Leitsatz (amtlich)
Ist die Versagung eines Aufnahmebescheides von mehreren selbstständig tragenden Ablehnungsgründen getragen, reicht es für einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht aus, wenn nur hinsichtlich eines Ablehnungsgrundes ein durchgreifender Wiederaufnahmegrund geltend gemacht wird (Bestätigung von BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370).
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 27.11.2019; Aktenzeichen 11 A 836/17) |
VG Köln (Urteil vom 20.02.2017; Aktenzeichen 7 K 7186/16) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. November 2019 geändert.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 20. Februar 2017 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheides als Spätaussiedlerin nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG).
Rz. 2
Die 1973 in Turkmenistan geborene Klägerin ist ukrainische Staatsangehörige. Im August 1992 beantragte ihre Großmutter unter Vorlage einer Vollmacht für die Klägerin deren Aufnahme nach § 27 Abs. 1 BVFG.
Rz. 3
Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Antrag mit an die Großmutter zugestelltem Bescheid vom 11. Januar 1994 mit der Begründung ab, die Klägerin habe ihre deutsche Volkszugehörigkeit nicht glaubhaft dargelegt. Weder der Vater noch die Mutter seien deutsche Volkszugehörige, sodass es an einer entsprechenden Abstammung fehle. Nach den Antragsangaben verstehe sie lediglich die deutsche Sprache und spreche überhaupt kein Deutsch, sodass auch das Bestätigungsmerkmal der deutschen Sprache nicht erfüllt sei. Durch die Eintragung der russischen Nationalität in ihrem sowjetischen Inlandspass erfülle die Klägerin auch nicht das Erfordernis eines andauernden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum.
Rz. 4
Ein weiterer Aufnahmeantrag vom 8. August 2001 wurde nicht bearbeitet, nachdem die Großmutter der Klägerin auf Aufforderungen des Bundesverwaltungsamtes vom September 2001 und Juni 2002 zur Vorlage von Vollmachten nicht reagiert hatte. Im April 2013 legte die Großmutter der Klägerin Widerspruch ein und beantragte im Dezember 2013 unter Berufung auf das 10. BVFG-Änderungsgesetz die nachträgliche Einbeziehung der Klägerin in ihren eigenen Aufnahmebescheid. Das Bundesverwaltungsamt teilte der Großmutter mit, dass einer nachträglichen Einbeziehung ihre bereits im Jahr 1990 erfolgte Einreise entgegenstehe und die Klägerin nur einen Antrag auf Wiederaufgreifen ihres eigenen abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens stellen könne.
Rz. 5
Mit Bescheid vom 29. April 2016 lehnte das Bundesverwaltungsamt ein Wiederaufgreifen des Aufnahmeverfahrens der Klägerin ab und begründete dies vor allem damit, dass das 10. BVFG-Änderungsgesetz hinsichtlich des Abstammungserfordernisses nicht zu einer Änderung der Rechtslage zugunsten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geführt habe.
Rz. 6
Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruchs machte die Klägerin geltend, ihre Mutter sei ausweislich einer am 15. Juli 2003 ausgestellten Geburtsurkunde sowie einer am 13. Mai 2003 ausgestellten Bescheinigung des ukrainischen Justizministeriums über die Eheschließung (der Mutter) deutscher Nationalität. Nach der Geburtsurkunde der Mutter seien auch die Großeltern deutscher Nationalität gewesen. Die Großmutter mütterlicherseits sei ausweislich einer Einbürgerungsurkunde von 1944 deutsche Staatsangehörige. Durch das 10. BVFG-Änderungsgesetz seien die Voraussetzungen für ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum dahingehend gelockert worden, dass dieses auch durch Sprachkenntnisse unter Vorlage eines B 1-Zertifikats nachgewiesen werden könne.
