Entscheidungsstichwort (Thema)
Unbegründeter Antrag auf Wiederaufgreifen eines vertriebenenrechtlichen Aufnahmeverfahrens
Leitsatz (amtlich)
Ob neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG eine dem Aufnahmebewerber günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, ist auf der Grundlage der den bestandskräftigen Bescheid tragenden Rechtsauffassung zu beurteilen und nicht auf der Grundlage der heutigen Rechtsauffassung oder damaligen objektiven Rechtslage. Bei gerichtlicher Bestätigung des bestandskräftigen Bescheides ergibt sich die nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG maßgebliche Rechtsauffassung aus den tragenden rechtlichen Erwägungen der ihn bestätigenden gerichtlichen Entscheidung (wie BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - BVerwGE 159, 136 Rn. 26).
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 03.12.2021; Aktenzeichen 11 A 2962/20) |
VG Köln (Urteil vom 02.09.2020; Aktenzeichen 10 K 4213/18) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der am 14. Juni 1973 geborene Kläger ist kasachischer Staatsangehöriger. Er begehrt die Aufnahme als Spätaussiedler.
Rz. 2
Der Kläger beantragte erstmals im November 2002 die Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz aus Kasachstan. Zugleich betrieb die im August 1941 geborene Mutter des Klägers ihrerseits ein Aufnahmeverfahren. Mit Bescheiden vom 13. Mai 2005 lehnte das Bundesverwaltungsamt beide Aufnahmeanträge ab. Zur Begründung der Ablehnung des Antrags der Mutter des Klägers führte es aus, diese habe nicht den Nachweis erbracht, deutsche Volkszugehörige zu sein. Es sei davon auszugehen, dass in ihrem ersten Inlandspass eine andere Nationalität als die deutsche eingetragen gewesen sei und sie sich daher nicht durchgängig zum deutschen Volkstum bekannt habe. Zudem könne nicht von einer familiären Vermittlung der deutschen Sprache ausgegangen werden, da sie nur über unzureichende deutsche Sprachkenntnisse verfüge, die für ein einfaches Gespräch keinesfalls ausreichten. Die Ablehnung des Aufnahmeantrags des Klägers stützte das Bundesverwaltungsamt auf die mangelnde Erbringung des Nachweises zum einen der Abstammung von zumindest einem deutschen Volkszugehörigen und zum anderen eines durchgängigen Bekenntnisses zum deutschen Volkstum.
Rz. 3
Im März 2017 suchte der Kläger erneut um seine Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz nach. Seinem Antrag beigefügt waren unter anderem eine im Jahr 2016 ausgestellte Geburtsurkunde, die seine Mutter mit deutscher Nationalität ausweist, sowie weitere im gleichen Jahr ausgestellte Personenstandsurkunden, die ihn mit deutscher Nationalität ausweisen. Im Dezember 2017 lehnte das Bundesverwaltungsamt ein Wiederaufgreifen des Verfahrens ab. Weder habe sich die Rechtslage nachträglich zugunsten des Klägers geändert, da sich durch das Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 6. September 2013 (BGBl. I S. 3554) nicht sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen, die die Ablehnung des ersten Aufnahmeantrags getragen hätten, nachträglich geändert hätten, noch ermöglichten die von dem Kläger in das Verfahren eingeführten Urkunden im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG eine diesem günstigere Entscheidung. Ebenso wenig sei das Verfahren gemäß § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG wiederaufzugreifen. Widerspruch und Klage sind ohne Erfolg geblieben. Im Februar 2021 hat das Bundesverwaltungsamt zugunsten der Mutter des Klägers festgestellt, dass diese nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet die Voraussetzungen als Spätaussiedlerin im Sinne des § 4 BVFG erfülle.
