Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufnahmeverfahren. Übersiedlung nach Deutschland ohne Aufnahmebescheid. deutsche Staatsangehörigkeit des Aufnahmebewerbers. Eheschließung mit einem Deutschen nach der Übersiedlung. besondere Härte
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Verlassen des Aussiedlungsgebiets ohne Aufnahmebescheid mit der nicht nachgewiesenen Behauptung, deutscher Staatsangehöriger zu sein, führte unter dem zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 1. Januar 1993 geltenden Recht nicht zu einer besonderen Härte i.S.d. § 27 Abs. 2 BVFG.
2. Nach dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets eintretende Umstände sind als Härtegründe nicht generell vom Anwendungsbereich des § 27 Abs. 2 BVFG ausgeschlossen (Fortführung von BVerwGE 95, 311 und DVBl 1994, 398).
3. Eine besondere Härte i.S.d. § 27 Abs. 2 BVFG kann auch dann vorliegen, wenn das Ansinnen, zum Zwecke der Durchführung des regulären Aufnahmeverfahrens nach § 27 Abs. 1 BVFG in das Aussiedlungsgebiet zurückzukehren, mit der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Wertentscheidung nicht in Einklang stehen würde.
Normenkette
BVFG § 27 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 10.03.1998; Aktenzeichen 2 A 5167/95) |
VG Köln (Entscheidung vom 18.07.1995; Aktenzeichen 9 K 8538/93) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1998 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheids unter Berufung auf eine besondere Härte nach § 27 Abs. 2 BVFG.
Sie wurde am 14. August 1957 in der Siedlung Krasnoarmeiskaja, Gebiet Dnepropetrowsk, Ukraine, als Tochter des am 8. Dezember 1931 in Rybalskoje (Fischerdorf), Gebiet Dnepropetrowsk, geborenen Jakob G. und dessen Ehefrau Nina, geborene L., geboren. In ihrer Geburtsurkunde ist die Nationalität ihres Vaters mit „Deutscher”, die ihrer Mutter mit „Ukrainerin” angegeben. Großeltern väterlicherseits der Klägerin waren der 1901 in Rybalskoje geborene und bereits 1940 verstorbene Jakob G. und dessen am 20. November 1898 in Eigenfeld, Gebiet Dnepropetrowsk, geborene Ehefrau Anna, geborene J..
Am 27. April 1985 heiratete die Klägerin in Dnepropetrowsk den am 3. März 1959 in der Siedlung Lenin, Bezirk Taldy-Kurgan/Kasachstan geborenen Andreas B.. Aus dieser Ehe stammt die am 7. Februar 1986 geborene Tochter Regina. In deren Geburtsurkunde ist die Nationalität des Vaters mit „Deutscher”, die der Klägerin mit „Ukrainerin” angegeben. Am 5. Februar 1989 wurde die Ehe durch Urteil des Volksgerichts des Bezirks Samarskij der Stadt Dnepropetrowsk geschieden. Andreas B. siedelte am 1. Oktober 1989 nach Deutschland über. Er wurde registriert und erhielt am 16. November 1989 den Vertriebenenausweis A.
Am 18. März 1991 traf auch die Tochter Regina in Deutschland ein. Ihr wurde am 19. September 1991 ein Aufnahmebescheid sowie ein Registrierschein erteilt. Ebenfalls im März 1991 siedelte auch die Klägerin nach Deutschland über und begab sich zu ihrem früheren Ehemann nach M./Baden-Württemberg. Dort haben die Klägerin und Andreas B. vor dem Standesamt am 12. September 1991 erneut die Ehe geschlossen. Nach einer Fehlgeburt ist aus dieser Ehe der am 29. Januar 1994 geborene Sohn Richard hervorgegangen.