Rz. 7
Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2016 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch der Klägerin zurück. Der Ablehnungsbescheid vom 11. Januar 1994 sei in Bestandskraft erwachsen. Eventuelle Versäumnisse der Großmutter seien der Klägerin zuzurechnen. Durch das 10. BVFG-Änderungsgesetz habe sich die Rechtslage hinsichtlich des Abstammungserfordernisses nicht zugunsten der Klägerin geändert. Außerdem lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 VwVfG nicht vor, da nicht ersichtlich sei, warum sie ohne grobes Verschulden an einer Geltendmachung im früheren Verfahren gehindert gewesen sei. Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG komme nicht in Betracht. Es seien keine Umstände vorgetragen, die dafür sprächen, dass die Aufrechterhaltung des ablehnenden Bescheides zu schlechthin unerträglichen Zuständen führen würde oder gegen Treu und Glauben verstoße. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des bestandskräftigen Bescheides sei ebenfalls nicht erkennbar.
Rz. 8
Mit der am 17. August 2016 erhobenen Klage führte die Klägerin ergänzend aus, sie habe ihre Großmutter zu keinem Zeitpunkt bevollmächtigt und nicht gewusst, dass die Großmutter für sie einen Aufnahmeantrag gestellt habe und dieser abgelehnt worden sei.
Rz. 9
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 20. Februar 2017 abgewiesen.
Rz. 10
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ergänzend vorgetragen, sie habe von der ersten Antragsablehnung erst anlässlich der Ablehnung des 2001 gestellten Antrags erfahren. Da sie von dem 1992 eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis gehabt habe, hätte das 2001 eingeleitete Verfahren als Erstverfahren durchgeführt werden müssen. Die vollmachtlose Durchführung des Erstverfahrens rechtfertige jedenfalls eine Wiederaufnahme nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG.
Rz. 11
Mit Urteil vom 27. November 2019 hat das Oberverwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens einen Aufnahmebescheid zu erteilen. Das Erstverfahren sei bestandskräftig abgeschlossen. Die Klägerin habe die Stellung eines Aufnahmeantrags und die Entgegennahme des ablehnenden Bescheides durch ihre Großmutter - zumindest konkludent - rückwirkend genehmigt. Ihr Wiederaufgreifensantrag richte sich gegen alle im Bescheid von 1994 aufgeführten Ablehnungsgründe. Hinsichtlich des Fehlens des Bestätigungsmerkmals der deutschen Sprache und des Fehlens eines bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete andauernden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum habe die Klägerin mit dem 10. BVFG-Änderungsgesetz eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geltend gemacht, die auch vorliege. Es könne offenbleiben, ob der im Erstbescheid genannte Grund der fehlenden deutschen Abstammung schon mangels hinreichender Bestimmtheit die Ablehnung nicht selbstständig trage und ob bezüglich eines derart unbestimmt formulierten Ablehnungsgrundes ein Wiederaufgreifensgrund geltend gemacht werden müsse. Jedenfalls sei durch die Vorlage der am 15. Juli 2003 ausgestellten Geburtsurkunde und der am 13. Mai 2003 ausgestellten Bescheinigung des Justizministeriums der Ukraine zur Eheschließung ihrer Mutter, in denen diese mit deutscher Nationalität eingetragen sei, belegt, dass die Mutter spätestens 2003 ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgelegt habe, sodass unter Berücksichtigung dieser geänderten Sach- und Rechtslage das Kriterium der deutschen Abstammung erfüllt sei. § 51 Abs. 2 VwVfG stehe dem Antrag nicht entgegen, weil die Klägerin die 2013 eingetretene Rechtsänderung und die erst in 2003 ausgestellten Urkunden nicht in früheren Verfahren habe geltend machen bzw. vorlegen können. Die Klägerin erfülle auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufnahmebescheides nach §§ 26 und 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung maßgeblichen Fassung. Sie könne ihre deutsche Abstammung von ihrer Großmutter mütterlicherseits ableiten. Diese sei ausweislich der vorgelegten Einbürgerungsurkunde des ehemaligen Deutschen Reiches (schon im Jahr 1944) deutsche Staatsangehörige gewesen. Außerdem sei sie im Jahr 1990 als Vertriebene anerkannt worden und damit deutsche Volkszugehörige. Da die Klägerin ausreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen - GER - nachgewiesen habe, habe sie ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BVFG auf andere Weise abgelegt. In der Angabe der russischen Nationalität in ihrem ersten Inlandspass und in der 1996 ausgestellten Geburtsurkunde ihres Sohnes liege kein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis (mehr). Das für eine Rückgängigmachung der Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität erforderliche positive Verhalten, aus dem sich der Wille ergibt, nur dem deutschen Volk und keinem anderen Volkstum zuzugehören, habe die Klägerin durch den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse erbracht. Dieses ersetze ebenso wie eine Nationalitätenerklärung frühere Bekenntnisse zu einem anderen Volkstum. Deshalb sei es unerheblich, dass die Klägerin nicht versucht habe, ihren Nationalitäteneintrag in der Geburtsurkunde des Sohnes nachträglich zu ändern.