Rz. 4
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Ein Wiederaufnahmegrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sei nicht gegeben. Die Rechtslage habe sich nicht zugunsten des Klägers geändert, da es an einer solchen Änderung jedenfalls hinsichtlich des für die bestandskräftige Ablehnung (mit-)ausschlaggebenden Ablehnungsgrunds der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen fehle. Die mit dem Zehnten Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes bewirkten Erleichterungen der Anforderungen an das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und an den Nachweis ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache stünden mit der für die Ablehnung ausschlaggebenden fehlenden Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen in keinem Zusammenhang. Eine rechtserhebliche Änderung der Sachlage liege ebenfalls nicht vor. Der der Mutter des Klägers zwischenzeitlich erteilte Aufnahmebescheid ermögliche keine für diesen günstigere Entscheidung. Im Rahmen von § 6 BVFG sei für die Frage der Abstammung nicht nur hinsichtlich der Rechts-, sondern auch hinsichtlich der Sachlage auf die deutsche Volkszugehörigkeit der Bezugsperson im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers abzustellen. Eine spätere Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit der Bezugsperson sei daher unerheblich. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts inzwischen geklärt sei, dass dem Vertriebenenrecht ein generationenübergreifender Abstammungsbegriff zugrunde liege und dass für die Frage der Abstammung auf die deutsche Volkszugehörigkeit der Bezugsperson im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers abzustellen sei, führe dies schon deshalb nicht zu einem Wiederaufgreifen, weil die Klärung einer Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ebenso wie eine Änderung dieser Rechtsprechung regelmäßig keine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG begründe. Insoweit sei es auch unerheblich, dass die Frage der Abstammung des Klägers von seiner Mutter nunmehr unter Rückgriff auf die Grundsätze der Rechtsprechung zu § 6 BVFG in der vor dem 1. Januar 1993 gültigen Fassung zu beurteilen wäre mit der Folge, dass - anders als im Erstverfahren - nicht das nicht nachgewiesene Bekenntnis der Mutter zum deutschen Volkstum und die nicht ausreichend innerhalb der Familie vermittelte deutsche Sprache ausschlaggebend wären, sondern allein die Frage, ob die im August 1941 und damit kurz nach dem Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geborene Mutter des Klägers zum Zeitpunkt seiner Geburt als sogenannte "Spätgeborene" deutsche Volkszugehörige gewesen sei, was wohl zu bejahen sei. Das Verfahren sei auch nicht auf der Grundlage des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG wiederaufzugreifen. Weder die vorgelegten jeweils im Jahr 2016 ausgestellten Urkunden noch der der Mutter erteilte Aufnahmebescheid vom 17. Februar 2021 stellten neue Beweismittel im Sinne der Norm dar, da sie keine für den Kläger günstigere Entscheidung herbeigeführt hätten. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Maßgabe des § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG oder auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung. Das Festhalten an dem Ablehnungsbescheid sei nicht "schlechthin unerträglich". Die Beklagte habe ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens fehlerfrei zulasten des Klägers ausgeübt.
Rz. 5
Zur Begründung der durch das Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision führt der Kläger aus, die Sachlage habe sich nachträglich im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu seinen Gunsten geändert. Der seiner Mutter als Spätgeborener im Februar 2021 erteilte Aufnahmebescheid stelle in Verbindung mit den bereits im Aufnahmeverfahren gewonnenen Erkenntnissen eine neue Tatsache im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar. Im Wiederaufnahmeverfahren seiner Mutter habe das Bundesverwaltungsamt deren deutsche Abstammung und deren zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegendes Bekenntnis zum deutschen Volkstum festgestellt. Darüber hinaus sei der Wiederaufnahmegrund des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG erfüllt. Die im Jahr 2016 vorgelegten Personenstandsurkunden sowie der unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Mai 2005 gegenüber seiner Mutter erlassene Aufnahmebescheid stellten im Ausgangsverfahren noch nicht berücksichtigte Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG dar, weil diese Nachweise unter anderem auf neuen Tatsachen beruhten. Jedenfalls habe er einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne. Das Oberverwaltungsgericht habe den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung unbeachtet gelassen. Er habe im Verfahren ausdrücklich geltend gemacht, das Bundesverwaltungsamt habe seinen Erkenntnissen zufolge in vergleichbaren Fällen das Verfahren wiederaufgegriffen.
Rz. 6
Die Beklagte und die Vertreterin des Bundesinteresses verteidigen das Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.