Am 31. März 1994 wurde der Klägerin und ihren beiden Kindern durch das Landratsamt T. ein Staatsangehörigkeitsausweis ausgestellt, der bis zum 30. März 2004 gültig ist. Er ist aufgrund von Unterlagen der Einwandererzentralstelle Litzmannstadt ausgestellt worden. Aus ihnen ergibt sich, daß die Großmutter väterlicherseits mit dem damals zwölfjährigen Vater der Klägerin und dessen Schwestern Karoline und Erna im Wege der sog. Administrativumsiedlung am 17. Oktober 1943 von Fischerdorf, Gebiet Dnepropetrowsk, nach Kirschberg, Warthegau, Lager 5, zuzog, durch die Einwandererzentralstelle „geschleust” und am 2. November 1943 zusammen mit ihren Kindern eingebürgert wurde.
Den von der Klägerin bereits am 30. September 1991 gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheids lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 31. März 1992, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 19. November 1993, ab.
Das Verwaltungsgericht hat die darauf erhobene Klage abgewiesen.
Das Berufungsgericht hat die Beklagte hingegen verpflichtet, der Klägerin einen Aufnahmebescheid zu erteilen: Es liege eine sich aus der individuellen Situation der Klägerin ergebende besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG vor. Die Klägerin sei gemäß § 4 Abs. 1 RuStAG deutsche Staatsangehörige seit ihrer Geburt, weil ihr Vater deutscher Staatsangehöriger sei. Er habe die deutsche Staatsangehörigkeit am 2. November 1943 durch Einbürgerung erworben. Die Klägerin sei seit September 1991 mit Herrn B. verheiratet, der jedenfalls Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sei, und habe zwei Kinder, die die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen. Es könne offenbleiben, ob unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 und 4 GG eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG bereits darin liege, daß die Klägerin bei Nichtanerkennung eines Härtefalles zunächst ins Aussiedlungsgebiet zurückkehren und dort ihren Wohnsitz begründen müsse, um das für den Erwerb der Eigenschaft als Aussiedlerin bzw. Spätaussiedlerin erforderliche Aufnahmeverfahren durchzuführen, und dann von ihrem Ehemann und ihren Kindern getrennt leben müßte. Die besondere Härte ergebe sich jedenfalls aus folgenden Erwägungen: Werde nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheides abgelehnt, weil im Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebiets Härtegründe nach § 27 Abs. 2 BVFG nicht vorlägen, verliere der Betroffene nicht endgültig die Möglichkeit, den Status eines Aussiedlers/Spätaussiedlers zu erwerben. Denn nach § 27 Abs. 1 Satz 4 BVFG gelte der Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet als fortbestehend, wenn ein Antrag nach Absatz 2 abgelehnt worden sei und der Antragsteller für den Folgeantrag nach Satz 1 erneut Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten begründe. Nach einer solchen Rückkehr sei in einem laufenden Verfahren so zu befinden, als habe der Betroffene das Aussiedlungsgebiet nicht verlassen. Für ihn gelte erneut u.a. § 27 Abs. 2 BVFG. Er habe, falls er wiederum ohne Aufnahmebescheid ausreise und nunmehr bei der erneuten Ausreise Härtegründe vorlägen, Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids nach dieser Bestimmung. Sofern die Klägerin in das Aussiedlungsgebiet zurückkehre und dort erneut ihren Wohnsitz begründe, lägen die Voraussetzungen eines Härtefalles im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG vor, weil sie von ihrer Familie während der Dauer des Aufnahmeverfahrens getrennt leben müsse. Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG umfasse neben der Freiheit auf Eheschließung und Familiengründung auch das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. Dieses Recht beziehe sich jedenfalls dann auf ein Zusammenleben in der Bundesrepublik Deutschland, wenn alle Familienmitglieder deutsche Staatsangehörige bzw. zumindest Deutsche im Sinne des Grundgesetzes seien und sich damit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG jederzeit in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten dürften. In dieses Recht der Klägerin und damit in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG würde eingegriffen, wenn das Vorliegen einer besonderen Härte im vorliegenden Fall verneint werde. Die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs könne sich bei den vorbehaltlos gewährten Grundrechten aus Art. 6 Abs. 1 und 4 GG nur aus kollidierendem Verfassungsrecht ergeben. Eine derartige Rechtfertigung sei nicht ersichtlich. Der unbestimmte Rechtsbegriff der besonderen Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG sei daher verfassungskonform dahin gehend auszulegen, daß in der vorliegenden Fallgestaltung eine besondere Härte anzunehmen sei. Wenn von vornherein feststehe, daß die Klägerin sich in dem Moment, in dem sie im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 4 BVFG erneut Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten begründe, auf eine besondere Härte berufen könne, sei es unzumutbar und unverhältnismäßig und auch vom Zweck des Aufnahmeverfahrens her nicht gedeckt, von ihr zunächst eine Rückkehr ins Aussiedlungsgebiet zu verlangen. Vielmehr sei in derartigen Fällen der Aufnahmebescheid nachträglich zu erteilen, allerdings nicht bezogen auf den Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebiets, sondern bezogen auf den Zeitpunkt des Eintretens der Härtegründe während des Aufenthalts in Deutschland. Dieser Zeitpunkt liege im September 1991, als die Klägerin ihren Ehemann geheiratet und zudem ihre Tochter einen Aufnahmebescheid erhalten habe. Die Klägerin sei demnach so zu behandeln, als ob sie im September 1991 das Aussiedlungsgebiet verlassen habe. Sie unterfalle der Vorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG, weil sie vor dem 1. Januar 1993 das Aussiedlungsgebiet verlassen habe und dies im Falle eines Obsiegens im vorliegenden Verfahren aufgrund des dann zu erteilenden Aufnahmebescheids im Wege der Aufnahme bzw. im Wege des Aufnahmeverfahrens geschehen sei. Die Klägerin erfülle auch die sonstigen Voraussetzungen im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG. Sie sei Vertriebene im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG, weil sie die Ukraine als deutsche Staatsangehörige verlassen habe.
Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend: Es könne der Auffassung des Berufungsgerichts nicht gefolgt werden, daß bei Ablehnung einer besonderen Härte im vorliegenden Fall in das im Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG liegende Recht der Klägerin auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben im Bundesgebiet rechtswidrig eingegriffen werde, wenn alle Familienmitglieder deutsche Staatsangehörige seien. Das Berufungsgericht übersehe, daß die Klägerin als deutsche Staatsangehörige jederzeit in das Bundesgebiet einreisen könne und es damit ausschließlich selbst in der Hand habe, die eheliche und familiäre Gemeinschaft herzustellen oder nicht. Bei dieser Konstellation sei die Versagung eines Aufnahmebescheids keine besondere Härte, da in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG nicht eingegriffen werde.
Der Oberbundesanwalt führt aus: Der Auffassung des Berufungsgerichts könne nicht gefolgt werden, daß es vom Zweck des Aufnahmeverfahrens nicht gedeckt sei, von dem Aufnahmebewerber zunächst eine Rückkehr in das Aussiedlungsgebiet zu verlangen, wenn – wie hier – von vornherein feststehe, daß der Bewerber sich auf eine besondere Härte berufen könne, sobald er erneut Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet begründet habe. Schon nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 Satz 4 BVFG und dessen systematischer Stellung komme die Wohnsitzfunktion einem Betroffenen, dessen Härtefall nach Absatz 2 dieser Vorschrift abgelehnt worden sei, nur unter der Voraussetzung zugute, daß er für den Folgeantrag nach Satz 1 des Absatzes 1 erneut Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet nehme. Der Fortbestand des früheren Wohnsitzes werde also lediglich für den Fall fingiert, daß der Antragsteller zunächst in das Aussiedlungsgebiet zurückkehre und von dort aus das reguläre