Rz. 12
Die Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG und § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG. Die Klägerin habe hinsichtlich der die Ablehnung im Bescheid vom 11. Januar 1994 selbstständig tragenden fehlenden deutschen Abstammung keinen durchgreifenden Wiederaufnahmegrund geltend gemacht. Insoweit fehle es an einer Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten der Klägerin, weil es für die Abstammung nicht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts, sondern auf den Zeitpunkt der Geburt der Klägerin ankomme. Außerdem stellten deutsche Sprachkenntnisse auf dem Niveau B 1 des GER nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BVFG inzwischen zwar ein gegenüber dem Bekenntnis zum deutschen Volkstum durch eine Nationalitätenerklärung gleichwertiges Bekenntnis auf andere Weise dar, ersetzten aber nicht - wie eine Nationalitätenerklärung - frühere (Gegen-)Bekenntnisse zu einem anderen Volkstum.
Rz. 13
Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil und macht ergänzend geltend, zum Zeitpunkt ihrer Geburt habe bei ihrer Mutter - als Spätgeborener - ein durch Überlieferung volksdeutschen Bewusstseins hergestellter Bekenntniszusammenhang bestanden. Eine Änderung des Nationalitäteneintrages in ihrem Pass und in der Geburtsurkunde ihres Sohnes sei nach ukrainischem Recht nicht möglich; entsprechende Versuche seien erfolglos geblieben.
Rz. 14
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und teilt die Rechtsauffassung der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Rz. 15
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Klägerin habe einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des 1994 abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), ohne dass sich das Berufungsurteil aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Rz. 16
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der hier vorliegenden Verpflichtungsklage grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderungen sind allerdings zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Der von der Klägerin verfolgte Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides beurteilt sich somit grundsätzlich nach § 51 VwVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102), zuletzt geändert durch Art. 5 Abs. 25 des Gesetzes vom 21. Juni 2019 (BGBl. I S. 846), sowie nach dem Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl. I S. 1902), zuletzt geändert durch Art. 162 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). Die durch Art. 1 des Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (im Folgenden: 10. BVFG-Änderungsgesetz) vom 6. September 2013 (BGBl. I S. 3554) bewirkten Änderungen der Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit gemäß § 6 Abs. 2 BVFG gelten danach - abgesehen von einer Anpassung redaktioneller Art durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom 7. November 2015 (BGBl. I S. 1922) - unverändert fort. Ein abweichender Beurteilungszeitpunkt ist nur zugrunde zu legen, wenn und soweit das materielle Recht dies ausnahmsweise gebietet.
Rz. 17
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des von ihrer Großmutter im Jahr 1992 eingeleiteten und durch den Bescheid vom 11. Januar 1994 bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens.
Rz. 18
a) Im Einklang mit Bundesrecht und auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass die Klägerin die Stellung eines Aufnahmeantrags aus eigenem Recht durch ihre Großmutter im Jahr 1992 und die Entgegennahme des diesen Antrag ablehnenden Bescheides vom Januar 1994 zumindest konkludent rückwirkend genehmigt hat. Damit liegt ein ihr zuzurechnender Erstantrag und eine nach § 7 Abs. 1 Satz 1 VwZG wirksame Zustellung an eine von ihr bevollmächtigte Person vor.
Rz. 19
Nach einem bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahren kann das (neuerliche) Begehren auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nur Erfolg haben, wenn zuvor ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG (Anspruch auf Wiederaufgreifen) oder nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen nach Ermessen) erreicht wird (BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018 - 1 C 26.17 - Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 16).
