Art. 32 Abs. 1 Buchst. b Visakodex annehme, beruhe dies auf einer unbesehenen Übernahme der unionsrechtlichen Rechtsfigur des „weiten Beurteilungsspielraums” in die deutsche Verwaltungsrechtsdogmatik mit ihren unionsrechtlich nicht zwingend vorgegebenen Implikationen hinsichtlich des gerichtlichen Rechtsschutzes. Das deutsche Verwaltungsrecht anerkenne aber nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen einen beschränkt gerichtlich überprüfbaren Beurteilungsspielraum. Zwar sei anerkannt, dass die nationalen Gerichte an die Entscheidungen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren gebunden seien. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verpflichte das Unionsrecht in seiner verbindlichen Auslegung durch den Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte aber nicht dazu, ihre durch das nationale Recht vorgegebene gerichtliche Kontrolldichte abzusenken. Das Berufungsgericht hätte daher die Bewertung der Behörde in vollem Umfang überprüfen müssen und auch eigene Erwägungen an die Stelle derjenigen der Behörde setzen dürfen. Hilfsweise werde insoweit die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH angeregt.
Rz. 8
Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Rz. 9
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an.
Entscheidungsgründe
II
Rz. 10
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung eines Schengen-Visums zum Besuch seines im Bundesgebiet lebenden Sohnes hat und die Ablehnung der Beklagten nicht rechtswidrig ist (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Rz. 11
1. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Klagen auf Verpflichtung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (hier: 19. November 2014). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind nach der Rechtsprechung des Senats allerdings zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht – entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts – sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 1. November 2005 – 1 C 21.04 – BVerwGE 124, 276 ≪279 f.≫ und vom 13. Dezember 2012 – 1 C 20.11 – Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 15 Rn.15).
Rz. 12
Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Erteilung des streitgegenständlichen Visums ist die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 S. 1) – Visakodex (VK) –, zuletzt geändert durch Art. 6 ÄndVO (EU) 610/2013 vom 26. Juni 2013 (ABl. L 182 S. 1, ber. ABl. L 154 S. 10). Der Visakodex regelt seit dem 5. April 2010 (Art. 58 Abs. 2 VK) umfassend die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens drei Monaten innerhalb eines Sechsmonatszeitraums (Art. 1 Abs. 1 VK). Er ist als unmittelbar anwendbares Verordnungsrecht (Art. 288 AEUV) in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (vgl. den entsprechenden Hinweis am Schluss der Verordnung). Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts verdrängt er die bisherige nationale Regelung in § 6 Abs. 1 bis 3 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 11. Januar 2011 – 1 C 1.10 – BVerwGE 138, 371 Rn. 11).
Rz. 13
2. Die auf Erteilung eines Schengen-Visums gerichtete Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Trotz Ablaufs des im Visumantrag vom 2. Februar 2010 angegebenen Besuchszeitraums ist keine Erledigung des Verpflichtungsbegehrens durch Zeitablauf eingetreten. Ein Antrag auf Erteilung eines Schengen-Visums für einen kurzfristigen Besuchsaufenthalt ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte dahin auszulegen, dass der Antragsteller auch nach Ablauf des geplanten Aufenthaltszeitraums an seinem Besuchswunsch festhalten möchte (vgl. BVerwG, Urteile vom 11. Januar 2011 – 1 C 1.10 – BVerwGE 138, 371 Rn. 14 und vom 15. November 2011 – 1 C 15.10 – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 57 Rn. 9). Solche gegenteiligen Anhaltspunkte für einen termingebundenen Besuchsanlass (z.B. Geburtstag, Hochzeit, Beerdigung) liegen hier nicht vor.
Rz. 14
3. Die Klage ist aber unbegründet, denn der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt keinen Anspruch auf Erteilung eines Schengen-Visums und die Ablehnung ist nicht rechtswidrig.