Rz. 8
Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger habe keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des im Jahr 2005 abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens, steht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Rz. 9
Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der hier vorliegenden Verpflichtungsklage grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 17.15 - BVerwGE 156, 164 Rn. 10 m. w. N.). Der von dem Kläger weiterverfolgte Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides beurteilt sich somit grundsätzlich nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102), zuletzt geändert durch Art. 24 Abs. 3 des Gesetzes vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2154), sowie nach dem Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl. I S. 1902), zuletzt geändert durch Art. 162 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). Ein abweichender Beurteilungszeitpunkt ist nur zugrunde zu legen, wenn und soweit das materielle Recht dies ausnahmsweise gebietet.
Rz. 10
Nach einem bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahren kann das (neuerliche) Begehren auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nur Erfolg haben, wenn zuvor ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG (Anspruch auf Wiederaufgreifen (1.)) oder nach § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen nach Ermessen (2.)) erreicht wird (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 19 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018 - 1 C 26.17 - Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 16). Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG (1.), noch vermag er mit Erfolg das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Ermessen gemäß § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG zu begehren (2.).
Rz. 11
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des durch den Bescheid vom 13. Mai 2005 bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens, da nicht bezüglich sämtlicher die ablehnende Entscheidung selbstständig tragenden Gründe ein Wiederaufnahmegrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG vorliegt.
Rz. 12
Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn unter anderem 1. sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat oder 2. neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Dabei bestimmen und begrenzen die mit dem Wiederaufnahmeantrag (und im weiteren Verlauf des Verfahrens) geltend gemachten Wiederaufnahmegründe den Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 20 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 12 m. w. N.).
Rz. 13
Die Befugnis zu einer neuen Sachentscheidung reicht bei § 51 Abs. 1 VwVfG nur so weit, wie dies der festgestellte Wiederaufnahmegrund rechtfertigt. Daraus folgt für den Fall mehrerer selbstständig tragender Ablehnungsgründe, dass es für einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht ausreicht, wenn nur hinsichtlich eines Ablehnungsgrunds ein durchgreifender Wiederaufnahmegrund geltend gemacht wird. Vielmehr muss für einen Anspruch auf Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 VwVfG hinsichtlich jedes die Entscheidung selbstständig tragenden Ablehnungsgrunds ein Wiederaufnahmegrund vorliegen. Denn die Bestandskraft erstreckt sich auf die ausschlaggebenden Ablehnungsgründe. Eine Durchbrechung der Bestandskraft gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG setzt voraus, dass diese tragenden Ablehnungsgründe jeweils durch einen Wiederaufnahmegrund überwunden werden (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 21 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 19 ff.).
Rz. 14
Der Bescheid vom 13. Mai 2005 stützt die Ablehnung des Aufnahmeantrags des Klägers zum einen auf den mangelnden Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit der Mutter des Klägers. Deren deutsche Volkszugehörigkeit sei nicht festgestellt, da sie nicht den Nachweis erbracht habe, sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durchgängig nur zum deutschen Volkstum bekannt zu haben. Sie habe diesbezüglich nicht nachgewiesen, auch in ihrem ersten Inlandspass mit deutscher Nationalität eingetragen gewesen zu sein; es sei vielmehr davon auszugehen, dass in diesem eine andere Nationalität eingetragen gewesen sei. Dessen ungeachtet sei ein etwaiges Bekenntnis nur zum deutschen Volkstum nicht durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache bestätigt worden; die Mutter des Klägers verfüge vielmehr nur über unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache, die einen Schluss auf deren Vermittlung in ihrem Elternhaus nicht zuließen. Zum anderen ist die Ablehnung der Aufnahme des Klägers auf den Umstand gestützt, dass auch dieser sich nicht im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG 2005 durchgängig zum deutschen Volkstum bekannt habe. Durch die Veranlassung der Eintragung der russischen Volkszugehörigkeit in seinen ersten Inlandspass habe er vielmehr selbst entschieden, nicht der deutschen Volkszugehörigkeit angehören zu wollen.
