Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers des “Anstaltsortes”, tatbestandliche Rückanknüpfung an einen gewöhnlichen Aufenthalt vor Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes in den neuen Bundesländern. Sozialhilferecht, Erstattungsansprüche zwischen Sozialhilfeträgern der alten und neuen Bundesländer
Leitsatz (amtlich)
- Für die Erstattung von Kosten nach § 103 Abs. 1 BSHG F. 1991, die nach dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes in den neuen Bundesländern (1. Januar 1991) aufgewendet worden sind, kann auch auf einen im Bereich der neuen Bundesländer vor diesem Zeitpunkt begründeten gewöhnlichen Aufenthalt zurückgegriffen werden (wie BVerwGE 107, 52).
- Erstattungsansprüche von Sozialhilfeträgern der alten gegen Sozialhilfeträger der neuen Bundesländer werden durch die Maßgabe Nr. 3b) der Anlage I Kap. X Sachgebiet H Abschnitt III zum Einigungsvertrag weder dem Grunde noch der Höhe nach eingeschränkt (Fortführung von BVerwGE 107, 52).
Normenkette
BSHG § 103; SGB X § 2 Abs. 3, § 102 Abs. 2
Verfahrensgang
OVG für das Land Brandenburg (Urteil vom 15.04.1999; Aktenzeichen 4 A 102/97) |
VG Cottbus (Entscheidung vom 13.08.1996; Aktenzeichen 3 K 64/94) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Brandenburg vom 15. April 1999 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der Kläger ist überörtlicher Träger der Sozialhilfe in Nordrhein-Westfalen. Er begehrt vom Beklagten die Erstattung der Kosten, die ihm durch die Unterbringung einer 1913 geborenen Hilfeempfängerin in Pflegeeinrichtungen in L.… ab dem 1. Januar 1991, dem In-Kraft-Treten des Bundessozialhilfegesetzes in den neuen Bundesländern, entstanden sind.
Die Hilfeempfängerin wohnte bis zum Sommer 1989 in H.… im heutigen Land Brandenburg. Nach einem Schlaganfall hielt sie sich im Krankenhaus in W.… (Land Brandenburg) auf. Von dort wurde sie am 17. Februar 1990 in das St.-J.-Krankenhaus in L.…, dem Wohnort ihrer Tochter, überführt. Am 18. Februar 1990 wurde sie in H.… polizeilich abgemeldet. Für ihren Krankenhausaufenthalt im St.-J.-Krankenhaus in L.… standen der Hilfeempfängerin nach § 90b BVFG Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu. Am 7. Mai 1990 wechselte die Hilfeempfängerin in das Pflegeheim Haus R.… in L.… und am 11. März 1991 in das C.…-Wohnstift in L.… Die Unterbringungskosten in diesen Pflegeheimen hat der Kläger ab dem 7. Mai 1990 übernommen.