Rz. 15
3.1 Dabei ist das Berufungsgericht zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass ein einheitliches, für den gesamten Schengen-Raum gültiges Visum zu erteilen ist, wenn die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen und keine Verweigerungsgründe bestehen, so dass auf der Rechtsfolgenseite kein Ermessen mehr verbleibt. Nach den bindenden Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Koushkaki (Urteil vom 19. Dezember 2013 – C-84/12 [ECLI:EU:C:2013:862] – Rn. 77) dürfen die zuständigen Behörden einem Antragsteller nur dann ein einheitliches Visum verweigern, wenn ihm einer der im Visakodex vorgesehenen Verweigerungsgründe entgegengehalten werden kann. Dies entspricht nach deutscher Rechtsterminologie einer gebundenen Entscheidung.
Rz. 16
3.2 Nach Art. 23 Abs. 4 i.V.m. Art. 21 und 32 VK setzt die Erteilung eines einheitlichen Visums – neben der Zuständigkeit der Auslandsvertretung (Art. 18 VK) und der formellen Zulässigkeit des Antrags (Art. 19 VK) – voraus, dass der Antragsteller in materieller Hinsicht die Einreisevoraussetzungen erfüllt und kein Verweigerungsgrund vorliegt (Art. 21, 32 VK).
Rz. 17
Nach Art. 21 Abs. 1 VK ist bei der Prüfung eines Antrags auf ein einheitliches Visum festzustellen, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (ABl. L 105 S. 1) – Schengener Grenzkodex (SGK) – erfüllt. Danach muss ein Drittstaatsangehöriger u.a. den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c SGK) und darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. e SGK). Die Auslandsvertretung hat daher bei der Prüfung eines Antrags auf Erteilung eines einheitlichen Visums insbesondere zu beurteilen, ob beim Antragsteller das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht, ob er eine Gefahr für die Mitgliedstaaten darstellt und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums das Hoheitsgebiet zu verlassen (Art. 21 Abs. 1 Halbs. 2 VK). Nach Art. 23 Abs. 4 Buchst. c i.V.m. Art. 21 und 32 Abs. 1 Buchst. b VK wird das Visum u.a. verweigert, wenn begründete Zweifel an der vom Antragsteller bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 19. Dezember 2013 (C-84/12 [ECLI:EU:C:2013:862], Koushkaki – Rn. 64 ff.) festgestellt, dass diese Bestimmung von den zuständigen Behörden nicht verlangt, Gewissheit zu erlangen, ob der Antragsteller beabsichtigt, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Sie haben vielmehr festzustellen, ob begründete Zweifel an dieser Absicht bestehen.
Rz. 18
a) Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Koushkaki (C-84/12 – Rn. 61 bis 63) verfügen die zuständigen Behörden bei der Prüfung der Visumanträge, und insbesondere bei der Prüfung, ob begründete Zweifel an der Rückkehrabsicht bestehen, über einen weiten Beurteilungsspielraum. Dieser bezieht sich sowohl auf die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 32 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 6 VK, als auch auf die Würdigung der Tatsachen, die für die Feststellung maßgeblich sind, ob die in diesen Bestimmungen genannten Gründe der Erteilung des beantragten Visums entgegenstehen. Nach der verbindlichen Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union folgt dies daraus, dass die Beurteilung der individuellen Situation eines Visumantragstellers im Hinblick auf die Feststellung, ob seinem Antrag ein Verweigerungsgrund entgegensteht, mit komplexen Bewertungen verbunden ist. Diese erstrecken sich u.a. auf die Persönlichkeit des Antragstellers, seine Integration in dem Land, in dem er lebt, die politische, soziale und wirtschaftliche Lage dieses Landes sowie die mit der Einreise des Antragstellers möglicherweise verbundene Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaates. Solche komplexen Bewertungen erfordern eine Prognose über das voraussichtliche Verhalten des Antragstellers. Sie müssen zudem u.a. auf einer vertieften Kenntnis seines Wohnsitzstaates sowie auf der Analyse verschiedener Dokumente, deren Echtheit und Wahrheitsgehalt zu überprüfen sind, und der Aussagen des Antragstellers, deren Glaubwürdigkeit zu beurteilen ist, beruhen (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – C-84/12 – Rn. 56 f.). Der Gerichtshof der Europäischen Union geht somit davon aus, dass die nach Art. 4 VK zuständigen Behörden einen besonderen Zugang zu den für die