Entscheidungsstichwort (Thema)
Hamburgischer Baustufenplan. übergeleiteter Bebauungsplan. Auslegung eines übergeleiteten Bebauungsplans. Baunutzungsverordnung als Auslegungshilfe. Wohngebiet. Wohnbedürfnisse. Betriebskrankenkasse im Wohngebiet. Anlagen der Verwaltung
Leitsatz (amtlich)
1. Der Überleitung bestehender baurechtlicher Vorschriften und festgestellter städtebaulicher Pläne mit verbindlichen Regelungen der in § 9 BBauG/BauGB bezeichneten Art gemäß § 173 Abs. 3 BBauG 1960 steht nicht entgegen, daß sie zur Zweckbestimmung der Baugebiete Begriffe verwenden, die offen sind für eine sich dem Wandel der Lebensverhältnisse anpassende Auslegung.
2. Bei der Auslegung übergeleiteter Bebauungspläne kann die geltende Baunutzungsverordnung Anhaltspunkte für die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe bieten, mit denen die Zweckbestimmung eines Baugebiets (hier: „den Wohnbedürfnissen” zu „dienen”) allgemein festgelegt wird.
3. Auch die in übergeleiteten Bebauungsplänen festgesetzten Baugebiete müssen nach allgemeinen Merkmalen voneinander abgrenzbar sein. Das setzt bei der Bestimmung der in ihnen zulässigen Nutzungen durch Auslegung der Pläne eine typisierende Vorgehensweise (Differenzierung nach Nutzungsarten) voraus.
4. Der Auslegung eines übergeleiteten Bebauungsplans (hier: eines hamburgischen Baustufenplans von 1953) dahin, daß in dem festgesetzten (nicht besonders geschützten) Wohngebiet auch eine Betriebskrankenkasse als kleinere, nicht zentrale Anlage der Verwaltung, ein Laden wie auch eine Arztpraxis zulässig sind, steht bundesrechtlich nichts entgegen.
Normenkette
GG Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3; BBauG 1960 § 173 Abs. 3; BBauG/BauGB § 1; BBauG/BauGB § 9; BBauG/BauGB § 30 Abs. 1; BauNVO 1990 §§ 4, 13, 15 Abs. 1; Hamb.BauPolVO von 1938 § 10 Abs. 4
Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Urteil vom 10.04.1997; Aktenzeichen Bf II 68/96) |
VG Hamburg (Entscheidung vom 26.03.1992; Aktenzeichen 9 VG 2460/90) |
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. April 1997 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Tatbestand
I.
Die Kläger sind Eigentümer eines mit einem fünfgeschossigen Wohnhaus bebauten Grundstücks in H. Sie begehren die Aufhebung einer Baugenehmigung vom 28. Februar 1990, mit der die Beklagte der beigeladenen Eigentümerin des Nachbargrundstücks den „Neubau eines fünfgeschossigen Mehrfamilienhauses mit Gewerbefläche, Arztpraxis und Tiefgarage” genehmigt hat. Der Neubau ist mit gleicher Höhe und gleicher Bautiefe an das Gebäude der Kläger in geschlossener Bauweise angebaut. An der Straßenseite hat er einen Vorbau und an der Rückseite einen in den Gartenbereich hineinragenden Wintergarten. Beide Grundstücke befinden sich im Gebiet des Baustufenplans O. vom 17. November 1953, neu festgestellt durch Verordnung des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg vom 14. Januar 1955.
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren haben die Kläger Klage erhoben, die in beiden Rechtszügen erfolglos geblieben ist. Das Berufungsgericht hat verneint, daß die Baugenehmigung subjektive Rechte der Kläger verletzt. Auf die Revision der Kläger hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 23. August 1996 – BVerwG 4 C 24.94 – (im wesentlichen gleichlautend mit dem in BVerwGE 101, 364 abgedruckten Urteil) das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, auch Gebietsfestsetzungen in übergeleiteten Baustufenplänen vermittelten nachbarlichen Drittschutz.
Während des erneuten Berufungsverfahrens wurde den Klägern der Bescheid vom 31. März 1992 bekanntgegeben. Darin wird für die ursprünglich als Laden vorgesehene Gewerbefläche eine Nutzungsänderungsgenehmigung für die Einrichtung einer Betriebskrankenkasse erteilt. Der Bescheid wurde durch Klageerweiterung in das Berufungsverfahren einbezogen.