Rz. 20
b) Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts hat die Klägerin keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG. Zwar ist der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens eines unanfechtbar abgeschlossenen Verfahrens auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 Abs. 3 Satz 1 BVFG nicht an eine Frist gebunden. Damit findet § 51 Abs. 3 VwVfG, wonach der Antrag binnen drei Monaten ab Kenntnis von dem Wiederaufnahmegrund gestellt werden muss, keine Anwendung. Die Klägerin hat aber nicht bezüglich aller die ablehnende Entscheidung selbstständig tragenden Gründe einen Wiederaufnahmegrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG geltend gemacht. Danach hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn (1.) sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat; (2.) neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden; (3.) Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind. Dabei bestimmen und begrenzen die mit dem Wiederaufnahmeantrag (und im weiteren Verlauf des Verfahrens) geltend gemachten Wiederaufnahmegründe den Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 12 m.w.N.). Fehlt es bereits an einem Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG, kann dahinstehen, ob und inwieweit ein Wiederaufgreifen (auch) an § 51 Abs. 2 VwVfG scheitert. Danach ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
Rz. 21
Die Behörde darf einen bestandskräftigen Verwaltungsakt nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht beliebig aufheben oder ändern. Die Befugnis zu einer neuen Sachentscheidung reicht bei § 51 Abs. 1 VwVfG nur so weit, wie der festgestellte Wiederaufnahmegrund dies rechtfertigt. Daraus folgt für den Fall mehrerer selbstständig tragender Ablehnungsgründe, dass es für einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht ausreicht, wenn nur hinsichtlich eines Ablehnungsgrundes ein durchgreifender Wiederaufnahmegrund geltend gemacht wird (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 19 m.w.N.). Vielmehr muss für einen Anspruch auf Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 VwVfG hinsichtlich jedes die Entscheidung selbstständig tragenden Ablehnungsgrundes ein Wiederaufnahmegrund vorliegen. Denn die Bestandskraft erstreckt sich auf die ausschlaggebenden Ablehnungsgründe. Eine Durchbrechung der Bestandskraft gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG setzt voraus, dass diese tragenden Ablehnungsgründe jeweils durch einen Wiederaufnahmegrund überwunden werden (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 20). Dies führt nicht zu zufälligen oder gar willkürlichen Ergebnissen. § 51 Abs. 1 VwVfG macht die Durchbrechung der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes gerade davon abhängig, dass sich Faktoren geändert haben, die im ursprünglichen Verfahren für den Inhalt des bestandskräftigen Verwaltungsaktes entscheidend waren. Die von der Behörde angeführten Ablehnungsgründe prägen den Bescheid und sind Anknüpfungspunkt für das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in den Bestand des Bescheides und damit für die Rechtssicherheit. Es entspricht gerade der Funktion der Bestandskraft und bewirkt ungeachtet der bei der Begründung des Erstbescheides möglichen Zufälligkeiten der Heranziehung rechtlich je tragender Gründe keine Willkür, für die Wiederaufgreifensprüfung an die den Bescheid tragenden Gründe anzuknüpfen (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 22).
Rz. 22
aa) Im bestandskräftigen Bescheid vom 11. Januar 1994 wird das Nichtvorliegen der deutschen Volkszugehörigkeit der Klägerin gemäß § 6 Abs. 2 BVFG in der seinerzeit maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2094) - BVFG 1993 - sowohl mit der fehlenden Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen als auch mit dem Fehlen von Bestätigungsmerkmalen und eines ununterbrochenen Bekenntnisses zum deutschen Volkstum begründet. Damit müssen für einen Anspruch auf Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG bezüglich aller drei Ablehnungsgründe durchgreifende Wiederaufnahmegründe dargelegt werden.