Prognoseentscheidung maßgeblichen Bewertungsgrundlagen und vertiefte Kenntnisse über den Wohnsitzstaat haben sowie auch über die besseren Möglichkeiten zur Überprüfung verschiedener Dokumente und der Aussagen der Antragsteller verfügen. Bei der Beurteilung der Rückkehrabsicht eines Antragstellers können die Auslandsvertretungen ihre vor Ort gewonnenen Erkenntnisse (z.B. zu den allgemeinen Lebensverhältnissen im Gastland, eventuelle regionale Unterschiede, die Migrationsbewegungen innerhalb der Länder und in das Ausland, zur Bedeutung von Besitz und Eigentum, zum Urkundswesen und zur Fälschungssicherheit von Dokumenten) nutzen und diese in die Beurteilung des konkreten Falles einbeziehen. Das Berufungsgericht hat dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Recht eine unionsrechtliche Übertragung der Letztentscheidungskompetenz über das Vorhandensein der Bewertungsmerkmale der Rückkehrabsicht auf die nach Art. 4 VK zuständigen Behörden entnommen. Der weite Beurteilungsspielraum der zuständigen Behörden ist durch das Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union unmittelbar vorgegeben.
Rz. 19
Allerdings wird der unionsrechtliche Begriff des Beurteilungsspielraums unspezifisch im Sinne eines der Verwaltung eröffneten Entscheidungsspielraums verwendet, da es im Recht der Europäischen Union keine dem deutschen Recht vergleichbare Trennung zwischen Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielräumen gibt (vgl. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 590 Fn. 681). Der nach der Rechtsprechung des EuGH eröffnete Entscheidungsspielraum der Verwaltung bezieht sich hier allerdings auf den Tatbestand der einschlägigen Normen des Visakodex und entspricht damit der Sache nach einem Beurteilungsspielraum im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts.
Rz. 20
b) Entgegen der Auffassung des Klägers verstößt das angegriffene Urteil nicht gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Einwand des Klägers, dass nach den in der deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik geltenden Maßstäben Beurteilungsspielräume nur in den von der Rechtsprechung anerkannten und hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen gerechtfertigt sind, greift nicht durch. Für den Vollzug unionsrechtlicher Normen sind, unabhängig von den im innerstaatlichen Recht anerkannten Fallgruppen von Beurteilungsspielräumen, den Behörden diejenigen Entscheidungsfreiräume zuzugestehen, die ihnen die zu vollziehende Unionsnorm einräumt oder die notwendig sind, um die Ziele der unionsrechtlichen Bestimmung zu erreichen. Die in der deutschen Verwaltungsrechtstradition geltenden Maßstäbe werden insoweit vom Unionsrecht überlagert. Denn im Rahmen des europäischen Rechts ist es Aufgabe des europäischen Gesetz- bzw. Verordnungsgebers die Rechtspositionen auszugestalten, die Art. 6 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 13 EMRK und Art. 47 GRC (und im deutschen Rechtskreis Art. 19 Abs. 4 GG) voraussetzen. Wenn, wie hier, die maßgebenden Regelungen des Unionsrechts in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union bestimmen, dass den zuständigen Behörden eine Letztentscheidungskompetenz zukommt, ist demnach kein Raum mehr für die in der deutschen Verwaltungsrechtslehre und -rechtsprechung entwickelten einschränkenden Voraussetzungen für die Annahme von Beurteilungsspielräumen. Dies ergibt sich auch aus dem im 18. Erwägungsgrund des Visakodex genannten Ziel, durch eine enge örtliche Koordinierung für eine einheitliche europäische Visumpolitik zu sorgen und eine Ungleichbehandlung der Antragsteller zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – C 84/12 – Rn. 53 f.). Wenn die örtlich abgestimmte Anwendung der Vorschriften aus dem Visakodex durch die Auslandsvertretungen der Schengen-Staaten und die sich daraus ergebenden Bewertungen hinsichtlich der Rückkehrbereitschaft durch die eigenen Bewertungen der mitgliedstaatlichen Gerichte ersetzt würden, würde dies eine einheitliche Anwendung des europäischen Visumrechts unmöglich machen bzw. erheblich erschweren. Die Einräumung eines Beurteilungsspielraums ist daher auch notwendig, um dem im 18. Erwägungsgrund des Visakodex genannten Ziel, eine einheitliche Anwendung der Visumvorschriften sicherzustellen, zur praktischen Wirksamkeit „effet utile”) zu verhelfen.