Aufnahmeverfahren nach § 27 Abs. 1 BVFG betreibe. Zudem dürfe es sich bei einer Lage, die ausnahmsweise einen Härtefall zu begründen geeignet sei, nie um eine Situation handeln, die der Antragsteller durch ein ihm zurechenbares Verhalten in der Absicht herbeigeführt habe, das Regelerfordernis des § 27 Abs. 1 BVFG zu umgehen. Die durch die Wiederverheiratung der Klägerin mit ihrem früheren Ehemann entstandene Lage habe die Klägerin jedoch erst nachträglich im Bundesgebiet geschaffen. Gerade solche Umstände könnten jedoch nicht als besondere Härte berücksichtigt werden, sondern führten zum Verlust der Voraussetzungen für die Aufnahme im Bundesgebiet, es sei denn, die Klägerin kehre in ihr Herkunftsgebiet zurück, um von dort das reguläre Aufnahmeverfahren zu betreiben. Wenn die Auffassung des Berufungsgerichts richtig wäre, käme es überhaupt nicht darauf an, wann eine als besondere Härte zu bewertende Lage eingetreten sei. Jeder Aufnahmewillige, der das Aussiedlungsgebiet ohne Durchführung des regulären Aufnahmeverfahrens verlasse, habe dann nach der Einreise die Möglichkeit, eine Lage herzustellen, die es nicht zumutbar erscheinen lasse, erneut Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten zu nehmen. Auf diese Weise könnten selbst nach mehrjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet noch „Härtegründe” geschaffen werden. Je länger der Zeitpunkt des Verlassens der Aussiedlungsgebiete zurückliege, desto weniger erscheine dann auch die Rückkehr zur Durchführung des regulären Aufnahmeverfahrens noch zumutbar. Konsequent zu Ende gedacht würde es die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts sogar erlauben, daß ein Aussiedler oder Spätaussiedler, der sich seit Jahren im Bundesgebiet aufhalte, ohne daß bei ihm zu irgendeiner Zeit besondere Gründe im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG vorgelegen hätten, nunmehr einen von vornherein aussichtslosen Härteantrag stelle und nach dessen Ablehnung in das Aussiedlungsgebiet zurückkehre, um dann von dort aus auf der Grundlage des § 27 Abs. 1 Satz 4 BVFG das reguläre Aufnahmeverfahren zu betreiben. Auf diese Weise werde aber die Regelvoraussetzung, daß der Aufnahmewillige vor der Aufnahme im Bundesgebiet seinen Wohnsitz unterbrechungslos im Aussiedlungsgebiet gehabt haben müsse, ohne Schwierigkeiten unterlaufen. Das mache deutlich, daß nicht jeder Härtefallantrag dazu führen könne, den früheren Wohnsitz des Aufnahmewilligen als fiktiv fortbestehend anzusehen. § 27 Abs. 2 BVFG könne daher nur so ausgelegt werden, daß die als besondere Härte angesehene Lage schon im Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebiets vorgelegen haben müsse.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Sie meint insbesondere, daß allein schon ihre deutsche Staatsangehörigkeit eine besondere Härte begründe. Sie hat weiter mitgeteilt, daß ihr Ehemann inzwischen verstorben sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Klägerin, die seit ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und die frühere Sowjetunion im März 1991 unter der Geltung der zwischen dem 1. Juli 1990 (Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes – AAG –) und dem 1. Januar 1993 (Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes) maßgebenden Rechtslage verlassen hat, zum Erwerb des erstrebten Aussiedlerstatus (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG) der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids zusteht.
Da sie die frühere Sowjetunion verlassen hat, ohne – wie nach §§ 26, 27 BVFG in der Fassung des AAG erforderlich – die Erteilung eines Aufnahmebescheids dort abzuwarten, kommt als Rechtsgrundlage nur die Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG i.d.F. des AAG in Betracht, nach der in solchen Fällen der Aufnahmebescheid nur erteilt werden kann, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würde und die sonstigen Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG vorliegen, die hier nicht streitig sind. Die Klägerin kann sich jedoch auf eine besondere Härte im Sinne dieser Vorschrift berufen.