Das Berufungsgericht hat nach erneuter Verhandlung mit am 10. April 1997 verkündetem Urteil die Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil – unter Einbeziehung der Klageerweiterung – wiederum zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die Baugenehmigung und die Nutzungsänderungsgenehmigung verletzten keine subjektiven Rechte der Kläger, auch keine solchen, die sich aus bauplanungsrechtlichen Vorschriften ergäben. Zwar sei die Gebietsfestsetzung „Wohngebiet” des übergeleiteten Baustufenplans O. nachbarschützend. Die von den Klägern angegriffene Nutzung der Gebäude widerspreche jedoch nicht den Festsetzungen des Baustufenplans über die Art der zulässigen Nutzung. Das gelte auch für die Arztpraxis und den Ladenvorbau sowie die spätere Änderungsgenehmigung für die Nutzung des Vorbaus und von weiteren Erdgeschoßräumen als Betriebskrankenkasse. Einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB habe es nicht bedurft. Auch für eine Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO bestehe kein Raum.
Nach § 10 Abs. 4 Abschnitt „Wohngebiet W.” der Baupolizeiverordnung für die Hansestadt Hamburg – BPVO – vom 8. Juni 1938 (VBl S. 69), auf deren Grundlage der Baustufenplan erlassen worden sei, dienten die Grundstücke im Wohngebiet den Wohnbedürfnissen. Der Begriff der Wohnbedürfnisse sei weit auszulegen. In einem Wohngebiet seien nicht nur Wohngebäude und die übrigen im Abschnitt W ausdrücklich genannten Nutzungen zulässig. Mit der Zweckbestimmung, den Wohnbedürfnissen zu dienen, sei das Gebiet im Hinblick auf die ihm zuzuordnenden Nutzungen allgemein charakterisiert. Zwar müsse die Wohnnutzung das Gebiet entscheidend prägen; aber andere Nutzungen, die in einem Wohngebiet allgemein auch erwartet würden oder jedenfalls mit ihm verträglich seien, seien nicht ausgeschlossen. Was den Wohnbedürfnissen diene, unterliege dem Wandel der Zeiten. Mit der Abstufung der Baugebiete in fünf Kategorien habe § 10 Abs. 4 BPVO eine vollständige, die unterschiedlichen Nutzungsinteressen berücksichtigende Bodenordnung ermöglichen wollen. Soweit Nutzungen nicht ausdrücklich genannt seien, müßten sie dem nach der Zweckbestimmmung dafür in Frage kommenden Gebiet zugeordnet werden. Zur Konkretisierung des weiten und dynamischen Begriffs der Wohnbedürfnisse eigneten sich die Vorschriften der jeweils geltenden Baunutzungsverordnung. Sie brächten in der Regel zum Ausdruck, was nach allgemeinem Verständnis in für die Wohnnutzung bestimmten Gebieten über die eigentliche Wohnnutzung hinaus als dazugehörig anzusehen oder jedenfalls als verträglich zu beurteilen sei, ohne daß es den Gebietscharakter beeinträchtige. Allerdings könnten die Vorschriften nicht uneingeschränkt herangezogen werden. Die Gebietsdifferenzierungen einerseits der Baupolizeiverordnung und andererseits der Baunutzungsverordnung unterschieden sich. Außerdem habe der Begriff der Wohnbedürfnisse in der Baupolizeiverordnung eine Bandbreite, die mit der Aufzählung der in Wohngebieten der Baunutzungsverordnung zulässigen Anlagen nicht deckungsgleich sein müsse. Der Begriff setze jedenfalls nicht voraus, daß es sich um Anlagen und Nutzungen handele, die stets eine Beziehung zur Versorgung des Wohngebiets haben.
Die genehmigten Nutzungen, die nicht Wohnnutzung seien, seien mit der Wohngebietsausweisung im Baustufenplan O. verträglich. Die Arztpraxis sei als freiberufliche Tätigkeit im Sinne des § 13 BauNVO nach ihrem Umfang so gering, daß sie den Charakter des Wohnhauses nicht in Frage stelle. Die Betriebskrankenkasse im Erdgeschoß habe als Anlage für Verwaltungen im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO zugelassen werden dürfen. Eine – ursprünglich genehmigte – Ladennutzung sei zur Versorgung des Gebiets bereits nach dem Wortlaut von § 10 Abs. 4 W BPVO zulässig gewesen, im übrigen als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO.
