Entscheidungsstichwort (Thema)
Industrie- und Handelskammer. Aufgaben der Industrie- und Handelskammern. Gesamtinteresse. Pflichtmitgliedschaft. Pflichtzugehörigkeit. Vereinigungsfreiheit. “negative Vereinigungsfreiheit”. Bindungswirkung. Richtervorlage
Leitsatz (amtlich)
Die Pflichtzugehörigkeit zu den Industrie- und Handelskammern ist weiterhin mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1-2, Art. 12 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1; IHKG §§ 1-3; BVerfGG § 31 Abs. 1
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Das Revisionsverfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Revision hinsichtlich des Beitragsbescheids vom 16. Februar 1996 zurückgenommen hat.
Im übrigen wird die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 19. August 1997 zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Klägerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, betätigt sich im Bezirk der Beklagten als Versicherungsmaklerin. Die Beklagte veranlagte sie mit Beitragsbescheid vom 16. Februar 1996 zu einem Kammerbeitrag für das Jahr 1993 von 250 DM und für das Jahr 1996 vorläufig zu einem Beitrag von 400 DM. Mit Bescheid vom 6. Februar 1997 veranlagte sie die Klägerin zu Beiträgen für 1994 und 1995 von 400 DM bzw. 430,10 DM und vorläufig für 1997 zu einem Beitrag von 430,10 DM.
Die Klägerin legte mit Schreiben vom 28. August 1996 gegen den Bescheid vom 16. Februar 1996 sowie mit Schreiben vom 10. Februar 1997 gegen den Bescheid vom 6. Februar 1997 Widerspruch ein. Sie machte geltend, die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer sei verfassungswidrig. Sie habe keinen Nutzen von der Mitgliedschaft. Außerdem fehle es bei ihr angesichts ihrer Verluste an der erforderlichen Leistungsfähigkeit. Die Beklagte wies die Widersprüche mit Bescheid vom 6. März 1997 zurück.
Die Klägerin hat wegen der für die Jahre 1995 bis 1997 festgesetzten Beiträge Anfechtungsklage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 19. August 1997 (GewArch 1997, 475) im wesentlichen aus folgenden Erwägungen abgewiesen:
Die Klage gegen den Beitragsbescheid vom 16. Februar 1996 sei unzulässig, weil die Klägerin die Widerspruchsfrist versäumt habe. Im übrigen sei die Klage unbegründet. Es bestünden keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft der Kammerzugehörigen. Es entspreche ständiger und einhelliger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung und auch der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß diese Mitgliedschaft verfassungskonform sei. Wenn mit der Klägerin aufgrund des Art. 9 Abs. 1 GG die negative Vereinigungsfreiheit auch für öffentlich-rechtliche Körperschaften bejaht werde, bedeute dies zugleich die Verfassungswidrigkeit des gesamten deutschen Kammerrechts. Diese Auffassung wirke als nicht in allen ihren Konsequenzen durchdacht. Es sei nicht nachvollziehbar, daß der Verfassungsgeber eine solche grundlegende Umgestaltung weiter Rechtsbereiche bezweckt habe. Viel näher liege es, das Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG dahin zu verstehen, daß niemand gezwungen werden dürfe, einer Vereinigung als Mitglied beizutreten, die von anderen Mitgliedern freiwillig begründet worden sei und der andere Rechtsunterworfene freiwillig angehörten. Die Anordnung der Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer sei allenfalls eine Berufsausübungsregelung. Als solche sei sie nicht zu beanstanden. Bei Erlaß einer solchen Regelung stehe dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Jede Regelung sei zulässig, die legitime öffentliche Interessen verfolge, geeignet und erforderlich sowie zumutbar sei. Mit der Anordnung einer Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer würden legitime öffentliche Interessen verfolgt; die Pflichtmitgliedschaft sei zur Erfüllung der gestellten Aufgaben auch geeignet. Die mit der Pflichtmitgliedschaft verbundenen Beitragslasten könnten die Erforderlichkeit der Pflichtmitgliedschaft nicht beeinträchtigen. Es sei durchaus denkbar, die Höhe der Pflichtbeiträge an rechtlichen Grenzen zu messen, die sich aus dem Umfang der Tätigkeit der Kammer zugunsten der Kammermitglieder ableiten ließen; eine darüber hinausgehende, ausschließlich gemeinwohlorientierte Tätigkeit müsse unter Umständen anders finanziert werden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene und mit Zustimmung der Beklagten eingelegte Revision. Nachdem die Klägerin zunächst im wesentlichen ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt hatte, hat sie mit Schriftsatz vom 30. März 1998 “klargestellt”, daß im Revisionsverfahren nur noch die Aufhebung des Beitragsbescheides vom 6. Februar 1997 beantragt werde.