Rz. 15
Hiervon ausgehend kann der Kläger ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht beanspruchen, weil jedenfalls hinsichtlich des - selbstständig tragend verneinten - Abstammungserfordernisses ein Wiederaufnahmegrund weder nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (1.1) noch nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG (1.2) gegeben ist.
Rz. 16
1.1 Eine Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt vor, wenn sich die für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen oder tatsächlichen Grundlagen geändert haben, sodass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 24).
Rz. 17
a) Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt nur vor, wenn die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, also dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, nachträglich geändert werden (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 14 m. w. N.). Eine Änderung rechtlicher Voraussetzungen für den erstrebten Verwaltungsakt, die mit dem im früheren Verfahren ausschlaggebenden Ablehnungsgrund in keinem Zusammenhang steht, ist nicht als Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu qualifizieren. Eine entscheidungserhebliche Änderung der Rechtslage liegt bei der Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsakts nur vor, wenn sie sich gerade auf den im früheren Verfahren ausschlaggebenden Ablehnungsgrund bezieht (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 24.17 - juris Rn. 16 ff.).
Rz. 18
aa) Der Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, in Bezug auf den Ablehnungsgrund der fehlenden Abstammung des Klägers von zumindest einem deutschen Volkszugehörigen habe das am 14. September 2013 in Kraft getretene Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 6. September 2013 (BGBl. I S. 3554) keine Änderung der Rechtslage zugunsten des Klägers bewirkt, da die mit diesem Gesetz erfolgten Erleichterungen der Anforderungen an das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und an die deutschen Sprachkenntnisse mit dem ausschlaggebenden Ablehnungsgrund der fehlenden Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen in keinem Zusammenhang stünden, ist im Ergebnis beizupflichten.
Rz. 19
Mit dem Zehnten Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes wurden Änderungen des § 6 Abs. 2 Satz 1, 2 und 3 BVFG vorgesehen, die die Form und die Durchgängigkeit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und die Modalitäten seiner Bestätigung betrafen (BT-Drs. 17/13937 S. 6). Demgegenüber hat das in § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG statuierte Erfordernis der Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen durch das Änderungsgesetz keine Änderung erfahren.
Rz. 20
Soweit die Mutter des Klägers in Anwendung dieser veränderten Rechtslage und auf der Grundlage der aktuellen Sachlage bei Erteilung ihres Aufnahmebescheides die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG erfüllt hat, ist dies für die im Aufnahmeverfahren des Klägers zu prüfende Voraussetzung der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen ohne Belang. Denn die deutsche Volkszugehörigkeit der die Abstammung vermittelnden Person beurteilt sich nicht nach der aktuellen Sach- und Rechtslage, sondern nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Oktober 2019 - 1 C 43.18 - BVerwGE 167, 9 Rn. 25 und vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 27). Gemessen daran beurteilt sich die Volkszugehörigkeit der im August 1941 und damit kurz nach dem Beginn der Vertreibungsmaßnahmen am 22. Juni 1941 und somit "spätgeborenen" Mutter des Klägers nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Klägers am 14. Juni 1973. Anwendung finden insoweit die Grundsätze der Rechtsprechung zu § 6 BVFG in der bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Fassung. Für die Beurteilung der deutschen Volkszugehörigkeit von nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen im Vertreibungsgebiet geborenen Personen (Spätgeborene) kommt es danach auf die Bekenntnislage innerhalb der Familie und damit auf einen durch die Weitergabe der Bekenntnislage kurz vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen hergestellten Bekenntniszusammenhang an (BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1986 - 9 C 6.86 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 47 S. 24 f. unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 10. November 1976 - 8 C 92.75 - Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 17 S. 15 f.). Die Änderungen, die das Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes bewirkt hat, sind für die Beurteilung der Volkszugehörigkeit der Mutter des Klägers daher ohne Relevanz.