Zur Begründung der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision haben die Kläger im wesentlichen ausgeführt:
Die Zulässigkeit von Nutzungen in dem durch Baustufenplan festgesetzten Wohngebiet sei ausschließlich nach § 10 Abs. 4 Abschnitt W BPVO und nicht nach §§ 4 und 13 BauNVO zu beurteilen. Für die hier streitigen Nutzungen stehe das Mischgebiet nach § 10 Abs. 4 Abschnitt M BPVO zur Verfügung, oder es hätten nach § 10 Abs. 6 BPVO Sondergebiete ausgewiesen werden können. In einem Wohngebiet nach § 10 Abs. 4 BPVO dürften die Grundstücke ausschließlich für Wohnzwecke und für „beim Wohnen übliche und zweckmäßige Nutzungen” beansprucht werden. Eine Auslegung an den Maßstäben der Baunutzungsverordnung komme faktisch einer unmittelbaren Anwendung der Baunutzungsverordnung gleich und sei als – planändernder – Eingriff in die Planungshoheit des Plangebers nicht zulässig. Eine solche richterliche Rechtsfortbildung ändere unter Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG bestehendes Recht zugunsten und zulasten einzelner Personen und greife unter Verletzung von Art. 14 GG in das durch den Baustufenplan begründete Austauschverhältnis ein. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für eine Befreiung von den Festsetzungen des Baustufenplans seien nicht gegeben. Schließlich habe das Berufungsgericht den Maßstab des Rücksichtnahmegebots verkannt. Insbesondere die Vielzahl der ansonsten erteilten Ausnahmen und Befreiungen führe zu unzumutbaren Verhältnissen; dies gelte vor allem für die Verschattungen durch die angebauten Wintergärten.
Die Kläger beantragen, unter Änderung der vorinstanzlichen Entscheidungen die Baugenehmigung vom 28. Februar 1990 einschließlich des Widerspruchsbescheids und die Nutzungsänderungsgenehmigung vom 31. März 1992 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt das Berufungsurteil. Der Begriff der Wohnbedürfnisse werde seit jeher weit ausgelegt, nämlich daß er auch die beim Wohnen üblichen und zweckmäßigen Nutzungen umfasse, weil sie – wie eine Arztpraxis – wohnähnlich oder wohnartig oder – wie eine Betriebskrankenkasse als Verwaltung – wohnverträglich ausgeübt würden.
Die Beigeladene verteidigt ebenfalls das Berufungsurteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Kläger ist zulässig, aber nicht begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht nicht.
1. Das Berufungsurteil beruht auf der Annahme, die genehmigten Nutzungen, nämlich außer Wohnungen eine Arztpraxis, eine erdgeschossige gewerbliche Nutzung (Laden) und – anstelle dieser gewerblichen Nutzung – eine Geschäftsstelle einer Betriebskrankenkasse, seien in dem durch den Baustufenplan O. festgesetzten Wohngebiet allgemein zulässig. Zwar hat es sich bei der Auslegung des Baustufenplans und des in einem weiten Sinne verstandenen Begriffs der Wohnbedürfnisse auch auf die Baunutzungsverordnung gestützt und sich dabei hinsichtlich der Betriebskrankenkasse auf § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO 1990 und hinsichtlich der Ladennutzung – hilfsweise – auch auf § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO 1990 bezogen. Es hat jedoch nicht angenommen, diese Nutzungen seien in einem – nicht besonders geschützten – Wohngebiet nach § 10 Abs. 4 Abschnitt W BPVO ebenso wie in einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 BauNVO 1990 nur ausnahmsweise zulassungsfähig.
Der Baustufenplan O. ist mit den ihn ergänzenden baurechtlichen Vorschriften des § 10 Abs. 4 BPVO gemäß § 173 Abs. 3 BBauG als Bebauungsplan übergeleitet worden. Der erkennende Senat hatte bereits in seiner zurückverweisenden Entscheidung vom 23. August 1996 – BVerwG 4 C 24.94 – keinen Anlaß zu Zweifeln daran, auch wenn § 10 Abs. 9 BPVO an der Überleitung nicht teilhat. Solchen Anlaß sieht er auch jetzt nicht.
Die dem Berufungsurteil zugrundeliegende Auslegung des Baustufenplans und des § 10 Abs. 4 Abschnitt W BPVO ist als Auslegung von Landesrecht vom Revisionsgericht nur daraufhin zu überprüfen, ob ihr bundesrechtliche Vorschriften entgegenstehen.