Rz. 23
Die vom Oberverwaltungsgericht - ohne abschließende Entscheidung - angesprochenen Zweifel, ob es sich bei den Ausführungen im Bescheid zur "fehlenden Abstammung" um einen den Bescheid selbstständig tragenden Ablehnungsgrund handelt, sind nicht begründet. Dem Bescheid vom Januar 1994 ist zu entnehmen, dass das Bundesverwaltungsamt eine deutsche Volkszugehörigkeit der Klägerin schon wegen der fehlenden deutschen Abstammung verneint hat. Dies wird damit begründet, dass der Vater russischer Volkszugehöriger sei und auch die angeblich deutsche Mutter das Kriterium der deutschen Volkszugehörigkeit nicht erfülle. Ob diese Begründung nach damaliger Rechtslage die Annahme einer nichtdeutschen Abstammung rechtfertigte und - ungeachtet des zeitgleich erlassenen und ebenfalls der Großmutter zugestellten Ablehnungsbescheides im Aufnahmeverfahren der Eltern, in dem die fehlende deutsche Volkszugehörigkeit der Mutter der Klägerin wegen des polnischen Nationalitäteneintrags in deren Inlandspass mit dem Fehlen eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum begründet worden ist - zumindest weiterer Darlegung im Bescheid der Klägerin bedurft hätte, ist allein eine Frage der hinreichenden Begründung und der Rechtmäßigkeit dieses Ablehnungsgrundes. Etwaige Mängel in der Begründung oder der Rechtmäßigkeit dieses Ablehnungsgrundes ändern indes nichts daran, dass das Bundesverwaltungsamt seine Entscheidung nach dem objektiven Empfängerhorizont selbstständig tragend (auch) auf eine fehlende Abstammung gestützt hat.
Rz. 24
Hiervon ausgehend kann sich die Klägerin nicht hinsichtlich aller drei die Ablehnungsentscheidung vom 11. Januar 1994 tragenden Gründe auf § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG berufen. Eine Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt vor, wenn sich die für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen oder tatsächlichen Grundlagen geändert haben, sodass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht (BVerwG, Urteile vom 8. Mai 2002 - 7 C 18.01 - Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 66 S. 68 und vom 10. Oktober 2018 - 1 C 26.17 - Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 18; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 51 Rn. 92). Die Sach- oder Rechtslage muss sich hinsichtlich solcher Umstände geändert haben, die für den bestandskräftigen Verwaltungsakt tatsächlich maßgeblich waren. Nicht ausreichend ist die Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen für den mit der Verpflichtungsklage erstrebten Verwaltungsakt, die für die bestandskräftige Ablehnung nicht (allein) ausschlaggebend waren (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 13).
Rz. 25
Hinsichtlich der im Erstbescheid verneinten deutschen Volkszugehörigkeit der Klägerin liegen zwar bezüglich des Spracherfordernisses sowie des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und dessen Bestätigung (bb), nicht jedoch hinsichtlich des Abstammungserfordernisses (cc) die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor.
Rz. 26
bb) Zutreffend ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin unter Berufung auf das 10. BVFG-Änderungsgesetz und die von ihr inzwischen nachgewiesenen Deutschkenntnisse hinsichtlich des Fehlens des Bestätigungsmerkmals "deutsche Sprache" und des Fehlens eines andauernden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum eine Änderung der Sach- und Rechtslage zu ihren Gunsten geltend gemacht hat. Denn mit § 6 Abs. 2 BVFG 2013 wurden sowohl die Anforderungen an ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum als auch die Anforderungen an die deutschen Sprachkenntnisse erleichtert. Zugleich hat die Klägerin geltend gemacht und durch Vorlage eines entsprechenden Sprachzertifikats nachgewiesen, dass sie inzwischen die für ein Bekenntnis auf andere Weise in bestimmten Fällen ausreichenden Deutschkenntnisse besitzt und im Sinne einer Bekenntnisbestätigung in der Lage ist, ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache zu führen.
