Entscheidungsstichwort (Thema)
Übersiedlung nach Deutschland ohne Aufnahmebescheid. besondere Härte. bei der Übersiedlung bestehende Ehe mit einem Deutschen
Leitsatz (amtlich)
Eine besondere Härte i.S.d. § 27 Abs. 2 BVFG kann auch dann vorliegen, wenn die sich aus § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG ergebende Obliegenheit, die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, mit der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Wertentscheidung nicht in Einklang stehen würde.
Normenkette
BVFG § 27 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 09.06.1998; Aktenzeichen 2 A 6944/95) |
VG Köln (Entscheidung vom 13.09.1995; Aktenzeichen 9 K 2067/94) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1998 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 2 BVFG.
Sie wurde am 25. November 1966 in Nowosibirsk, wo ihre Eltern heute noch leben, geboren. Ihr Vater, der 1934 in Leningrad (jetzt: Sankt Petersburg) geborene Eduard R., wurde zusammen mit dessen Vater, also dem Großvater väterlicherseits der Klägerin, Friedrich R., 1942 aus Sankt Petersburg nach Sibirien deportiert. Die Großmutter väterlicherseits, Anna, geborene F., war bereits 1939 in Sankt Petersburg gestorben. Die 1936 geborene Mutter der Klägerin, Frieda, geborene Ri., stammt aus Neuschulz in der vormaligen Autonomen Republik der Wolgadeutschen (sog. Wolga-Republik). Sie wurde mit ihren Eltern, also den Großeltern mütterlicherseits der Klägerin, dem 1908 in Neuschulz geborenen Gottfried Ri. und seiner 1911 ebenfalls dort geborenen Ehefrau Christina, bei Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges ebenfalls nach Sibirien deportiert. Die Großeltern mütterlicherseits sind hier verschollen. In der Geburtsurkunde der Klägerin ist die Nationalität ihrer Eltern jeweils mit „Deutscher” bzw. „Deutsche” angegeben. In ihrem eigenen Inlandspaß ist als Nationalität ebenfalls „Deutsche” eingetragen.
Im Jahre 1990 lernte die Klägerin während eines Urlaubs in Bulgarien den 1962 in Krasnojarsk geborenen Andreas F. kennen, der 1978 mit seinen Eltern nach Deutschland übergesiedelt war. Er ist Inhaber des Vertriebenenausweises. Er wohnt in Karlsruhe. Im April 1991 reiste die Klägerin nach Deutschland ein und schloß am 11. Oktober 1991 vor dem Standesamt in K. die Ehe mit Herrn F.
Am 19. Dezember 1991 beantragte sie die Erteilung eines Aufnahmebescheids. Sie gab ihre Muttersprache mit „Deutsch” an. Im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens teilte ihr Ehemann dem Bundesverwaltungsamt mit der Bitte um Beschleunigung des Verfahrens durch Schreiben vom 21. April 1992 mit, die Klägerin sei nach der Heirat nach Rußland zurückgekehrt, weile jetzt aber wiederum aufgrund einer Einladung in Deutschland. Er ergänzte dies später im Widerspruchsverfahren dahin, daß die Klägerin nach der Antragstellung nach Nowosibirsk zu ihren Eltern zurückgekehrt sei und dort drei Monate verbracht habe. Er habe geglaubt, das Verfahren könne beschleunigt werden, wenn seine Ehefrau in Deutschland sei. Deshalb sei er nach Nowosibirsk geflogen und habe seine Ehefrau mitgenommen. Der Schwiegervater der Klägerin, Eugen F., führte in einer Eingabe an den Bundeskanzler ebenfalls aus, die Klägerin sei nach ihrer Heirat nach Nowosibirsk zurückgekehrt. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist in ähnlicher Weise vorgetragen worden, die Klägerin sei nach der Eheschließung wieder nach Rußland zurückgekehrt, weil man ihr fälschlicherweise geraten habe, das Verfahren im Herkunftsland abzuwarten.