Auf die Klage des Klägers hat das Berufungsgericht unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger die aufgewendeten Kosten für die Hilfeempfängerin ab dem 1. Januar 1991 bis zur Übernahme der Hilfegewährung durch den Beklagten zu erstatten. Die Klage sei als Feststellungsklage zulässig, weil sie weiterreichend als eine Leistungsklage auch die Erstattung noch entstehender und damit weiter aufgewendeter Kosten erfassen könne. Die Klage sei auch begründet, weil der Beklagte kostenerstattungspflichtig sei. Er sei passivlegitimiert, weil er der sachlich zuständige überörtliche Träger im Land Brandenburg sei. Daran habe sich auch nichts durch § 2 Abs. 2 BbgAGBSHG i.d.F. vom 30. April 1996 geändert. Zwar würden danach nunmehr die Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG vom örtlichen Träger der Sozialhilfe wahrgenommen. Das wirke sich aber auf die Passivlegitimation des beklagten Landes deshalb nicht aus, weil die genannten Aufgaben den örtlichen Trägern als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen worden seien. Der Erstattungsanspruch sei nach § 103 BSHG begründet. Dieser Erstattungsanspruch werde nicht durch Überleitungsvorschriften des Einigungsvertrages ausgeschlossen oder eingeschränkt; er gelte auch im Verhältnis von alten zu neuen Bundesländern und werde auch in diesem Verhältnis nicht auf ein geringeres Leistungsniveau eingeschränkt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten. Er beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückzuweisen. Die Klage sei als Feststellungsklage unzulässig, weil der Kläger Leistung hätte begehren können und müssen. Für die Zeit ab 1. Januar 1995 sei der Beklagte nicht passivlegitimiert, weil seitdem die örtlichen Träger der Sozialhilfe zur Wahrnehmung der Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG zuständig seien. § 103 BSHG sei auf Fälle wie den vorliegenden, in denen der Hilfebedürftige aus dem Gebiet eines späteren neuen Bundeslandes vor der Vereinigung bzw. vor dem 1. Januar 1991 in ein altes Bundesland gewechselt sei, nicht anwendbar. Jedenfalls müsste der Erstattungsanspruch nach Maßgabe der Anlage I Kapitel X Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 3 in Verbindung mit Art. 3 des Einigungsvertrages eingeschränkt werden.
Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Beklagten ist zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO), sie ist unbegründet. Denn das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht nicht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Zu Unrecht rügt der Beklagte, ihm sei nicht ausreichendes rechtliches Gehör eingeräumt worden, weil ihm ein in der Urteilsbegründung zitiertes Schreiben der Tochter der Hilfeempfängerin erst im Termin zur mündlichen Verhandlung übergeben worden sei. Das zweiseitige Schreiben war durch Übergabe je einer Kopie an die Vertreter der Parteien zu Beginn der eineinviertel Stunden dauernden mündlichen Verhandlung eingeführt worden, ohne dass der Beklagtenvertreter geltend gemacht hätte, er könne sich dazu nicht äußern. Im Berufungsurteil ist auf dieses Schreiben nur “Im Übrigen” hingewiesen worden, ohne dem Inhalt des Schreibens eine entscheidungstragende Bedeutung beizumessen.
Zutreffend hat das Berufungsgericht entschieden, dass § 43 Abs. 2 VwGO der Zulässigkeit der Feststellungsklage nicht entgegensteht. Denn vom Beklagten, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, als öffentlichem Träger ist zu erwarten, dass er einem Feststellungsurteil Folge leistet.
Zu Recht hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Beklagte zur Kostenerstattung verpflichtet ist, nach § 103 Abs. 1 BSHG F. 1991 für die Zeit bis einschließlich 26. Juni 1993 und nach § 2 Abs. 3, § 102 Abs. 2 SGB X für die Zeit vom 27. Juni 1993 an.
Dem steht nicht der Einwand des Beklagten entgegen, dass er nach dem In-Kraft-Treten des § 2 Abs. 2 BbgAGBSHG nicht mehr passivlegitimiert sei. Denn nach § 173 VwGO, § 562 ZPO ist für die Revisionsentscheidung die Entscheidung des Berufungsgerichts über den Inhalt des § 2 Abs. 2 BbgAGBSHG maßgebend, der nach § 100 Abs. 1 BSHG zulässig landesrechtlich und damit nicht revisibel die Zuständigkeit für die Hilfe nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG regelt.
Das Berufungsgericht hat weiter zu Recht festgestellt, dass die Hilfeempfängerin keinen kostenerstattungsrechtlich relevanten gewöhnlichen Aufenthalt in L.… begründet hatte, bevor sie dort in das Krankenhaus aufgenommen wurde. Nach den unbestrittenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts wurde die Hilfeempfängerin im Februar 1990 unmittelbar aus dem Krankenhaus in W.… in das Krankenhaus in L.… und im Mai 1990 aus dem Krankenhaus in L.… in ein Pflegeheim in L.… überführt. Ob die Absicht bestand, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, kann dahinstehen. Feststeht, dass sich die Hilfeempfängerin in L.… nur in Einrichtungen der in § 103 Abs. 4 BSHG F. 1991 bzw. der in § 97 Abs. 2 BSHG F. 1993 genannten Art aufgehalten hat. Ein solcher Aufenthalt gilt nach § 109 BSHG jedoch nicht als gewöhnlicher Aufenthalt.