Zur Begründung des Rechtsmittels macht die Klägerin geltend: Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, das Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG beziehe sich nur auf freiwillig begründete Vereinigungen, sei schwerlich nachzuvollziehen. Die zwangsweise Eingliederung einzelner in eine Vereinigung, die im übrigen auf freiwilliger Gründung und Mitgliedschaft beruhe, erscheine als bloße theoretische Konstruktion, die in der Gesetzgebungswirklichkeit kaum anzutreffen sein dürfte. Ihr könnte regelmäßig unter Berufung auf den Gleichheitssatz entgegengetreten werden. Ein Rückgriff auf Art. 9 Abs. 1 GG erscheine insoweit nicht erforderlich. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die negative Vereinigungsfreiheit gegenüber öffentlich-rechtlichen Körperschaften lasse das gesamte deutsche Kammerrecht als verfassungswidrig erscheinen, gehe ins Leere. Sie verkenne, daß die Pflichtmitgliedschaft bei der großen Mehrzahl der betroffenen freien Berufe an vorgegebene, den Beteiligten gemeinsame berufsspezifische Bindungen von verfassungsrechtlicher Relevanz anknüpfe und beim Handwerk überkommenen zunftmäßigen Bindungen und Vorstellungen entspreche; Wasser- und Bodenverbände organisierten lediglich die gemeinschaftliche Erfüllung von Verpflichtungen, die ihre Mitglieder bereits individuell träfen. Demgegenüber beruhten die Industrie- und Handelskammern nicht auf vorgegebenen Pflichtenbindungen inhaltlicher Art, die verfassungsrechtlich zu respektieren seien. Sie seien vom Gesetzgeber rein “willkürlich”, d.h. aufgrund einer freien politischen Entscheidung, gebildet worden. Die an die Veranlagung zur Gewerbesteuer geknüpfte Mitgliedschaft sei angesichts der Weite des Gewerbebegriffs nicht an eine gemeinsame oder übergreifende Pflichtenbindung geknüpft. Das in § 1 Abs. 1 IHKG zur Aufgabenumschreibung genannte Gesamtinteresse erweise sich als bloße verbale Fiktion. Es gehe ununterscheidbar im allgemeinen staatsbürgerlichen Interesse an der Entwicklung geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse auf. Die Einführung der Pflichtmitgliedschaft bei der Industrie- und Handelskammer stehe wertungsmäßig auf einem prinzipiell anderen Boden als in den sonstigen Fällen einer Pflichtmitgliedschaft. Es müsse auch der Erwägung des Verwaltungsgerichts widersprochen werden, die zur Zurückweisung ihrer Berufung auf das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG geführt habe. Zu Unrecht werde eine gedankliche Zäsur zwischen der abstrakten Pflichtmitgliedschaft und der Beitragspflicht angenommen. Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung sei die durch das Gesetz eingeführte beitragsbelastete Pflichtmitgliedschaft. Für die Klägerin und für die große Masse der Pflichtmitglieder bleibe die Tätigkeit der Industrie- und Handelskammer gleichgültig, solange und soweit sich aus ihr keine belastenden Konsequenzen ergäben. Die entscheidende Belastung und zumeist die einzige Berührung mit der Kammer überhaupt ergebe sich aus der Heranziehung zu den Beiträgen. Demzufolge wende sich die vorliegende Anfechtungsklage gerade gegen die Beitragspflicht dem Grunde nach. Sie greife dabei die Pflichtmitgliedschaft inzident als rechtliche Voraussetzung der Beitragspflicht an. Wenn diese die notwendige Folge der Pflichtmitgliedschaft bilde, dürfe dieser innere Zusammenhang bei der grundrechtlichen Prüfung am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG nicht ausgeblendet werden. Außerdem verstoße die Pflichtmitgliedschaft auch gegen Art. 2 Abs. 1 GG sowie gegen Art. 5 Abs. 1 GG.