Rz. 21
bb) Mit dem Oberverwaltungsgericht ist auch davon auszugehen, dass eine Änderung der Rechtslage hinsichtlich der im Erstverfahren verneinten Abstammung des Klägers von einer deutschen Volkszugehörigen auch nicht deshalb anzunehmen ist, weil nach Ergehen des früheren Bescheides in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt worden ist, dass dem Vertriebenenrecht ein generationenübergreifender Abstammungsbegriff zugrunde liegt (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Januar 2008 - 5 C 8.07 - BVerwGE 130, 197 Rn. 12 ff. und vom 29. Oktober 2019 - 1 C 43.18 - BVerwGE 167, 9 Rn. 11 ff.) und dass für die Frage der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen hinsichtlich der deutschen Volkszugehörigkeit der Bezugsperson auf die im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers geltende Sach- und Rechtslage abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Oktober 2019 - 1 C 43.18 - BVerwGE 167, 9 Rn. 25 und vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 27).
Rz. 22
Weder die Klärung einer Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung noch eine Änderung dieser Rechtsprechung begründen regelmäßig eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG. Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG erfasst nur einen Wandel der normativen Bestimmungen, nicht aber eine Änderung der Norminterpretation (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 - 5 C 9.11 - BayVBl. 2012, 478 Rn. 27). Gerichtlichen Entscheidungen liegt eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung zugrunde. Sie sind weder geeignet noch darauf angelegt, die Rechtslage konstitutiv zu verändern (BVerwG, Urteile vom 22. Oktober 2009 - 1 C 15.08 - BVerwGE 135, 121 Rn. 21 und vom 11. September 2013 - 8 C 4.12 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 48 Rn. 21 sowie Beschlüsse vom 25. Mai 1981 - 8 B 89.80 und 8 B 93.80 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 9 S. 1 und vom 16. Februar 1993 - 9 B 241.92 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 29 S. 15).
Rz. 23
b) Eine Änderung der Sachlage setzt einen Vergleich der tatsächlichen Situation vor und nach Erlass des früheren Bescheides voraus (OVG Magdeburg, Urteil vom 26. Januar 2000 - A 1 S 174/99 - juris Rn. 27). Sie liegt vor, wenn Tatsachen, die im Zeitpunkt des Erlasses des früheren Bescheides vorlagen und für die behördliche Entscheidung objektiv bedeutsam waren, nachträglich wegfallen oder wenn neue und für die Entscheidung erhebliche Tatsachen nachträglich eintreten (BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 2001 - 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 ≪281≫). Nicht ausreichend ist die Änderung tatsächlicher Umstände, die für die bestandskräftige Ablehnung eines Verwaltungsakts nicht (allein) ausschlaggebend waren (BVerwG, Urteile vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 13 und vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 24).
Rz. 24
Die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, der der Mutter des Klägers erteilte Aufnahmebescheid vom 17. Februar 2021 begründe zwar einen neuen Sachverhalt, ermögliche aber für den Kläger keine günstigere Entscheidung, da für die Frage der Abstammung von einer deutschen Volkszugehörigen allein auf die Sachlage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers abzustellen sei, weshalb eine spätere Feststellung, dass die Bezugsperson deutsche Volkszugehörige sei, unerheblich sei, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 25
Allein das Ergehen eines Aufnahmebescheides gegenüber einem Elternteil vermag den Nachweis der Abstammung des Aufnahmebewerbers von einem deutschen Volkszugehörigen nicht zu erbringen. Eine dahin gehende Feststellungswirkung kommt dem dem Elternteil erteilten Aufnahmebescheid mangels entsprechender gesetzlicher Anordnung nicht zu (zu Begriff und Voraussetzungen der Feststellungswirkung eines Verwaltungsakts vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 2022 - 2 B 5.22 - Buchholz 232.01 § 23 BeamtStG Nr. 4 Rn. 12).