Dem Erstattungsanspruch des Klägers nach § 103 Abs. 1 Satz 1 und 2 BSHG F. 1991 steht nicht entgegen, dass der Übertritt aus dem in Art. 3 des Einigungsvertrages (BGBl 1990 II S. 885) – EV – genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) und schon zu einer Zeit erfolgt war (April 1990), als das Bundessozialhilfegesetz dort noch nicht galt. In seinem Urteil vom 15. Juni 1998 – BVerwG 5 C 30.97 – (BVerwGE 107, 52 ≪54≫) hat der Senat bereits festgestellt, dass eine Erstattung nach § 103 BSHG F. 1991 nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil der Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung vor dem In-Kraft-Treten des Bundessozialhilfegesetzes im Beitrittsgebiet liegt, sondern dass auch auf einen im Bereich der neuen Bundesländer vor diesem Zeitpunkt begründeten Aufenthalt zurückgegriffen werden kann. Den insoweit interessierenden Überleitungsvorschriften des Einigungsvertrages in Gestalt der Maßgaben in Anlage I Kapitel X Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 3, ist Abweichendes nicht zu entnehmen (BVerwG, a.a.O., S. 56). Das Kostenerstattungsrecht zwischen Sozialhilfeträgern (§§ 103 ff. BSHG) soll nach dem Willen der vertragschließenden Parteien des Einigungsvertrages ohne Einschränkung auch im Beitrittsgebiet gelten (BVerwG, a.a.O., S. 56). Soweit damit an Aufenthaltsverhältnisse angeknüpft wird, die zeitlich schon vor dem In-Kraft-Treten des Bundessozialhilfegesetzes liegen, ist dies als “unechte Rückwirkung” bzw. “tatbestandliche Rückanknüpfung” verfassungsrechtlich unbedenklich (s. BVerwG, a.a.O., S. 57, unter Hinweis auf BVerfGE 72, 200 ≪242 f.≫; 92, 277 ≪325≫; 95, 64 ≪86≫).
Der Umstand, dass die genannte Entscheidung des Senats einen Erstattungsstreit zwischen Sozialhilfeträgern im Beitrittsgebiet betraf, während es im vorliegenden Rechtsstreit um die Rechtsbeziehung zwischen einem Sozialhilfeträger aus den alten Bundesländern und einem Sozialhilfeträger aus den neuen Bundesländern geht, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung.
Der vom Senat aus den Maßgaben der Anlage I Kapitel X Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 3 zum Einigungsvertrag gezogene Rückschluss, dass die §§ 103 ff. BSHG nach dem Willen der vertragschließenden Parteien ab dem 1. Januar 1991 “ohne Einschränkung auch im Beitrittsgebiet gelten sollen” (BVerwG, a.a.O., S. 56), erstreckt sich auch auf Rechtsbeziehungen zwischen Sozialhilfeträgern in den alten und solchen in den neuen Bundesländern. “Ohne Einschränkung” bedeutet ohne Einschränkung auch hinsichtlich des Kreises der möglichen Anspruchsberechtigten; mit einer solchen Einschränkung wäre es nicht zu vereinbaren, wenn Sozialhilfeträger in den neuen Bundesländern ein generelles Leistungsverweigerungsrecht gegenüber Sozialhilfeträgern in den alten Bundesländern geltend machen könnten (Beschluss des Senats vom 7. März 2000 – BVerwG 5 B 113.99 –).
Der Erstattungsanspruch des Klägers aus § 103 Abs. 1 BSHG F. 1991 ist auch der Höhe nach begründet.