Die Beklagte tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Das Revisionsverfahren ist gemäß § 141 Satz 1, § 125 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit die Klägerin die Revision mit Schriftsatz vom 30. März 1998 zurückgenommen hat.
2. Die gemäß § 134 Abs. 1 VwGO unter Übergehung der Berufungsinstanz zulässige Revision ist nicht begründet, weil das angefochtene Urteil kein nach § 137 Abs. 1 VwGO revisibles Recht verletzt. Der angefochtene Beitragsbescheid ist rechtmäßig.
a) Rechtsgrundlage für die Beitragserhebung ist § 3 Abs. 2 des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern vom 18. Dezember 1956 (BGBl I S. 920), hier anzuwenden in der Fassung des Art. 4 des Gesetzes vom 23. November 1994 (BGBl I S. 3475) – IHKG – i.V.m. der Beitragsordnung und der Haushaltssatzung der Beklagten. Danach werden die Kosten der Errichtung und Tätigkeit der Industrie- und Handelskammer, soweit sie nicht anderweitig gedeckt sind, durch Beiträge der Kammerzugehörigen aufgebracht.
b) Nach § 2 Abs. 1 IHKG gehören zur Industrie- und Handelskammer, sofern sie zur Gewerbesteuer veranlagt sind, natürliche Personen, Handelsgesellschaften, andere nicht rechtsfähige Personenmehrheiten und juristische Personen des privaten und des öffentlichen Rechts, welche im Bezirk der Industrie- und Handelskammer entweder eine gewerbliche Niederlassung oder eine Betriebsstätte oder eine Verkaufsstätte unterhalten (Kammerzugehörige). Dazu zählt auch die Klägerin als im Kammerbezirk der Beklagten niedergelassene juristische Person des privaten Rechts (§ 13 Abs. 1 GmbHG), die zur Gewerbesteuer veranlagt wird. Die gegen die Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken greifen nicht durch.
c) Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 19. Dezember 1962 – 1 BvR 541/57 – (BVerfGE 15, 235) auf eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen u.a. § 2 IHKG hin entschieden, daß die Pflichtzugehörigkeit zu den Industrie- und Handelskammern mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, daß Art. 9 GG den einzelnen vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft nicht schütze und Art. 12 Abs. 1 GG nicht berührt sei, weil die Zugehörigkeit zur Kammer eine einfache Folge der Ausübung eines bestimmten Berufes sei; die Beschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit durch die Pflichtmitgliedschaft verstoße nicht gegen Art. 2 Abs. 1 GG, weil das sie anordnende Gesetz, wie in dem Beschluß näher dargelegt wird, Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung sei. Diese Entscheidung hat gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG Bindungswirkung für alle Gerichte und Behörden. Eine erneute Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit dieser Frage und damit eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG wäre allenfalls dann veranlaßt, wenn rechtserhebliche tatsächliche oder rechtliche Veränderungen oder – möglicherweise – ein Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung festzustellen wären (vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 30. Mai 1972 – 1 BvL 21/69 und 18/71 – BVerfGE 33, 199 ≪204≫, vom 3. Juli 1985 – 1 BvL 13/83 – BVerfGE 70, 242 ≪250≫ und vom 16. November 1992 – 1 BvL 31/88 und 10, 11/92 – BVerfGE 87, 341 ≪346≫). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Betätigung von Wirtschaftsverbänden, auf welche die Klägerin u.a. zum Nachweis der Entbehrlichkeit der Industrie- und Handelskammern in ihrer gegenwärtigen Form hinweist, ist keine erst nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgetretene Erscheinung; vielmehr erwähnt sie das Bundesverfassungsgericht in Abgrenzung zu den Aufgaben der Industrie- und Handelskammern (Beschluß vom 19. Dezember 1962, a.a.O. S. 241). Desgleichen hat sich diese Tätigkeit nicht in der Folgezeit ihrer Art nach wesentlich verändert. Dafür zeigt auch die Klägerin nichts auf. Ebensowenig stellt die Änderung des § 3 IHKG, auf die sich die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bezogen hat, einen insoweit relevanten Umstand dar, weil sie die Regelung der Pflichtzugehörigkeit und das System des Kammerrechts nicht betrifft. Auch ein Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung ist nicht eingetreten. Namentlich bejaht die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung weiterhin die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtzugehörigkeit (vgl. dazu z.B. Urteile vom 2. September 1963 – BVerwG 1 C 20.63 – BVerwGE 16, 295 ≪296≫ und vom 25. Oktober 1977 – BVerwG 1 C 35.73 – BVerwGE 55, 1 ≪6≫ und – BVerwG 1 C 21.73 – Buchholz 451.09 IHKG Nr. 5 = GewArch 1978, 54, auch vom 26. Juni 1990 – BVerwG 1 C 45.87 – Buchholz 430.3 Kammerbeiträge Nr. 22 S. 9 und aus der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte OVG Lüneburg, Urteil vom 20. Mai 1996 – 8 L 647.95 – GewArch 1996, 413; VGH München, Beschluß vom 30. Januar 1996 – 22 CZ 69.208 u.a. – GewArch 1996, 161; OVG Koblenz, Urteil vom 22. Januar 1997 – 11 A 12624/96 – GewArch 1997, 196; OVG Münster, Urteil vom 17. September 1997 – 4 A 2104/97 –). Der Deutsche Bundestag hält ebenfalls an der Pflichtmitgliedschaft fest, wie sich aus dem Gesetzesbeschluß vom 2. April 1998 und der Annahme des Entschließungsantrags vom 1. April 1998 (BTDrucks 13/10297, Plenarprotokoll 13/227, S. 20897) ergibt.
d) Darüber hinaus teilt der erkennende Senat die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts.
aa) Die Pflichtmitgliedschaft läßt sich nicht mit Rücksicht darauf, daß sie den Mitgliedern in der Kammer Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet sowie die Inanspruchnahme von Kammerleistungen ermöglicht und insofern den Rechtskreis der Betroffenen erweitert, als bloße Rechtsgewährung begreifen. Sie ist mit der grundsätzlichen und im vorliegenden Fall auch gegebenen Verpflichtung zur Zahlung von Mitgliedsbeiträgen verbunden. Außerdem wird die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen geknüpft, so daß nicht alle Staatsbürger erfaßt werden. Anders als die allgemeine Unterwerfung unter die Staatsgewalt, die als solche nicht als Grundrechtseingriff verstanden werden kann, leitet sich die zwangsweise Zugehörigkeit zur Industrie- und Handelskammer aus einer gesetzlichen Anordnung ab und stellt einen Eingriff in die Freiheitssphäre der Betroffenen dar.
bb) Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist Art. 2 Abs. 1 GG, wenn durch die Pflichtmitgliedschaft ein grundgesetzlich speziell geregelter Freiheitsbereich nicht betroffen ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32 ≪37≫). Entgegen der Auffassung der Revision ist Art. 9 Abs. 1 GG nicht einschlägig.