Die vom Berufungsgericht vertretene weite Auslegung des Begriffs der „Wohnbedürfnisse” und der diesen dienenden Anlagen ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden, ebenso nicht, daß das Berufungsgericht als Maßstab für die Konkretisierung eines dynamisch zu verstehenden Begriffs der Wohnbedürfnisse die Baunutzungsverordnung in ihrer geltenden Fassung heranzieht. Die dagegen von der Revision erhobenen rechtlichen Einwände sind nicht begründet.
§ 173 Abs. 3 BBauG steht – auch bei der gebotenen Anlegung verfassungsrechtlicher Maßstäbe – einer weiten Auslegung des Begriffs der Wohnbedürfnisse grundsätzlich nicht entgegen.
Der erkennende Senat hat bereits in dem ebenfalls einen hamburgischen Baustufenplan betreffenden Urteil vom 3. Juni 1971 – BVerwG 4 C 64.69 – (Buchholz 406.11 § 173 BBauG Nr. 8) betont, § 173 Abs. 3 BBauG gebiete im Interesse einer möglichst vollständigen Überleitung eine der Überleitung dienliche Auslegung des überzuleitenden Rechts. Der Gesetzgeber habe Rechtskontinuität gewollt und in dem höheren Abstraktionsgrad bestehender baurechtlicher Vorschriften kein Hindernis für eine Überleitung gesehen. Zwar hat der Senat in seinem zurückverweisenden Urteil vom 23. August 1996 die in der Entscheidung vom 3. Juni 1971 vertretene Auffassung aufgegeben, § 10 Abs. 9 Satz 1 BPVO sei mit einem durch Auslegung zu konkretisierenden Inhalt übergeleitet worden. Er hat aber ausdrücklich nochmals betont, § 173 Abs. 3 BBauG wolle möglichst umfassend die Rechtskontinuität sichern und den planerischen Bestand erhalten. Daran ist festzuhalten.
Der Begriff der „Wohnbedürfnisse” ist ein für die Auslegung offener Rechtsbegriff. Aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 und Art. 19 Abs. 4 GG abzuleitende Bestimmtheitserfordernisse hindern den Normgeber nicht daran, sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, die durch Auslegung zu konkretisieren sind. Das schließt ein, daß die verwendeten Begriffe auch offen sind für ein sich dem Wandel der Lebensverhältnisse anpassendes Verständnis. Auch die Baunutzungsverordnung verwendet ähnliche Begriffe, die für eine „dem Wandel der Zeiten” anpassungsfähige Auslegung offen sind, wie z.B. den Begriff der „der Versorgung des Gebiets dienenden” Anlagen und Einrichtungen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2, § 4 Abs. 2 Nr. 2) oder den Begriff der Anlagen „zur Deckung des täglichen Bedarfs” (§ 3 Abs. 3 Nr. 1) oder „für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche, sportliche Zwecke” (§ 2 Abs. 3 Nr. 2, § 3 Abs. 3 Nr. 2, § 4 Abs. 2 Nr. 3). Gegen Bestimmtheitsanforderungen aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 oder Art. 19 Abs. 4 GG verstößt das nicht etwa deshalb, weil sich im Laufe der Zeit mit einem Wandel der Lebensverhältnisse und damit des Begriffsverständnisses auch die Art der Anlagen ändern kann, die im jeweiligen Gebiet zulässig sind. Die Auslegung von Vorschriften geschieht regelmäßig vor dem Hintergrund des Verständnisses der Zeit, in der sie anzuwenden sind (vgl. Urteil vom 29. Oktober 1998 – BVerwG 4 C 9.97 – zur Anwendung des in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO verwendeten Begriffs der „der Versorgung des Gebiets dienenden” Gaststätten). Das verstößt auch nicht gegen die Bestandsgarantie des Eigentums. In der Sozialgebundenheit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) ist es mitangelegt, daß sich die Bandbreite von Nutzungsmöglichkeiten und Bindungen des Eigentums entsprechend dem allgemeinen Wandel der Lebensverhältnisse, Lebensgewohnheiten und gesellschaftlichen Anschauungen ändern kann.