Rz. 27
cc) Nicht mit Bundesrecht zu vereinbaren ist hingegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe durch Vorlage von zwei Urkunden aus dem Jahr 2003, aus denen sich ergebe, dass die Mutter spätestens 2003 ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben habe, auch hinsichtlich der im Bescheid vom Januar 1994 verneinten Tatbestandsvoraussetzung der Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen eine Änderung der Sach- und Rechtslage zu ihren Gunsten dargelegt. Soweit das Berufungsgericht diesen Urkunden entnimmt, dass die Mutter der Klägerin damit "nunmehr" das Kriterium der deutschen Volkszugehörigkeit erfülle, bleibt außer Betracht, dass dieses den Urkunden entnommene Bekenntnis der Mutter zum deutschen Volkstum zwar einen neuen Sachverhalt begründet, diese Sachverhaltsänderung aber keine für die Klägerin günstigere Entscheidung erfordert oder ermöglicht. Denn bei § 6 BVFG ist für die Frage der Abstammung auf die deutsche Volkszugehörigkeit der Bezugsperson im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers abzustellen (BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2019 - 1 C 43.18 - BVerwGE 167, 9 Rn. 25). Damit liegt zwar eine Änderung der Sachlage vor, wenn man mit dem Berufungsgericht davon ausgeht, dass die in ihrem eigenen ersten Inlandspass und auch noch in der Geburtsurkunde der Klägerin mit polnischer Nationalität geführte Mutter der Klägerin "spätestens 2003" ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben hat. Diese Änderung erfolgte aber nicht zugunsten der Klägerin, weil es für die Frage der Abstammung allein auf den Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers ankommt und damit ein späteres Bekenntnis der Bezugsperson unerheblich ist.
Rz. 28
Eine Änderung der Rechtslage ist hinsichtlich der im Erstverfahren verneinten Abstammung auch nicht deshalb anzunehmen, weil das Bundesverwaltungsamt hierbei seinerzeit nur auf die Mutter der Klägerin abgestellt hat. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts inzwischen geklärt ist, dass dem Vertriebenenrecht ein generationenübergreifender Abstammungsbegriff zugrunde liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 - 5 C 8.07 - BVerwGE 130, 197), führt dies - ungeachtet des Umstandes, dass sich die Klägerin hierauf nicht berufen hat - schon deshalb nicht zu einem Wiederaufgreifen, weil die Klärung einer Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ebenso wie eine Änderung dieser Rechtsprechung regelmäßig keine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG begründet (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 17).
Rz. 29
dd) Das Berufungsurteil erweist sich in Bezug auf ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Insbesondere stellen die von der Klägerin im Laufe des Wiederaufnahmeverfahrens vorgelegten Urkunden keine neuen Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG dar, die eine für die Klägerin günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden.
Rz. 30
Zwar standen jedenfalls die von der Klägerin im Wiederaufnahmeverfahren vorgelegten Urkunden aus dem Jahr 2003, in denen die Mutter der Klägerin nicht mehr mit polnischer, sondern nunmehr mit deutscher Nationalität geführt wird, der Klägerin im Erstverfahren nicht zur Verfügung. Selbst wenn man diesen Urkunden ein (nachträgliches) Bekenntnis der Mutter zum deutschen Volkstum entnimmt, liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG nicht vor. Denn § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG stellt auf den hypothetischen Ausgang des Erstverfahrens bei Berücksichtigung einer neuen Beweislage unter sonst unveränderten Prämissen ab. Folglich bedarf es einer Änderung der Beweislage zur Feststellung des damaligen Sachverhalts, Änderungen des entscheidungserheblichen Sachverhalts unterfallen hingegen § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - BVerwGE 159, 136 Rn. 27). Maßgeblich für das Bundesverwaltungsamt war bei Ablehnung des Aufnahmeantrags im Jahr 1994, dass die Klägerin - bezogen auf den damaligen Entscheidungszeitpunkt - keine deutsche Volkszugehörigkeit nachgewiesen hatte. An diesem Ergebnis vermögen Urkunden, die sich auf einen später eingetretenen Sachverhalt beziehen, nichts zu ändern.