Nach Art. 9 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Diese Norm betrifft allein die privatautonome Gruppenbildung, nicht die Schaffung öffentlich-rechtlicher Vereinigungen. Art. 9 Abs. 1 GG gestattet (positiv) die Bildung von Vereinen und Gesellschaften. Damit wird nicht ein Recht auf Bildung öffentlich-rechtlicher Verbände begründet. Ein dieses einschließendes Prinzip freier sozialer Gruppenbildung unabhängig von der Rechtsform der Vereinigung ist in Art. 9 Abs. 1 GG nicht verankert. Die freie Bildung öffentlich-rechtlicher Organisationsformen steht dem einzelnen Bürger nicht offen. Dem einzelnen ist in Art. 9 Abs. 1 GG nur die grundsätzliche Freiheit garantiert, sich aus privater Initiative mit anderen zu Vereinigungen zusammenzufinden, sie zu gründen, aber auch ihnen fernzubleiben und aus ihnen wieder auszutreten (vgl. BVerfG, Beschluß vom 18. Dezember 1974 – 1 BvR 430/65 und 259/66 – BVerfGE 38, 281 ≪298≫; Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u.a. – BVerfGE 50, 290 ≪353 f.≫; Urteil vom 10. März 1992 – 1 BvR 454/91 u.a. – BVerfGE 85, 360 ≪370≫). Insoweit umfaßt das Grundrecht auch die “negative” Vereinigungsfreiheit.
Allerdings mag das Argument, die “negative” Vereinigungsfreiheit könne nicht weitergehen als die “positive” und sei schon deshalb auf die Freiheit beschränkt, privaten Vereinen fernzubleiben, nicht im logischen Sinne zwingend sein. Die Beschränkung des Schutzbereichs des Art. 9 Abs. 1 GG auf die Freiheit, privatrechtliche Vereinigungen zu bilden, ihnen beizutreten oder fernzubleiben, wird aber durch die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 1 GG belegt, wie der Senat in seinem Urteil vom 13. März 1962 – BVerwG 1 C 155.59 – (Buchholz 11 Art. 9 GG Nr. 6 = NJW 1962, 1311 ≪1312≫) eingehend dargelegt hat. Außerdem wird dies durch den systematischen Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 GG deutlich, der Schranken enthält, die allein auf diesen Schutzbereich zielen und keinen einer negativen Vereinigungsfreiheit gegenüber öffentlich-rechtlichen Körperschaften entsprechenden Vorbehalt aufweisen. Wollte man im Sinne der Revision eine negative Vereinigungsfreiheit gegenüber Körperschaften des öffentlichen Rechts annehmen, müßten auch für die Freiheit vor Inanspruchnahme durch eine Pflichtmitgliedschaft in solchen Verbänden Grenzen bestehen. Sonst ließen sich öffentlich-rechtliche Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft verfassungsrechtlich nicht oder unter Rückgriff auf etwaige verfassungsimmanente Schranken allenfalls in äußerst engen Grenzen begründen. Daß das Grundgesetz jedoch diese hergebrachten und bewährten Institutionen grundsätzlich nicht anerkennen wollte, läßt sich nicht erkennen.
cc) Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG gewährt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Es schützt auch davor, durch Zwangsmitgliedschaft von “unnötigen” Körperschaften in Anspruch genommen zu werden (vgl. BVerfG, Beschluß vom 18. Dezember 1974, a.a.O.). Es darf durch eine Pflichtmitgliedschaft in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nur eingeschränkt werden, wenn das entsprechende Gesetz zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört, d.h. in formeller und materieller Hinsicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957, a.a.O. S. 37 ff.; Beschluß vom 18. Dezember 1974, a.a.O.). Das setzt voraus, daß die Errichtung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft und die Inanspruchnahme der Pflichtmitglieder zur Erfüllung legitimer öffentlicher Aufgaben erfolgt, dazu geeignet und erforderlich ist und die Grenze der Zumutbarkeit wahrt. Diese Maßstäbe wären ebenfalls anzulegen, wenn es sich, was unentschieden bleiben kann, bei der Zwangsmitgliedschaft um einen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung handelte und demgemäß Art. 12 Abs. 1 GG maßgebend wäre (vgl. BVerfG, Kammerbeschluß vom 24. Oktober 1990 – 1 BvR 1203/90 –; vgl. auch Urteil vom 30. Januar 1996 – BVerwG 1 C 9.93 – Buchholz 430.2 Kammerzugehörigkeit Nr. 7 S. 4 = NJW 1997, 814 ≪815≫).