Die Beklagte, die beabsichtigte, den Aufnahmebescheid zu erteilen, sah sich hieran jedoch gehindert, weil der Beigeladene seine Zustimmung nach § 28 Abs. 2 BVFG versagte. Sie lehnte deshalb die Erteilung des beantragten Aufnahmebescheids am 7. Januar 1994 ab, weil die Klägerin ihren Wohnsitz in der früheren Sowjetunion aufgegeben habe, ohne die Erteilung eines Aufnahmebescheids abzuwarten; Anhaltspunkte für eine Härte nach § 27 Abs. 2 BVFG lägen nicht vor.
Das Verwaltungsgericht hat die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat hingegen den Anspruch der Klägerin als begründet angesehen: Es liege eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG vor. Sie ergebe sich im vorliegenden Fall aus der individuellen Situation der Klägerin. Abzustellen sei dabei auf den Zeitpunkt Anfang 1992, als die nach ihrer Heirat in der Bundesrepublik Deutschland zu ihren Eltern nach Nowosibirsk zurückgekehrte Klägerin endgültig in das Bundesgebiet übergesiedelt sei. Dabei gehe der Senat davon aus, daß die Klägerin, die nach ihrer Eheschließung mit Herrn Andreas F. am 11. Oktober 1991 in das Aussiedlungsgebiet zurückgekehrt sei, um dort die Erteilung des am 19. Dezember 1991 beantragten Aufnahmebescheids abzuwarten, ihren Wohnsitz und Lebensmittelpunkt im Jahre 1991 noch nicht nach Deutschland verlegt gehabt habe. Es spreche nichts dafür, daß die Klägerin sich Ende 1991/Anfang 1992 nur besuchsweise bei ihren Eltern in Rußland aufgehalten habe. Die mehrmonatige Rückkehr dorthin trotz der Eheschließung in Deutschland ergebe nur dann einen Sinn, wenn die Klägerin, wie sie vorgetragen habe, sich zuvor nur besuchsweise in Deutschland aufgehalten habe und das Aufnahmeverfahren vom Aussiedlungsgebiet habe durchführen wollen. Anfang 1992 hätten die Voraussetzungen eines Härtefalles jedoch vorgelegen, weil die Klägerin von ihrem bereits seit längerer Zeit im Bundesgebiet lebenden Ehemann während der Dauer des Aufnahmeverfahrens für eine Anfang 1992 nicht absehbare längere Zeit habe getrennt leben müssen. Bei der Auslegung des § 27 Abs. 2 BVFG sei Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Der Schutzbereich dieser Bestimmung umfasse neben der Freiheit auf Eheschließung und Familiengründung auch das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei allerdings anerkannt, daß sich der Schutz aus Art. 6 Abs. 1 GG für das eheliche Zusammenleben nicht uneingeschränkt auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beziehe, wenn mindestens ein Ehepartner nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Die freie Entscheidung beider Eheleute, gemeinsam im Bundesgebiet zu leben, verdiene jedoch bereits dann besonderen staatlichen Schutz, wenn nur einer der Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Das gelte jedenfalls dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – der eine Ehepartner bereits seit Jahren zumindest die Eigenschaft als Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG besitze und seit Jahren seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland habe. Dem trage auch das Ausländerrecht Rechnung, indem es in § 23 Abs. 1 AuslG dem ausländischen Ehepartner eines Deutschen grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einräume. Dieser besondere Schutz führe im vorliegenden Fall dazu, daß der Klägerin nicht entgegengehalten werden könne, daß sie die Erteilung des Aufnahmebescheids im Herkunftsgebiet abwarten müsse. Das Interesse ihres deutschen Ehemannes daran, seine Ehe als eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner im Bundesgebiet zu führen, sei Bestandteil der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznorm und bei Auslegung des § 27 Abs. 2 BVFG zu berücksichtigen. In dieses Recht und damit in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG werde aber eingegriffen, wenn das Vorliegen einer besonderen Härte im vorliegenden Fall verneint werde. Die Rechtfertigung eines solches Eingriffes könne sich bei dem vorbehaltlos gewährten Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG nur aus kollidierendem Verfassungsrecht ergeben. Eine derartige Rechtfertigung sei nicht ersichtlich. Das öffentliche Interesse, den Zustrom der Aufnahmebewerber in geordnete Bahnen zu lenken, habe keinen Verfassungsrang. Der unbestimmte Rechtsbegriff der besonderen Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG sei daher verfassungskonform dahin auszulegen, daß in der vorliegenden Fallgestaltung eine besondere Härte anzunehmen sei. Die Klägerin erfülle auch die sonstigen Voraussetzungen im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG. Sie sei als deutsche Volkszugehörige Vertriebene im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG. Hiervon seien die Beklagte und der Beigeladene auch übereinstimmend ausgegangen.
Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend: Das Berufungsgericht übersehe mit seiner Auffassung, daß die Klägerin nicht gezwungen sei, getrennt von ihrem Ehemann zu leben. Sie habe vielmehr Anspruch auf Familienzusammenführung nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AuslG. Es werde daher in Fällen wie dem vorliegenden nicht in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG eingegriffen. Es bestehe daher auch kein Anlaß zu einer verfassungskonformen Auslegung des § 27 Abs. 2 BVFG. Auch der Normzweck des § 27 Abs. 2 BVFG rechtfertige das Ergebnis des Berufungsgerichts nicht. Denn irrig wäre die Annahme, durch das Recht der Klägerin zur Einreise aufgrund ihrer Eigenschaft als Ehegattin eines deutschen Staatsangehörigen sei der Zweck der Regelung entfallen, wonach Ausländer grundsätzlich nur im Wege des Aufnahmeverfahrens nach Deutschland kommen können. Auch in dem Fall, daß ein Aufnahmebewerber wegen eines von vertriebenenrechtlichen Vorschriften unabhängigen Aufenthaltsrechts auf Dauer im Bundesgebiet seinen Wohnsitz nehmen könne, bestehe sowohl ein öffentliches Interesse als auch ein Interesse des Aufnahmebewerbers daran, vor der Einreise über den zu erwartenden Status Klarheit zu gewinnen. Weiterhin sei zu berücksichtigen, daß die Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG dem Zweck diene, atypische Situationen zu erfassen, in denen das Erfordernis, den Ausgang des Aufnahmeverfahrens im Herkunftsgebiet abzuwarten, zu unbilligen Ergebnissen führen würde. Die hier vorliegende Sachlage, daß im Bundesgebiet lebende und als Vertriebene anerkannte Personen später Ehen mit Partnern aus den Aussiedlungsgebieten schlössen, sei jedoch gerade kein Ausnahmefall und eindeutig voraussehbar, so daß sie bei einem entsprechenden Willen des Gesetzgebers einer besonderen Regelung zugänglich gewesen sei.
Der Oberbundesanwalt trägt vor: Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts sei die Klägerin bereits verheiratet gewesen, als sie das Aussiedlungsgebiet endgültig verlassen habe. Zu diesem für die Voraussetzungen des § 27 Abs. 2 BVFG maßgebenden Zeitpunkt habe mithin die vom Berufungsgericht als besondere Härte angesehene Trennung der Klägerin von ihrem in der Bundesrepublik lebenden deutschen Ehemann vorgelegen. Sie sei damit bereits zu der Zeit, als sie das Vertreibungsgebiet auf Dauer verlassen habe, aus Gründen, die von ihr schon mit Rücksicht auf Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vertreten seien, an der Einhaltung des Regelerfordernisses des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG gehindert gewesen. Vor diesem Hintergrund sei die Auffassung der Revision, der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG sei nicht berührt, da der Aufnahmebewerber Anspruch auf Familienzusammenführung nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG habe, in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Da ein Aufnahmebescheid nach § 27 Abs. 2 BVFG solchen Bewerbern erteilt werde, die sich bereits im Geltungsbereich des Gesetzes aufhielten, beziehe sich die Härtefallregelung typischerweise gerade auf Personen, die ein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet hätten. In Widerspruch hierzu führe die Auffassung der Revision dazu, daß in Fällen eines Anspruchs auf Familienzusammenführung nach dem Ausländergesetz eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG unter dem bedeutsamen Blickwinkel des Schutzes von Ehe und Familie überhaupt nicht entstehen könne.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht entschieden, daß der Klägerin, die unstreitig deutsche Volkszugehörige ist, zur Erlangung des von ihr erstrebten Aussiedlerstatus (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG) der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids zusteht.