Einer weiten Auslegung des Begriffs der Wohnbedürfnisse ist allerdings durch § 173 Abs. 3 BBauG insoweit eine Grenze gezogen, als die Bestimmung der Nutzungen, die in dem Wohngebiet allgemein zulässig sind, nicht der Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde im Einzelfall überlassen bleiben darf. Die konkretisierende Auslegung des Merkmals, daß die Grundstücke den Wohnbedürfnissen dienen müssen, muß vielmehr zu einer typisierenden Bestimmung solcher Nutzungen führen, die ihrer Art nach entweder Wohnen sind oder – wie das Berufungsgericht ergänzt – die in einem Wohngebiet allgemein auch erwartet werden oder jedenfalls mit ihm verträglich sind. Anderenfalls wäre eine den Anforderungen der Rechtssicherheit entsprechende Abgrenzung der von § 10 Abs. 4 BPVO unterschiedenen Baugebiete nach typisierenden Merkmalen nicht gewährleistet. Dies aber setzt § 173 Abs. 3 BBauG für eine Überleitung bestehender städtebaulicher Pläne, die er als Instrumente einer geordneten städtebaulichen Entwicklung erhalten will, voraus. Dieser Anforderung entspricht indes die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des Baustufenplans und des § 10 Abs. 4 Abschnitt W BPVO. Das Berufungsgericht gewinnt Maßstäbe für eine allgemeine Bestimmung der in einem Wohngebiet zulässigen Nutzungen zum einen aus der in § 10 Abs. 4 Abschnitt W Satz 1 BPVO getroffenen Zweckbestimmung des Gebiets. Zum anderen benutzt es zur weiteren Konkretisierung zulässiger Nutzungen als Anhalt die Nutzungsartenkataloge der Baunutzungsverordnung.
Daß das Berufungsgericht von der in § 10 Abs. 4 Abschnitt W BPVO getroffenen Zweckbestimmung des Gebiets auf die in ihm zulässigen Nutzungen schließt, ist bundesrechtlich unbedenklich. Es ist eine naheliegende, ja sogar die in erster Linie in Betracht kommende Auslegungsmethode, weil § 10 Abs. 4 BPVO weitgehend auf eine Konkretisierung der in den verschiedenen Baugebietskategorien zulässigen Nutzungen verzichtet. § 173 Abs. 3 BBauG setzt für die Überleitung nicht voraus, daß die „bestehenden baurechtlichen Vorschriften” in gleicher Weise wie die Baunutzungsverordnung über die Zweckbestimmung der Baugebiete hinaus die in den Baugebieten allgemein und ausnahmsweise zulässigen Anlagen und Einrichtungen in Katalogen konkretisieren und abschließend aufzählen (vgl. Beschluß vom 15. August 1991 – BVerwG 4 N 1.89 – Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 14, S. 31 ≪35≫ = NVwZ 1992, 879). Dieser Methode bedient sich übrigens auch die Baunutzungsverordnung in einigen Fällen, in denen allgemein definierte Nutzungsarten einer weiteren Konkretisierung bedürfen, um gebietsverträglich zu sein, so z.B. in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO (nicht störende Handwerksbetriebe) oder in § 5 Abs. 2 Nr. 6 und § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO (sonstige Gewerbebetriebe); diese Begriffe bedürfen der Konkretisierung nach typisierenden Merkmalen unter Rückgriff auf die im jeweiligen Absatz 1 der Baugebietsvorschrift getroffene Zweckbestimmung des Gebiets.
Die Revision wendet sich zu Unrecht dagegen, daß das Berufungsgericht zur Auslegung des Begriffs der „Wohnbedürfnisse” die Baunutzungsverordnung heranzieht. Das Berufungsgericht bezieht sich auf § 4 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 3 sowie § 13 BauNVO, um einen Maßstab für die Konkretisierung dessen zu gewinnen, was nach den heutigen Lebensverhältnissen und gesellschaftlichen Anschauungen gebietsbezogen „den Wohnbedürfnissen dient”. Das Berufungsgericht sieht in der Baunutzungsverordnung eine Auslegungshilfe, die nicht schematisch auf Wohngebiete nach § 10 Abs. 4 BPVO angewandt werden darf. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden.
Eine sich an den Nutzungsartenkatalogen der Baunutzungsverordnung orientierende Auslegung von übergeleiteten städtebaulichen Plänen hat der Senat auch nicht in seinen Entscheidungen vom 15. August 1991 – BVerwG 4 N 1.89 – (DVBl 1992, 32) und vom 27. Februar 1992 – BVerwG 4 C 43.87 – BVerwGE 90, 57), die in dem die Revision zulassenden Beschluß zitiert sind, ausgeschlossen. Dort ging es um eine unmittelbare Anwendung von Vorschriften der Baunutzungsverordnung auf übergeleitete städtebauliche Pläne bzw. Bebauungspläne, die unter der Geltung einer Vorgängerfassung der Baunutzungsverordnung zustande gekommen sind. Darum geht es hier nicht.