Die Industrie- und Handelskammern erfüllen legitime öffentliche Aufgaben. Nach § 1 Abs. 1 IHKG haben die Kammern die Aufgabe, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirkes wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen. Es obliegt ihnen insbesondere, durch Vorschläge, Gutachten und Berichte die Behörden zu unterstützen und zu beraten sowie für die Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken. Nach § 1 Abs. 2 IHKG können sie Anlagen und Einrichtungen, die der Förderung der gewerblichen Wirtschaft oder einzelner Gewerbezweige dienen, begründen, unterhalten und unterstützen sowie Maßnahmen zur Förderung und Durchführung der kaufmännischen und gewerblichen Berufsbildung unter Beachtung der dafür geltenden Rechtsvorschriften treffen. Nach § 1 Abs. 3 IHKG obliegt ihnen ferner die Ausstellung von Ursprungszeugnissen und anderen dem Wirtschaftsverkehr dienenden Bescheinigungen. § 1 Abs. 5 IHKG stellt klar, daß die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen nicht zu den Aufgaben der Industrie- und Handelskammern gehört. Diese Aufgabenbeschreibung hat im Laufe der Zeit zu einem umfangreichen Katalog von Einzelaufgaben geführt (vgl. die Darstellung bei Stober, Die Industrie- und Handelskammer als Mittler zwischen Staat und Wirtschaft, S. 31 ff.).
Wie sich unmittelbar aus § 1 Abs. 5 IHKG ergibt, stehen die Industrie- und Handelskammern nicht in Konkurrenz zu frei gegründeten Vereinigungen einschließlich der Koalitionen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG, etwa den Arbeitgeberverbänden. Die Aufgaben sind öffentliche in dem Sinne, daß Anliegen des Gemeinwesens verfolgt werden. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht als legitime öffentliche Aufgabe der Industrie- und Handelskammern angesehen, daß sie die staatlichen Organe und Behörden durch Berichterstattung und Beratung in wirtschaftlichen Fragen unterstützen und ihnen verläßliche Grundlagen für ihre Entscheidungen auf diesem Gebiet liefern können (vgl. BVerfG, Beschluß vom 19. Dezember 1962, a.a.O. S. 239 f.). Das hat das Bundesverfassungsgericht im einzelnen dargelegt. Die seinerzeitigen Erwägungen gelten entgegen der Auffassung der Revision nach wie vor. An der Aufgabenübertragung hat sich nichts Grundsätzliches geändert. Sollten die Industrie- und Handelskammern über die ihnen zugewiesenen Aufgaben hinaus tätig werden, könnte dem der einzelne Kammerzugehörige mit einer Unterlassungsklage entgegentreten (vgl. Urteile vom 13. Dezember 1979 – BVerwG 7 C 58.78 – BVerwGE 59, 231 ≪238≫ und – BVerwG 7 C 65.78 – BVerwGE 59, 242 ≪248≫; Urteil vom 24. September 1981 – BVerwG 5 C 53.79 – BVerwGE 64, 115 ≪117≫; Urteil vom 17. Dezember 1981 – BVerwG 5 C 56.79 – BVerwGE 64, 298 ≪301≫; Urteil vom 10. Juni 1986 – BVerwG 1 C 9.86 – Buchholz 430.1 Kammerrecht Nr. 14 S. 29 ff.; Urteil vom 3. März 1987 – BVerwG 1 C 6.86 – Buchholz 430.1 Kammerrecht Nr. 15 S. 3). Etwaige Aufgabenüberschreitungen durch einzelne Kammern rechtfertigen es nicht, die vom Gesetz zugewiesenen Aufgaben nicht als legitime öffentliche Aufgaben anzusehen. Das Vorbringen der Revision, die Industrie- und Handelskammern erfüllten Aufgaben, die ebenso von staatlichen Stellen wahrgenommen werden könnten, wird dem gesetzgeberischen Anliegen einer durch den Staat institutionalisierten, auf die Gesamtbelange der erfaßten Wirtschaftszweige ausgerichteten und als Selbstverwaltungseinrichtung der Wirtschaft organisierten Interessenvertretung und der Aufgabenzuweisung durch § 1 Abs. 1 IHKG nicht gerecht und erlaubt nicht den Schluß, die Zwangsmitgliedschaft sei verfassungswidrig.