Rz. 26
Dass das Bundesverwaltungsamt mit Bescheid vom 17. Februar 2021 infolge einer Neubeurteilung des Ablehnungsgrunds des fehlenden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und dessen Bestätigung das Vorliegen der Voraussetzungen für die Annahme der Spätaussiedlereigenschaft der Mutter des Klägers festgestellt hat, bewirkt keine Änderung der Sachlage zu dessen Gunsten, da sich insoweit - wie dargestellt - die Volkszugehörigkeit seiner Mutter nach der Sachlage im Zeitpunkt seiner Geburt im Jahre 1973 beurteilt. Das Bundesverwaltungsamt ist in Bezug auf die spätgeborene Mutter des Klägers mit Bescheid vom 13. Mai 2005 selbstständig tragend davon ausgegangen, dass ihr die deutsche Sprache nicht ausreichend innerhalb der Familie vermittelt wurde, sie vielmehr nur über unzureichende Sprachkenntnisse verfügte, die für ein einfaches Gespräch nicht ausreichten. Das Oberverwaltungsgericht hat keine Feststellungen getroffen, dass die diesbezüglich maßgebliche Sachlage bezogen auf das für die Beurteilung maßgebliche Geburtsdatum des Klägers Änderungen unterworfen wäre. Der Umstand, dass dem Kläger eine Prüfung der Volkszugehörigkeit seiner Mutter nach diesen Grundsätzen nie zuteilgeworden ist und sich der Bescheid vom 13. Mai 2005 unter Berücksichtigung der nachträglich ergangenen Rechtsprechung zum Abstammungskriterium als materiell-rechtlich fehlerhaft darstellt, vermag ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht zu rechtfertigen, da dieses Ergebnis unmittelbar Ausfluss des Umstandes ist, dass die Änderung oder Klarstellung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellt. Diesbezügliche materiell-rechtliche Mängel der Erstentscheidung wären seinerzeit mit Rechtsbehelfen geltend zu machen gewesen. Dass diese nicht oder nicht erfolgreich eingelegt wurden, zwingt nicht zu einem Wiederaufgreifen des Verfahrens (BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - BVerwGE 159, 136 Rn. 28).
Rz. 27
Dieses Ergebnis begegnet auch im Lichte der von dem Oberverwaltungsgericht als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen und verneinend zu beantwortenden Frage, ob die nachträgliche Erteilung eines Aufnahmebescheides an die Bezugsperson, auf die auch in der ablehnenden Entscheidung im Erstverfahren abgestellt worden ist, jedenfalls dann eine nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG rechtserhebliche Sachlagenänderung zugunsten des Aufnahmebewerbers darstellt, wenn die Bezugsperson Früh- oder (wie im Falle der Mutter des Klägers) Spätgeborene ist und deswegen nicht erst eine spätere Sachlagenänderung (wie etwa ein später abgegebenes Bekenntnis der Bezugsperson) dazu führt, dass die Bezugsperson die Voraussetzungen für die deutsche Volkszugehörigkeit erfüllt, sondern als Früh- oder Spätgeborene bereits im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers deutsche Volkszugehörige gewesen ist, keinen Bedenken. Das gälte auch für den Fall, dass die Mutter des Klägers bereits im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers als Spätgeborene deutsche Volkszugehörige gewesen sein sollte. Denn der Umstand, dass dies im ersten Aufnahmeverfahren des Klägers nicht erkannt worden ist oder rechtsirrtümlich keine Rolle gespielt hat, ist gerade von der Bestandskraft des Ablehnungsbescheides erfasst. Unerheblich ist deshalb, ob die Bewertung des Berufungsgerichts, die Mutter erfülle die für Spätgeborene entwickelten Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit, auf zutreffenden rechtlichen Maßstäben (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 51.89 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 64 S. 49 ff.) und einer hinreichenden Tatsachengrundlage beruht.
Rz. 28
1.2 Ohne Rechtsverstoß hat das Berufungsgericht auch einen Wiederaufgreifensanspruch nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG verneint. Nach dieser Vorschrift hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG stellt auf den hypothetischen Ausgang des Erstverfahrens bei Berücksichtigung einer neuen Beweislage unter sonst unveränderten Prämissen ab. Folglich bedarf es einer Änderung der Beweislage zur Feststellung des damaligen Sachverhalts; Änderungen des entscheidungserheblichen Sachverhalts unterfallen demgegenüber § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - BVerwGE 159, 136 Rn. 27).
Rz. 29
a) Anders als die von dem Kläger eingereichten Personenstandsurkunden und der zugunsten der Mutter ergangene Aufnahmebescheid ist das angebotene Zeugnis der Mutter des Klägers schon kein "neues" Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 ≪90≫), weil nicht erkennbar ist, weshalb diese nicht bereits im Erstverfahren hätte vernommen werden können.