Ein Härtegrund liegt hier allerdings – entgegen der in der Revisionserwiderung vertretenen Ansicht der Klägerin – nicht schon darin, daß sie – wie sich nachträglich im Jahre 1994 herausgestellt hat – bei ihrer Übersiedlung nach Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Zwar kann eine nachträgliche Erteilung des Aufnahmebescheids nach der Härtevorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG dann in Betracht kommen, wenn durch das Verlassen des Aussiedlungsgebiets ohne Aufnahmebescheid der in § 27 Abs. 1 BVFG mit dem Erfordernis, die Erteilung des Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck nicht beeinträchtigt wird, weil die nachträgliche Erteilung des Aufnahmebescheids zu einem Ergebnis führt, das dem Regelergebnis in seiner grundsätzlichen Zielrichtung gleichwertig ist (vgl. Urteil vom 26. Januar 1966 – BVerwG 5 C 88.64 – BVerwGE 23, 149 ≪158≫). Dieser Zweck besteht darin, durch eine vorgängige Prüfung der Aussiedlereigenschaft vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets den durch die Veränderungen in den Aussiedlungsgebieten entstandenen erhöhten Zustrom von Ausweisbewerbern in geordnete Bahnen zu lenken (vgl. BTDrucks 11/6937, S. 5 und 6). Dadurch soll verhindert werden, daß Personen nach Deutschland übersiedeln, die nicht „zum schutzbedürftigen Personenkreis des Gesetzes gehören” (BTDrucks 11/6937, S. 5), also die dafür maßgebenden Voraussetzungen nicht erfüllen. Gleichzeitig sollen die in solchen Fällen entstehenden „Belastungen insbesondere für die Kommunen, wie sie durch die Betreuung nicht berechtigter Personen auftreten” (BTDrucks 11/6937, S. 6), vermieden werden. Dieser Gesetzeszweck trifft für die Rechtslage zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 1. Januar 1993 grundsätzlich auch auf Personen zu, die den Aussiedlerstatus unter Berufung auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG erwerben wollten. Aus § 27 Abs. 1 BVFG in der Fassung des AAG ergibt sich eindeutig, daß jemand, der behauptete, deutscher Staatsangehöriger zu sein, die Erteilung des Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet in gleicher Weise abwarten mußte wie jemand, der sich auf seine deutsche Volkszugehörigkeit berief. Auch die Behauptung, deutscher Staatsangehöriger zu sein, bedurfte grundsätzlich zur Vermeidung einer Übersiedlung nicht berechtigter Personen einer vorgängigen Prüfung durch das Bundesverwaltungsamt. Lediglich dann, wenn diese Prüfung bereits vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets mit positivem Ergebnis durch eine deutsche Staatsangehörigkeitsbehörde durchgeführt worden und der Aufnahmebewerber bei seiner Übersiedlung im Besitz eines Staatsangehörigkeitsausweises war, konnte bzw. kann ausnahmsweise etwas anderes gelten (vgl. dazu das Urteil vom heutigen Tage – BVerwG 5 C 8.99 –). So liegt es hier nicht. Der Staatsangehörigkeitsausweis ist der Klägerin erst im März 1994 erteilt worden. Eine nachträgliche, auf diesen Zeitpunkt bezogene Erteilung eines Aufnahmebescheids würde sich im übrigen auch nicht auf den hier maßgebenden Zeitraum zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 1. Januar 1993 beziehen und somit nicht dazu führen, daß die Klägerin als deutsche Staatsangehörige innerhalb dieses Zeitraums das Aussiedlungsgebiet im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat.
Die auch deutsche Staatsangehörige erfassende Obliegenheit, die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, verstößt auch nicht gegen Art. 11 Abs. 1 GG, wie im Urteil vom heutigen Tage – BVerwG 5 C 8.99 – im einzelnen ausgeführt.
Das Berufungsgericht hat jedoch im Ergebnis mit Recht angenommen, daß in den Auswirkungen einer Trennung auf die mit Herrn Andreas B. am 12. September 1991 in M./Baden-Württemberg geschlossene – erneute – Ehe eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG liegt. Denn eine Rückkehr der Klägerin in das Aussiedlungsgebiet zur Durchführung des regulären Aufnahmeverfahrens hätte zur Folge, daß sie von ihrem deutschen Ehemann und darüber hinaus von ihren beiden deutschen Kindern für ungewisse Zeit getrennt leben müßte. Eine besondere Härte kann nicht nur vorliegen, wenn – wie vorstehend ausgeführt – durch die nachträgliche Erteilung eines Aufnahmebescheids der in § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck nicht beeinträchtigt wird. Die Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG erschöpft sich darin nicht. Sie erfaßt vielmehr auch solche vom Regelfall abweichende Fälle, in denen es gerade mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck aufgrund besonderer Umstände übermäßig hart, nämlich im hohen Maße unbillig wäre, den Betreffenden auf die Regelvorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG zu verweisen. So liegt es hier mit der Folge, daß – wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat – der Klägerin ein Aufnahmebescheid nachträglich, bezogen auf den Zeitpunkt der Entstehung des Härtegrundes (Eheschließung am 12. September 1991) zu erteilen ist. Es ist deshalb unerheblich, daß ihr Ehemann – wie der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 26. Juli 1999 mitgeteilt hat – inzwischen verstorben ist.