Die Revision macht geltend, die Wahrnehmung eines Gesamtinteresses der Pflichtmitglieder stelle sich aufgrund der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen Betätigungen und der Gegensätzlichkeiten bestimmter Einzelinteressen als bloße Fiktion dar, die dem Wettbewerb unter den Mitgliedern nicht entspreche. Der Vorwurf, die Wahrnehmung eines Gesamtinteresses für eine inhomogene Gruppe sei an der Realität vorbei zur öffentlichen Aufgabe erhoben worden, ist nicht gerechtfertigt. Es liegt im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, ein Gesamtinteresse der Mitglieder anzunehmen, obwohl die die Pflichtmitgliedschaft begründende Gewerbesteuerpflicht an zum Teil recht unterschiedliche wirtschaftliche Betätigungen anknüpft. Staatliche Maßnahmen, die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Betätigung setzen, erfordern vielfach eine Gesamtbewertung der Interessen der wirtschaftlich Tätigen, so daß eine – gerade Interessengegensätze der einzelnen Kammermitglieder voraussetzende – ausgleichende Abwägung von Einzelinteressen erforderlich ist. Die Herstellung eines Interessenausgleichs auf eine juristische Person des öffentlichen Rechts als Selbstverwaltungsorgan der Wirtschaft zu übertragen, also nicht unmittelbar von der staatlichen Verwaltung, sondern von den Betroffenen in Auswertung ihres Sachverstandes wahrnehmen zu lassen, ist zweckmäßig und liegt in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit im Ermessen des Gesetzgebers. Es steht nach allem auch außer Frage, daß der Gesetzgeber zur Verwirklichung seines Anliegens, die Wirtschaft im Interesse einer sachgerechten Aufgabenerfüllung “einzubinden”, durch Schaffung öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft ein geeignetes Mittel gewählt hat, wie das bisherige Wirken der Kammern deutlich macht.
Die Befugnis des Staates, zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben öffentlich-rechtliche Körperschaften zu bilden, schließt die Befugnis ein, dies mit einer Beitragspflicht zu verbinden, die der Abgeltung der durch die Mitgliedschaft entstehenden Vorteile dient. Der erkennende Senat wertet die von den Pflichtmitgliedern erhobenen Beiträge zur Deckung der Kosten der Kammer als Beiträge im Rechtssinne (vgl. Urteil vom 26. Juni 1990 – BVerwG 1 C 45.87 – Buchholz 430.3 Kammerbeiträge Nr. 22). Der Beitrag ist eine Gegenleistung für den Vorteil, den das Mitglied aus der Kammerzugehörigkeit zieht. Dieser Vorteil besteht insbesondere darin, daß die Kammer ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllt. Diese Aufgabenerfüllung kommt vorzugsweise den in der Wirtschaft selbständig Tätigen, also den Kammermitgliedern zugute, deren Gesamtbelange die Kammer zu wahren und fördern hat. Dafür ist nicht erforderlich, daß sich der Nutzen dieser Tätigkeit bei dem einzelnen Mitglied in einem unmittelbaren wirtschaftlichen (finanziellen) Vorteil meßbar niederschlägt. Mit ihrer die unterschiedlichen Interessen der Mitglieder sowie der verschiedenen Wirtschaftszweige “bündelnden” und “ausgleichenden” Tätigkeit stehen die Kammern in einer Art Mittlerrolle zwischen Staat und Wirtschaft. Deshalb kann auch nicht von einer Verschiebung allgemeiner öffentlicher Lasten vom Staat auf eine bestimmte soziale Gruppe die Rede sein.