Eine Beschränkung der Höhe nach ist insbesondere nicht – wie dies der Senat in seinem Urteil vom 15. Juni 1998 (a.a.O., S. 56) noch offen lassen konnte – aus “Rücksichtnahme auf die im Beitrittsgebiet vorgefundene, durch ein niedrigeres Einkommens- und Verbrauchsniveau und durch einen kurzfristig nicht behebbaren Mangel an sozialen Diensten und Einrichtungen gekennzeichnete Ausgangslage (geboten), die in Nr. 3b) der (genannten) Maßgaben (des Einigungsvertrages) aufscheint”. Der Senat hat in diesem Urteil bereits festgestellt (a.a.O., S. 56), dass diese Maßgaben dem Wortlaut nach das Kostenerstattungsrecht zwischen Sozialhilfeträgern nicht betreffen. Der aus den Materialien ersichtliche Beweggrund der Parteien des Einigungsvertrages, “Geldleistungen und Einkommensgrenzen zunächst noch abweichend vom Sozialhilferecht der Bundesrepublik unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Einkommenssituation (im Beitrittsgebiet) zu bemessen” (BTDrucks 11/7817, S. 164, zu Abschnitt III Nr. 3), betrifft nur das Leistungsniveau der Sozialhilfe. Eine Anknüpfung an der Höhe der ersparten Aufwendungen des Erstattungspflichtigen statt an der Höhe der aufgewendeten Kosten des Erstattungsberechtigten ist mit dem Erstattungsrecht der §§ 103 ff. BSHG nicht zu vereinbaren. Nach § 111 BSHG sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Hilfe diesem Gesetz entspricht (Absatz 1 Satz 1); dabei gelten die Grundsätze für die Gewährung von Sozialhilfe, die am Aufenthaltsort des Hilfeempfängers zur Zeit der Hilfegewährung bestehen (Absatz 1 Satz 2). Auf Grund dieser Regelung richtet sich die Höhe des Erstattungsanspruchs nach dem Leistungsumfang, der im Zeitpunkt und am Ort der Hilfeleistung maßgeblich ist. Dies schließt es aus, § 103 BSHG F. 1991 in Anlehnung an das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung bzw. im Sinne eines “Ausgleichsgedankens” so zu verstehen, dass neben der Sonderbelastung des Erstattungsberechtigten auch eine Begünstigung bzw. Entlastung des Erstattungspflichtigen vorausgesetzt wird. Eine solche “Entlastung des Erstattungspflichtigen” stünde auch mit dem Zweck des § 103 BSHG F. 1991 nicht im Einklang. Die Vorschrift dient “dem Schutz der Träger der Sozialhilfe, in deren Bereich sich Anstalten, Heime oder ähnliche Einrichtungen befinden” (BTDrucks 3/1799, S. 58). Der demgegenüber im Schrifttum gezogene und an den Ausschluss bzw. die Einschränkung von Sozialhilfeleistungen aufgrund der ”Überleitungsregelung des Einigungsvertrages zum Schutz der Sozialhilfeträger des Vertragsgebiets vor untragbarer finanzieller Überlastung” anknüpfende Rückschluss “e maiore ad minus”, wonach diese Regelung “erst recht Erstattungsansprüche von Sozialhilfeträgern der alten Bundesländer ausschließen bzw. einschränken (müsse), um diesen Schutzzweck zu erfüllen” (so Putz, NDV 1991, 59 ≪62≫), überzeugt deshalb nicht. Die Überleitungsregelung erfasst, wie dargelegt, das Erstattungsrecht gerade nicht; dessen Regelungen können somit nicht als ein von den Maßgaben des Einigungsvertrages zum sozialhilferechtlichen Leistungsumfang und der Zielsetzung dieser Maßgaben mitumfasstes “minus” angesehen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Fundstellen
Haufe-Index 1351576 |
SGb 2001, 73 |
ZfSH/SGB 2001, 171 |