Die Voraussetzungen für die Annahme einer Härte müssen auch nicht schon vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets erfüllt gewesen sein. § 27 Abs. 2 BVFG hat zwar auch Fälle im Auge, in denen die eine besondere Härte begründenden Umstände bereits beim Verlassen des Aussiedlungsgebiets vorgelegen und die Übersiedlung nach Deutschland ohne Aufnahmebescheid veranlaßt haben, wie dies nach den den Urteilen vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 20.93 – (BVerwGE 95, 311 ≪317≫) und – BVerwG 9 C 343.93 – (DVBl 1994, 938) zugrundeliegenden Sachverhalten der Fall war. Ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor, da die – erste – in der früheren Sowjetunion geschlossene Ehe der Klägerin mit Herrn Andreas B. zur Zeit ihrer Übersiedlung nach Deutschland geschieden war. Erst danach ist die Ehe – erneut – geschlossen worden. Die Klägerin beruft sich damit auf einen Umstand, der erst nach dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets entstanden ist. Das steht der Anwendung des § 27 Abs. 2 BVFG jedoch nicht entgegen. Aus den genannten Urteilen vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 20.93 und 9 C 343.93 – (a.a.O.) ergibt sich nichts anderes, weil seinerzeit wegen fehlenden Anlasses eine Rechtserheblichkeit nachträglich eingetretener Umstände nicht in den Blick genommen wurde. Sie sind nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 2 BVFG vom Anwendungsbereich dieser Vorschrift nicht ausgenommen. Der Wortlaut des § 27 Abs. 2 BVFG besagt nämlich, daß eine nachträgliche Erteilung eines Aufnahmebescheids erfolgen kann, wenn „die Versagung” eine besondere Härte bedeuten würde, diese also gerade durch die Versagung hervorgerufen würde. Damit bleibt auch Raum für die Berücksichtigung nach dem Verlassen des Vertreibungsgebiets eingetretener Umstände, wenn diese eine Rückkehr in das Aussiedlungsgebiet zum Zwecke der Durchführung des regulären Aufnahmeverfahrens in hohem Maße unzumutbar machen.
Das gilt freilich nicht unterschiedslos. Während einerseits bei einer nachträglichen „dramatischen Veränderung der kollektiven Lage von Deutschen in einzelnen Regionen der Aussiedlungsgebiete” (BTDrucks 11/6937, S. 6) oder etwa bei einem dort ausbrechenden, die gesamte Bevölkerung unmittelbar gefährdenden Bürgerkrieg von dem Betroffenen nicht verlangt werden kann, er müsse zum Erwerb der Aussiedler- oder Spätaussiedlereigenschaft in das Aussiedlungsgebiet zurückkehren und von dort aus das reguläre Aufnahmeverfahren nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG betreiben, darf es sich andererseits bei den nachträglich eingetretenen Umständen „nie um eine Situation handeln, die der Antragsteller oder andere Personen durch ein ihnen zuzurechnendes Verhalten mit der Absicht herbeigeführt haben, das Regelerfordernis (des § 27 Abs. 1 BVFG) zu umgehen” (BTDrucks 11/6937, S. 6). Ein solcher auf Umgehung angelegter Umstand kann in der Eheschließung der Klägerin nicht gesehen werden. Sie ist nicht eine bloße „Scheinehe” (vgl. dazu Urteil vom 23. März 1982 – BVerwG 1 C 20.81 – BVerwGE 65, 174 ≪180≫) eingegangen, sondern hat nach ihrer zweiten Heirat eine eheliche Lebensgemeinschaft begründet. Die Ehegatten haben zusammen – einschließlich der Tochter Regina – zunächst in M., und sodann in S., gelebt. Die Klägerin hat eine Fehlgeburt gehabt und später den gemeinsamen Sohn Richard geboren.