Auch sonst fehlt es nicht an der Erforderlichkeit der Zwangsmitgliedschaft. Eine Vereinigung ohne Zwangsmitgliedschaft stellt kein gleich geeignetes Mittel dar, um das Gesamtinteresse der Angehörigen der gewerblichen Wirtschaft gegenüber staatlichen oder kommunalen Entscheidungsträgern zu vertreten. Denn nur die Pflichtmitgliedschaft sichert, wie das Bundesverfassungsgericht (Beschluß vom 19. Dezember 1962, a.a.O. S. 243) ausgeführt hat, eine von Zufälligkeiten der Mitgliedschaft und Pressionen freie sowie umfassende Ermittlung, Abwägung und Bündelung der maßgeblichen Interessen, die erst eine objektive und vertrauenswürdige Wahrnehmung des Gesamtinteresses ermöglicht.
Die Pflichtzugehörigkeit verstößt schließlich nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Sie bedeutet als solche keine erhebliche, die Grenze des Zumutbaren überschreitende Beeinträchtigung der unternehmerischen Handlungsfreiheit der Mitglieder. Im Gegenteil eröffnet sie für die Mitglieder eine Chance zur Mitwirkung in der Kammer und zur Nutzung der Kammerleistungen, läßt aber auch die Möglichkeit offen, davon abzusehen. Die u.a. durch das Äquivalenzprinzip und den Gleichheitssatz begrenzte Belastung der Pflichtmitglieder mit einem Beitrag ist grundsätzlich zumutbar, weil die Kammer mit der Vertretung des Gesamtinteresses der Gewerbetreibenden die wirtschaftlichen Belange der Mitglieder wahrnimmt und fördert.
dd) Die Pflichtmitglieder sind nicht gezwungen, Stellungnahmen einer Kammer mitzutragen, wenn sie von der eigenen Meinung abweichen, wie die Revision geltend macht. Die öffentlich-rechtliche Körperschaft ist bei ihren Stellungnahmen an die Willensbildung ihrer Mitglieder gebunden (vgl. § 4 IHKG). Mehrheitsentscheidungen schließen es ein, daß Mitglieder überstimmt werden können. Dadurch werden sie nicht in der eigenen Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) verletzt. Die in Stellungnahmen der Kammern vertretenen Meinungen sind nicht dem einzelnen Mitglied persönlich zuzurechnen. Es bleibt ihnen unbenommen, ihre Meinung eigenständig zu äußern. Unter diesen Umständen läßt sich entgegen der Ansicht der Revision auch aus dem Wertgehalt der Meinungsfreiheit nichts gegen die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft herleiten.
e) Gegen die Höhe der Beiträge erhebt die Klägerin ausdrücklich keine Einwände.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Meyer, Gielen, Hahn, Richter, Gerhardt
Fundstellen
NJW 1998, 3510 |
BVerwGE, 169 |
NVwZ 1999, 74 |
AnwBl 1999, 358 |
DÖV 1999, 29 |
GewArch 1998, 410 |
GewArch 1999, 21 |
BayVBl. 1999, 120 |
DVBl. 1999, 47 |
WPK-Mitt. 1999, 120 |