Da sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts unter der Geltung des zwischen dem 1. Juli 1990 (Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes) und dem 1. Januar 1993 (Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes) maßgebenden Rechts die frühere Sowjetunion Anfang 1992 durch Aufgabe ihres Wohnsitzes verlassen hat, ohne – wie nach §§ 26, 27 BVFG in aller Regel erforderlich – die Erteilung eines Aufnahmebescheids dort abzuwarten, kommt als Anspruchsgrundlage nur die Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG in seiner damaligen Fassung in Betracht, nach der in solchen Fällen ein Aufnahmebescheid nur erteilt werden kann, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würde und – was hier nicht streitig ist – die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die Klägerin kann sich jedoch auf eine besondere Härte im Sinne dieser Vorschrift berufen. Diese liegt in den Auswirkungen einer Trennung auf die – bereits beim Verlassen des Aussiedlungsgebiets bestehende – Ehe der Klägerin mit einem Deutschen i.S. von Art. 116 Abs. 1 GG. Denn das Abwarten der Erteilung des Aufnahmebescheids im Herkunftsland hätte zur Folge gehabt, daß die Klägerin von ihrem bereits seit längerer Zeit in Deutschland lebenden deutschen Ehemann für eine ungewisse Dauer hätte getrennt leben müssen. Sie war deshalb davon befreit, die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten. Der Aufnahmebescheid ist ihr nunmehr nachträglich, bezogen auf den Zeitpunkt der Entstehung des Härtegrunds, zu erteilen und steht einem beim Verlassen des Aussiedlungsgebiets bereits vorliegenden Aufnahmebescheid gleich (Urteil vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 20.93 – ≪BVerwGE 95, 311, 317≫; Urteil vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 343.93 – ≪DVBl 1994, 938≫).
Fälle einer – gerichtlich voll überprüfbaren – besonderen Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG liegen nicht nur – wie im Urteil vom heutigen Tage – BVerwG 5 C 8.99 – unter Bezugnahme auf das Urteil vom 19. April 1994 – BVerwG 9 C 343.93 – (a.a.O.) ausgeführt – dann vor, wenn durch ein Verlassen des Aussiedlungsgebiets ohne Aufnahmebescheid der in § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG zum Ausdruck kommende Zweck nicht beeinträchtigt wird, durch eine vorgängige Prüfung der Aussiedlereigenschaft (bzw. nunmehr der Spätaussiedlereigenschaft) eine Übersiedlung von Personen zu verhindern, die die gesetzlichen Voraussetzungen nach Verlassen des Aussiedlungsgebiets nicht erfüllen. Darin erschöpft sich die Härtevorschrift nicht. Sie erfaßt vielmehr gerade auch solche vom Regelfall abweichende und damit atypische Fälle, in denen es gerade mit Rücksicht auf den genannten Gesetzeszweck übermäßig hart, nämlich unzumutbar oder in hohem Maße unbillig wäre, den Betroffenen darauf zu verweisen, er müsse die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abwarten (vgl. Urteil vom 14. Oktober 1993 – BVerwG 5 C 16.91 – ≪BVerwGE 94, 224, 228≫; siehe auch BTDrucks 11/6937 S. 6). Eine solche besondere Härte kann auch dann vorliegen, wenn die Obliegenheit, die Erteilung des Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, mit Wertentscheidungen des Grundgesetzes nicht in Einklang stehen würde. So liegt es hier, wobei der Ansicht der Beklagten, Eheschließungen der vorliegenden Art seien „eindeutig voraussehbar” und wichen deshalb nicht in atypischer Weise von den Regelfällen ab, nicht gefolgt werden kann.
Wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, kommt in Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt, eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts zum Ausdruck (BVerfGE 6, 55, 72). Sie muß bei der Auslegung des einfachen Rechts und insbesondere bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Billigkeits- oder Härteklausel vorliegen, beachtet werden. Die Anwendung einer Härteklausel darf nicht zu einem Ergebnis führen, das mit der in Art. 6 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Wertentscheidung nicht in Einklang steht (BVerfGE 22, 93, 98). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfaßt – wie das Berufungsgericht weiter zutreffend ausgeführt hat – auch das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfGE 76, 1, 42). Es steht weiterhin grundsätzlich allein den Ehepartnern zu, selbstverantwortlich und frei von staatlicher Einflußnahme den räumlichen und sozialen Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens zu bestimmen. Die freie Entscheidung beider Eheleute, gemeinsam im Bundesgebiet zu leben, genießt besonderen staatlichen Schutz, wenn – wie hier – einer der Ehepartner Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist (BVerfGE 51, 386, 397), wie auch in der Vorschrift des § 23 Abs. 1 AuslG zum Ausdruck kommt. Der freien Entscheidung der Eheleute unterliegt grundsätzlich auch die Bestimmung, von welchem Zeitpunkt an das eheliche Leben in Deutschland seinen Mittelpunkt haben soll. Auf diese freie Entscheidung würde der Staat jedoch mit dem Ansinnen Einfluß nehmen, der die Aufnahme begehrende Ehegatte eines Deutschen müsse bis zur Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet unter Beibehaltung seines Lebensmittelpunkts verbleiben, um den Status als Aussiedler bzw. als Spätaussiedler erwerben zu können. Die Ehegatten würden dadurch in den ihre Entscheidungsfreiheit beeinflussenden Zwiespalt geraten, entweder die eheliche Lebensgemeinschaft in Deutschland zu begründen und auf den Aussiedlerstatus zu verzichten oder umgekehrt – wie hier vom Berufungsgericht festgestellt – auf nicht absehbare Zeit von einem ehelichen Zusammenleben abzusehen, damit der die Aufnahme begehrende Ehegatte den Aussiedlerstatus bzw. den Spätaussiedlerstatus erwerben kann. Sie sollen jedoch ihre Entscheidung unbeeinflußt durch etwa drohende Nachteile auf dem Gebiet des Vertriebenenrechts treffen können und sich nicht gezwungen sehen, für nicht absehbare Zeit auf eine Begründung des Mittelpunkts ihres gemeinsamen ehelichen Lebens in Deutschland zu verzichten. Die Vorschriften des Vertriebenenrechts über das Aufnahmeverfahren sind deshalb in einer den Entschluß der Ehegatten zur Begründung ihres gemeinsamen Lebensmittelpunkts in Deutschland respektierenden Weise dahin auszulegen, daß in Fällen der vorliegenden Art der volksdeutsche Ehegatte die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet jedenfalls dann nicht abzuwarten braucht, wenn die Eheleute bei Befolgung dieser Regel auf nicht absehbare Zeit getrennt leben müßten. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG maßgebend, nach der der Aufnahmebescheid nachträglich zu erteilen ist, wenn – wie hier – die sonstigen Voraussetzungen vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Dr. Bender, Schmidt, Dr. Franke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 18.11.1999 durch Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BVerwGE, 106 |
FamRZ 2000, 1013 |
NVwZ-RR 2000, 467 |
DÖV 2000, 741 |