Die bei einer Rückkehr in das Aussiedlungsgebiet entstehenden Auswirkungen auf die Ehe der Klägerin, die somit im Rahmen des § 27 Abs. 2 BVFG nicht deswegen unbeachtlich sind, weil die Ehe erst nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland geschlossen wurde, begründen auch eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG. Eine solche Härte kann auch dann vorliegen, wenn das Ansinnen, zum Zwecke der Durchführung des regulären Aufnahmeverfahrens nach § 27 Abs. 1 BVFG in das Aussiedlungsgebiet zurückzukehren, mit Wertentscheidungen des Grundgesetzes nicht in Einklang stehen würde. So ist es hier. Wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, kommt in Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt, eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts zum Ausdruck (BVerfGE 6, 55 ≪72≫). Sie muß bei der Auslegung des einfachen Rechts und insbesondere bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Billigkeits- oder Härteklausel vorliegen, beachtet werden. Die Anwendung einer Härteklausel darf nicht zu einem Ergebnis führen, das mit der in Art. 6 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Wertentscheidung nicht in Einklang steht (BVerfGE 22, 93 ≪98≫). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfaßt auch das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfGE 76, 1 ≪42≫). Es steht weiterhin grundsätzlich allein den Ehepartnern zu, selbstverantwortlich und frei von staatlicher Einflußnahme den räumlichen und sozialen Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens zu bestimmen. Die freie Entscheidung beider Eheleute, gemeinsam im Bundesgebiet zu leben, genießt besonderen staatlichen Schutz, wenn – wie hier – beide Ehepartner Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind (BVerfGE 51, 386 ≪397≫). Der freien Entscheidung der Eheleute unterliegt grundsätzlich auch die Bestimmung, von welchem Zeitpunkt an das eheliche Leben in Deutschland seinen Mittelpunkt haben soll. Auf diese freie Entscheidung würde der Staat jedoch mit dem Ansinnen Einfluß nehmen, der die Aufnahme begehrende – deutsche – Ehegatte eines Deutschen müsse zum Erwerb der Aussiedlereigenschaft in das Aussiedlungsgebiet zurückkehren und von dort aus das reguläre Aufnahmeverfahren betreiben. Die Ehegatten würden dadurch in den ihre Entscheidungsfreiheit beeinflussenden Zwiespalt geraten, entweder die eheliche Lebensgemeinschaft in Deutschland beizubehalten und auf den Aussiedlerstatus des die Aufnahme begehrenden Ehegatten zu verzichten oder umgekehrt auf nicht absehbare Zeit von einem ehelichen Zusammenleben abzusehen, damit der die Aufnahme begehrende Ehegatte den Aussiedlerstatus bzw. Spätaussiedlerstatus erwerben kann. Sie sollen ihre Entscheidung jedoch unbeeinflußt durch etwa drohende Nachteile auf dem Gebiet des Vertriebenenrechts treffen können und sich nicht gezwungen sehen, für ungewisse Zeit auf eine Begründung des Mittelpunkts ihres gemeinsamen Lebens in Deutschland zu verzichten. Die Vorschriften des Vertriebenenrechts über das Aufnahmeverfahren sind deshalb in einer den Entschluß der Ehegatten zur Begründung ihres gemeinsamen Lebensmittelpunkts in Deutschland respektierenden Weise dahin auszulegen, daß in Fällen der vorliegenden Art dem die Aufnahme begehrenden deutschen Ehegatten eine Rückkehr in das Aussiedlungsgebiet jedenfalls dann nicht angesonnen werden kann, wenn die Eheleute dadurch – wie das Berufungsgericht hier stillschweigend angenommen hat – während der Dauer des Aufnahmeverfahrens auf ungewisse Zeit getrennt leben müßten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Bender, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 18.11.1999 durch Müller Angestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BVerwGE, 99 |
NVwZ-RR 2000, 465 |
DÖV 2000, 741 |
DVBl. 2000, 1522 |