Rz. 21
c) Das hier anwendbare Unionsrecht macht keine Vorgaben für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle des als „weiten Beurteilungsspielraum” bezeichneten behördlichen Entscheidungsspielraums. Dies ergibt sich explizit auch aus Art. 32 Abs. 3 Satz 2 VK, wonach sich die Rechtsmittel nach dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten richten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bleibt es grundsätzlich den Mitgliedstaaten vorbehalten, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie über die Art und Weise der richterlichen Kontrolle sowie deren Intensität zu befinden. Soweit dem einschlägigen Unionsrecht keine verbindlichen Feststellungen zu der gebotenen Gerichtskontrolle entnommen werden können, sind die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Februar 2015 – C-662/13 [ECLI:EU:C:2015:89], Surgicare – Rn. 26; vom 18. Dezember 2014 – C-449/13 [ECLI:EU:C:2014:2464], CA Consumer Finance – Rn. 23; vom 24. April 2008 – C-55/06 [ECLI:EU:C:2008:244], Arcor – Rn. 163 ff. und vom 21. Januar 1999 – C-120/97 [ECLI:EU:C:1999:14], Upjohn – Rn. 29). Der unionsrechtlich vorgegebene Entscheidungsspielraum der zuständigen Behörde wirkt sich aber auf die Intensität der gerichtlichen Kontrolle nach nationalem Recht aus; sie kann nicht weiter reichen als die materiell-rechtliche Bindung der Instanz, deren Entscheidung überprüft werden soll. Die Kontrollmaßstäbe sind daher den Grundsätzen zu entnehmen, die das Bundesverwaltungsgericht zur gerichtlichen Überprüfung von Beurteilungsspielräumen nach deutschem Verwaltungsrecht entwickelt hat (vgl. auch BVerwG, Urteile vom 23. November 2011 – 6 C 11.10 – Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 5 Rn. 38 und vom 25. September 2013 – 6 C 13.12 – BVerwGE 148, 48 Rn. 33). Danach wird die Ausübung eines Beurteilungsspielraums auf der Tatbestandsseite nur darauf überprüft, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat (BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2007 – 3 C 8.06 – BVerwGE 129, 27 Rn. 38 und vom 2. April 2008 – 6 C 15.07 – BVerwGE 131, 41 Rn. 21; vgl. auch: BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Dezember 2009 – 1 BvR 3151/07 – DVBl. 2010, 250 – juris Rn. 59).
Rz. 22
Das Berufungsgericht ist von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die angefochtene behördliche Entscheidung nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Es hat zu Recht die nach Art. 21 Abs. 1, Art. 32 Abs. 1 VK zu prüfenden materiellen Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe nicht in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle unterzogen, sondern geprüft, ob die Beklagte die Verfahrensvorschriften eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Begriffs der Rückkehrabsicht ausgegangen ist, den Sachverhalt zutreffend ermittelt hat, die allgemeingültigen Bewertungsmaßstäbe beachtet hat sowie sich nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. An die hierauf bezogenen tatrichterlichen Feststellungen, die nicht mit Verfahrensrügen angegriffen wurden, ist der Senat gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO).