Rz. 30
b) Hinsichtlich der im Wiederaufgreifensverfahren erstmals vorgelegten Urkunden hat das Oberverwaltungsgericht im Einklang mit § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG erkannt, dass diese keine dem Kläger günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, wenn sie schon im Ausgangsverfahren vorgelegen hätten.
Rz. 31
Das zulässigerweise geltend gemachte neue Beweismittel muss so beschaffen sein, dass es die Richtigkeit der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage des Verwaltungsakts erschüttert, und zu der sicheren Überzeugung führt, dass die Behörde seinerzeit von falschen tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen ist und in Kenntnis der wirklichen Verhältnisse zugunsten des Betroffenen entschieden hätte (BVerwG, Urteil vom 28. Juli 1989 - 7 C 78.88 - BVerwGE 82, 272 ≪277 f.≫ und Beschlüsse vom 29. Oktober 1997 - 7 B 336.97 - VIZ 1998, 86 f., vom 3. Mai 2000 - 8 B 352.99 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 42 und vom 26. Januar 2015 - 3 B 3.14 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 74 Rn. 8 f.). Maßstab ist nicht die damalige objektive Rechtslage, sondern die Rechtsauffassung, die die bestandskräftige Entscheidung im Erstverfahren trägt. Die danach maßgebliche Rechtsauffassung ergibt sich aus der Begründung des Verwaltungsakts, gegebenenfalls in der Gestalt des Widerspruchsbescheides. Wurde der Verwaltungsakt gerichtlich bestätigt, ist die diese Bestätigung tragende Rechtsauffassung maßgeblich (BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - BVerwGE 159, 136 Rn. 26).
Rz. 32
Das Bundesverwaltungsamt hat in dem Bescheid vom 13. Mai 2005 maßgeblich darauf abgestellt, der Kläger habe die Abstammung von einer deutschen Volkszugehörigen nicht nachgewiesen, weil eine deutsche Volkszugehörigkeit seiner Mutter nicht festzustellen sei. Der gegenüber dieser unter dem gleichen Datum ergangene Ablehnungsbescheid beruht unter anderem (selbstständig tragend) darauf, ein durchgängiges Bekenntnis ("nur") zum deutschen Volkstum sei nicht nachgewiesen, weil die Urkunden, die sie als Deutsche auswiesen, nach dem Jahr 1990 neu ausgestellt worden seien, während der erste Inlandspass nicht vorgelegt worden sei.
Rz. 33
Bei Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung hätte das Vorhandensein einer nach dem Jahr 1990 ausgestellten Geburtsurkunde des Klägers, die seine Mutter als deutsche Volkszugehörige auswies, schon im Jahr 2005 zu keiner günstigeren Entscheidung geführt, weil dies die für das Bundesverwaltungsamt entscheidenden Zweifel, ob sich die Mutter bereits bei der Ausstellung ihres ersten Inlandspasses mit 16 Jahren zum deutschen Volkstum bekannt hat, nicht beseitigt hätte. Eine solche nach dem Jahr 1990 ausgestellte Geburtsurkunde des Klägers, die seine Mutter als deutsche Volkszugehörige auswies, lag dem Bundesverwaltungsamt im Übrigen bereits in dem ursprünglichen Verwaltungsverfahren vor. Dem der Mutter des Klägers im Februar 2021 erteilten Aufnahmebescheid kommt in Bezug auf ein durchgängiges Bekenntnis ("nur") zum deutschen Volkstum ebenfalls keine Feststellungswirkung oder eigenständige, von dem tatsächlichen Vorliegen der Voraussetzungen losgelöste Beweiskraft zu.
Rz. 34
Die übrigen im Wiederaufgreifensverfahren vorgelegten Personenstandsurkunden dokumentieren, dass der Kläger, der sich ausweislich seines im ersten Aufnahmeverfahren vorgelegten Inlandspasses zum russischen Volkstum bekannt hat, sich nunmehr zum deutschen Volkstum bekennt. Sie beruhen damit - wie die Revision selbst erkennt - auf veränderten Tatsachen, was einem Wiederaufgreifen wegen neuer Beweismittel nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG gerade entgegensteht. Dessen ungeachtet sind sie für den hier zu führenden Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit der Mutter des Klägers ohne zwingende Aussagekraft.