Das Berufungsgericht hat auch nicht schematisch von dem Katalog allgemein und ausnahmsweise zulässiger Nutzungen in § 4 Abs. 2 und 3 BauNVO darauf geschlossen, daß die dort aufgeführten Nutzungen in jeder Beziehung und in gleicher Weise auch in dem durch den Baustufenplan festgesetzten Wohngebiet zulässig seien. Es hat vielmehr ausgeführt, daß § 10 Abs. 4 BPVO die nicht besonders geschützten Wohngebiete umfassender als § 4 BauNVO für Nutzungen öffne, die nicht Wohnen im engeren Sinne seien; es hat dies vor allem mit der gegenüber der Baunutzungsverordnung geringeren Zahl und pauschaleren Gruppierung der nach § 10 Abs. 4 BPVO möglichen Baugebiete begründet. Zwar wäre es bedenklich, wenn das Berufungsgericht angenommen hätte, im Wohngebiet nach § 10 Abs. 4 BPVO seien Betriebskrankenkassen oder – allgemeiner – Anlagen der Verwaltung jedweder Art zulässig. Es hat indes ausgeführt, daß es sich bei den im Wohngebiet zulässigen Anlagen, die nicht zum Wohnen im engeren Sinn genutzt werden, um solche handeln müsse, die das Gebiet nicht prägen, die in einem Wohngebiet – trotz dessen Prägung durch die Wohnnutzung – auch erwartet werden oder die mit einem Wohngebiet verträglich sind, mit anderen Worten also um kleinere, nicht zentrale Einrichtungen der Verwaltung. Gegen eine derart typisierend eingrenzende, auf die Zweckbestimmung des Gebiets bezogene Auslegung des § 10 Abs. 4 Abschnitt W Satz 1 BPVO, wie sie in ähnlicher Weise übrigens auch für den in § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO verwendeten Begriff der Anlagen für Verwaltungen vorzunehmen ist, ist bundesrechtlich nichts einzuwenden. Entsprechendes gilt, soweit das Berufungsgericht eine Ladennutzung oder – allgemeiner – nicht störende Gewerbebetriebe für zulässig erachtet.
2. Das Berufungsgericht verneint eine Verletzung des § 15 Abs. 1 BauNVO (Rücksichtnahmegebot). Die Arztpraxis stelle in dem Wohngebiet die einzige freiberufliche Nutzung dar. Die Betriebskrankenkasse gefährde nicht den Gebietscharakter als Wohngebiet. Obwohl sich in der Umgebung ähnliche Anlagen (Läden, Sparkassenzweigstelle usw.) befänden, bleibe der Gebietscharakter eines allgemeinen Wohngebiets erhalten. Der Augenschein habe auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß von der Arztpraxis oder der Betriebskrankenkasse Störungen für die Nutzung des Grundstücks der Kläger ausgingen. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts einzuwenden.
3. Das Berufungsgericht verneint eine Verletzung von Rechten der Kläger hinsichtlich weiterer baurechtlicher Vorschriften. Die der berufungsgerichtlichen Beurteilung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen binden das Revisionsgericht (§ 137 Abs. 2 VwGO). Soweit es um von den Klägern gerügte Verstöße gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften geht, ist das Revisionsgericht darüber hinaus auch an die dem Berufungsurteil zugrundeliegende Auslegung des Landesrechts gebunden; daß das Berufungsgericht insoweit Bundesrecht verletzt hätte, ist nicht erkennbar. Soweit das Berufungsgericht von den Klägern gerügte Verstöße gegen Bebauungsbaurecht (vordere und hintere Baugrenze) verneint, hat das Revisionsverfahren nicht ergeben, daß das Berufungsurteil Bundesrecht verletzt. Insbesondere hat das Berufungsgericht mit zutreffender Begründung und im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu Recht verneint, daß eine – von den Klägern geltend gemachte – Grundstückswertminderung als solche schon eine Rechtsverletzung im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO darstellt. Das gilt auch dann, wenn – wie die Kläger meinen – eine solche Wertminderung durch eine Vielzahl von Ausnahmen und Befreiungen verursacht wird. Voraussetzung einer verwaltungsgerichtlichen Aufhebung wäre, daß die jeweilige Ausnahme oder Befreiung rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt. Das ist indes aus revisionsrechtlicher Sicht nicht der Fall.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Hien, Lemmel, Heeren
Fundstellen
Haufe-Index 1422555 |
BauR 1999, 730 |
NVwZ 1999, 984 |
ZfBR 1999, 230 |
BRS 1999, 267 |
UPR 1999, 234 |