Rz. 23
Soweit das Berufungsgericht im Rahmen seiner Prüfung, ob die Auslandsvertretung die allgemeingültigen Bewertungsmaßstäbe verletzt hat, auch geprüft hat, ob der durch Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC gewährte Schutz der Familie eine andere Risikobewertung gebietet, steht dies allerdings nicht in Einklang mit revisiblem Recht. Denn für diese Abwägung ist bei der Entscheidung über die Erteilung eines einheitlichen Visums kein Raum. Vielmehr ist der Schutz von Ehe und Familie bei der Erteilung eines räumlich beschränkten Visums gemäß Art. 25 VK zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. November 2011 – 1 C 15.10 – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 57 Rn. 19).
Rz. 24
d) Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Der Kläger hat angeregt, dem Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob der Visakodex dahingehend auszulegen ist, dass er den mitgliedstaatlichen Gerichten eine beschränkte Nachprüfung der behördlichen Beurteilung der Rückkehrbereitschaft im Sinne des Art. 32 Abs. 1 Buchst. b VK verpflichtend vorschreibt. Eine Vorlagepflicht besteht hier indes nicht, denn die richtige Anwendung des Unionsrechts ist im Sinne der acte-claire-Doktrin (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – C-283/81 [ECLI:EU:C:1982:335], CILFIT –) derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel an der Beantwortung der gestellten Frage keinerlei Raum bleibt. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist geklärt, dass es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie allein Sache der Mitgliedstaaten ist, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie (unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität) die Art und Weise der richterlichen Kontrolle zu bestimmen (EuGH, Urteil vom 24. April 2008 – C-55/06 – Rn. 170). Hiernach ist es offenkundig, dass die gerichtlichen Kontrollmaßstäbe dem innerstaatlichen Recht zu entnehmen sind. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, geben die einschlägigen Bestimmungen des Visakodex lediglich einen Beurteilungsspielraum vor, machen darüber hinaus aber keine Vorgaben für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle.
Rz. 25
3.3 Der Kläger hat schließlich auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums mit beschränkter Gültigkeit nur für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland.
Rz. 26
Trotz begründeter Zweifel an der Rückkehrbereitschaft können die Mitgliedstaaten nach Art. 25 Abs. 1 VK ausnahmsweise aus den in Art. 25 Abs. 1 Buchst. a VK genannten Gründen ein auf das eigene Hoheitsgebiet beschränktes Visum erteilen. Hierbei können familiäre Bindungen des Antragstellers an berechtigterweise im Bundesgebiet lebende Familienangehörige sowohl aus humanitären Gründen als auch aufgrund internationaler Verpflichtungen berücksichtigt werden. Angesichts des gewichtigen öffentlichen Interesses an der Verhinderung ungesteuerter Einwanderung setzt die Erteilung eines beschränkten Visums aber voraus, dass auch mit Blick auf den besonderen Schutz familiärer Bindungen nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC die Erteilung eines Besuchsvisums ausnahmsweise trotz der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr für die öffentliche Ordnung erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 11. Januar 2011 – 1 C 1.10 – BVerwGE 138, 371 Rn. 30 und vom 15. November 2011 – 1 C 15.10 – Buchholz 451.902 Europ. Ausl. und Asylrecht Nr. 57 Rn. 23). Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass ein solcher Ausnahmefall hier nicht gegeben ist. Der Kläger ist zur Aufrechterhaltung der familiären Kontakte nicht zwingend auf den Besuch seines erwachsenen Sohnes in Deutschland angewiesen. Denn dieser hat die Möglichkeit, den Kläger im Iran zu besuchen. Zudem kann der Kontakt auch auf andere Weise (z.B. über das Internet, Briefe und Telefonate) aufrechterhalten werden.
Rz. 27
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Prof. Dr. Berlit, Prof. Dr. Dörig, Prof. Dr. Kraft, Fricke, Dr. Rudolph
Fundstellen
Haufe-Index 8695037 |
DÖV 2016, 139 |
InfAuslR 2016, 48 |
JZ 2015, 699 |
ZAR 2015, 55 |
ZAR 2016, 34 |
BayVBl. 2015, 3 |
DVBl. 2015, 3 |
KomVerw/S 2016, 41 |
KomVerw/T 2016, 41 |
SächsVBl. 2015, 2 |