Rz. 35
2. Der Kläger hat auch nach § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens.
Rz. 36
Die Behörde kann, auch wenn - wie hier - die in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG normierten Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch nicht vorliegen, ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wiederaufgreifen und eine neue, der gerichtlichen Überprüfung zugängliche Sachentscheidung treffen. Hinsichtlich der in § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG zu sehenden Ermächtigung zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne besteht für den Betroffenen allerdings nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 33 m. w. N.). Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 34 m. w. N.).
Rz. 37
Diese Voraussetzungen liegen auf der Grundlage der vom Oberverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht vor. Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Das Absehen von einer Wiederaufnahme ist nicht allein deshalb grob unbillig, weil der bestandskräftige Ablehnungsbescheid auf mehrere tragende Gründe gestützt war und damit eine Klage jedenfalls im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Damit und auch im Übrigen fehlt es an einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides. Allein der Umstand, dass der ablehnende Verwaltungsakt rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt hat, die sich nach der späteren höchstrichterlichen Rechtsprechung als fehlerhaft erwiesen haben, genügt für die Annahme seiner offensichtlichen Rechtswidrigkeit nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 28 m. w. N.).
Rz. 38
Mit dem Vorbringen, die Beklagte habe in vergleichbaren Fällen das Verfahren wiederaufgegriffen, ist der Kläger im revisionsgerichtlichen Verfahren ausgeschlossen. Das Bundesverwaltungsgericht ist in Ermangelung zulässiger und begründeter Verfahrensrügen gemäß § 137 Abs. 2 VwGO an die tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts gebunden. Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe das Vorbringen des Klägers, das Bundesverwaltungsamt verstoße dadurch, dass es in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen einige Verfahren wiederaufnehme und auch zugunsten der Aufnahmebewerber entscheide, gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie gegen die Grundsätze der guten Sitten und von Treu und Glauben, unbeachtet gelassen, obwohl es ihm oblegen hätte zu prüfen, ob und in welchem Maße die Verfahren in vergleichbaren Fällen von dem Bundesverwaltungsamt wiederaufgegriffen worden seien, ist bereits unzulässig. Sie genügt den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO an die Darlegung einer Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) oder des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht (vgl. insoweit nur BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 2022 - 1 B 65.21 - juris Rn. 9). Die insoweit nicht näher substantiierte Berufungsbegründung musste dem Oberverwaltungsgericht keine Veranlassung geben, weitere Aufklärung hinsichtlich der betreffenden Verwaltungspraxis der Beklagten zu betreiben. Erstmals die Revisionsbegründung benennt "als Beispiel" für die im vorinstanzgerichtlichen Verfahren behauptete Praxis des Bundesverwaltungsamts ein konkretes Verfahren. Sonstige Anhaltspunkte für die Annahme, das Bundesverwaltungsamt habe in vergleichbaren Fällen das Verfahren wiederaufgegriffen, waren im Berufungsverfahren weder ersichtlich noch vorgetragen.
Rz. 39
Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung zu. Das Bundesverwaltungsamt hat sein Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens fehlerfrei zulasten des Klägers ausgeübt. Ist die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts nicht "schlechthin unerträglich" und das Wiederaufgreifensermessen damit auf Null reduziert, so ist es in aller Regel - und so auch hier - ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde an der Bestandskraft von Ablehnungen, die mit fehlender Abstammung begründet wurden, generell festhält, obwohl sich die Rechtsprechung zu diesem Begriff mehrfach geändert hat, und damit dem Aspekt der Rechtssicherheit den Vorzug gibt. Ins Einzelne gehender Ermessenserwägungen bedarf es insoweit nicht (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 1.20 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 66 Rn. 36 m. w. N.).
Rz. 40
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
NVwZ-RR 2023, 1011 |
NVwZ-RR 2023, 5 |
DÖV 2023, 1068 |
JZ 2024, 9 |