Rz. 31
Die Einbürgerungsurkunde der Großmutter aus dem Jahr 1944 wäre nur dann ein neues Beweismittel, wenn die Klägerin sie ohne Verschulden im Erstverfahren nicht vorlegen konnte bzw. von ihrer Existenz keine Kenntnis hatte. Dies ist tatrichterlich nicht festgestellt, dürfte allerdings schon daran scheitern, dass sich die Klägerin insoweit das Verhalten und die Kenntnis der Großmutter zurechnen lassen muss, nachdem sie deren Handeln (Antragstellung und Bescheidentgegennahme) nachträglich rückwirkend genehmigt hat. Dessen ungeachtet hätte aber auch diese Urkunde bei einer Berücksichtigung im Erstverfahren keine für die Klägerin günstigere Entscheidung herbeigeführt. Ob diese Voraussetzung vorliegt, ist auf der Grundlage der den bestandskräftigen Bescheid tragenden Rechtsauffassung zu beurteilen und nicht auf der Grundlage der heutigen Rechtsauffassung oder der damaligen objektiven Rechtslage (BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - BVerwGE 159, 136 Rn. 26). Das Bundesverwaltungsamt hat seinerzeit in rechtlicher Hinsicht bei der Frage der Abstammung aber nur auf die Eltern abgestellt. Dass die Mutter der Klägerin durch Geburt auch nicht - abgeleitet von ihrer Mutter - die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, ergibt sich schon daraus, dass eheliche Kinder nach damals geltendem Recht durch Geburt nicht allein abgeleitet von der Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben.
Rz. 32
c) Die Klägerin hat auch nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens. Die Beklagte hat ein Wiederaufgreifen nach diesen Vorschriften vielmehr ermessensfehlerfrei abgelehnt.
Rz. 33
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde, auch wenn - wie hier - die in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG normierten Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch nicht vorliegen, ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wiederaufgreifen und eine neue, der gerichtlichen Überprüfung zugängliche Sachentscheidung treffen. Hinsichtlich der in § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG zu sehenden Ermächtigung zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne, welche die Korrektur inhaltlich unrichtiger Entscheidungen ermöglicht, besteht für den Betroffenen allerdings nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2017 - 6 C 43.16 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 196 Rn. 9 m.w.N.). Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13, vom 20. März 2008 - 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 Aufenthaltsgesetz Nr. 5 Rn. 12 f., vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11, vom 10. Oktober 2018 - 1 C 26.17 - Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 31 und vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 26).
Rz. 34
Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13 und vom 13. Dezember 2011 - 5 C 9.11 - BayVBl 2012, 478 Rn. 29 f.).
Rz. 35
Diese Voraussetzungen liegen auf der Grundlage der vom Oberverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen, an die der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist, nicht vor. Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Das Absehen von einer Wiederaufnahme ist nicht allein deshalb grob unbillig, weil der bestandskräftige Ablehnungsbescheid auf mehrere tragende Gründe gestützt war und damit eine Klage jedenfalls im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Damit fehlt es zugleich an einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit. Dafür, dass die Beklagte in vergleichbaren Fällen das Verfahren wiederaufgegriffen hätte, ist nichts ersichtlich oder geltend gemacht.
Rz. 36
Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung zu. Die Beklagte hat ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens fehlerfrei zulasten der Klägerin ausgeübt. Ist die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes nicht "schlechthin unerträglich" und das Wiederaufgreifensermessen damit auf Null reduziert, ist es in aller Regel und so auch hier ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde dem Aspekt der Rechtssicherheit den Vorzug gibt. Ins Einzelne gehender Ermessenserwägungen bedarf es insoweit nicht (BVerwG, Urteil vom 13. August 2020 - 1 C 23.19 - juris Rn. 21).
Rz. 37
2. Hat die Klägerin danach schon keinen Anspruch auf Wiederaufnahme des 1994 bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens, kommt es auf den von der Beklagten weiter geltend gemachten Bundesrechtsverstoß hinsichtlich der Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Klägerin habe nach aktuellem Recht einen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides, weil sie durch den im Aussiedlungsgebiet erbrachten Nachweis von deutschen Sprachkenntnissen entsprechend dem Niveau B 1 des GER ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum auf andere Weise gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BVFG abgelegt habe und dieses ebenso wie eine Nationalitätenerklärung frühere Bekenntnisse zu einem anderen Volkstum ersetze, nicht entscheidungserheblich an (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 5.20 - ≪zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen≫, wonach der bloße Erwerb solcher Deutschkenntnisse nicht ausreicht, um von einem zuvor durch Angabe einer anderen als der deutschen Nationalität gegenüber staatlichen Stellen bei der Ausstellung amtlicher Dokumente ausdrücklich abgelegten Gegenbekenntnis abzurücken).
Rz. 38
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Fundstellen
FEVS 2022, 14 |
JZ 2021, 375 |
ZAR 2021, 306 |