Entscheidungsstichwort (Thema)
Widersprüchliche Tatsachenfeststellungen im Urteil
Leitsatz (amtlich)
Bleibt aufgrund widersprüchlicher tatsächlicher Feststellungen des Tatsachengerichts offen, von welchem Sachverhalt das Gericht im Rahmen seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung überzeugt ist, fehlt es an einer dem § 108 Abs. 1 VwGO genügenden richterlichen Überzeugungsbildung.
Normenkette
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
VG Stuttgart (Urteil vom 08.01.2018; Aktenzeichen A 11 K 1018/17) |
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, ein 1990 geborener syrischer Staatsangehöriger, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er reiste eigenen Angaben zufolge im August 2015 in das Bundesgebiet ein und beantragte im Februar 2016 die Anerkennung als Asylberechtigter.
Rz. 2
Mit Bescheid vom 17. Januar 2017 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Von Feststellungen zu nationalen Abschiebungsverboten sah es ab.
Rz. 3
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Der Kläger habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, weil eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung unter dem Aspekt der Wehrdienstentziehung drohe. Allerdings könne sich der Kläger nicht auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG berufen, weil er nicht dargelegt habe, dass seine Einheit Einsätze unter Umständen durchgeführt habe oder durchführen werde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fielen. Der Kläger müsse aber bei einer Rückkehr nach Syrien mit menschenrechtswidriger Behandlung durch den syrischen Staat rechnen, weil er sich durch eine unerlaubte Ausreise aus Syrien und einen Verbleib im Ausland dem Militärdienst entzogen habe. Diese Behandlung sei auf eine (unterstellte) oppositionelle Haltung des Klägers gerichtet. Zur Begründung werde auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg in dessen Urteil vom 2. Mai 2017 - A 11 S 562/17 - verwiesen. Dieser habe ausgeführt, bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel drohe syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte. Ferner gebe es Hinweise darauf, dass alle, die sich dem Regime entziehen - wie es Wehrpflichtige tun, zumal wenn sie illegal ins Ausland reisen - als Oppositionelle und je nach bisheriger Funktion als "Landesverräter" betrachtet würden. Schon bei der ersten Befragung sei mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Unerheblich sei, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen seien. Der infrage kommende Personenkreis stehe aufgrund der bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise im Visier der Sicherheitskräfte und sei deshalb in hervorgehobenem Maße gefährdet. Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lasse keine andere Deutung zu, als dass diese an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (politische Überzeugung) anknüpften. Das syrische Regime sei von einem "Freund-Feind-Schema" als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt. Es sei kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden zu erkennen, als dass an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft werde. Gerade im Fall eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetze und sich in einem existenziellen Überlebenskampf befinde, liege es nahe, dass dieses von einer potentiellen Gegnerschaft bei den Misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgehe. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes begegne allerdings gewichtigen Bedenken, wie im Einzelnen unter diesem entgegenstehenden tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen der Erkenntnismittel ausgeführt wird. Das Gericht schließe sich indes der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die wenig Überzeugungskraft habe, unter Zurückstellung dieser Bedenken aus "Gründen der Einheit der Rechtsordnung" an.
Rz. 4
Mit der Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 3 Abs. 1 AsylG. Das Verwaltungsgericht gehe von der Rechtsauffassung aus, dass die Prognose der Rückkehrgefährdung von sich im Ausland befindlichen männlichen syrischen Staatsangehörigen im rekrutierungsfähigen Alter, die ohne Genehmigung der Militärbehörden Syrien verlassen haben, nach den Grundsätzen der Gruppenverfolgung zu erfolgen habe. Hierbei habe es in Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Nr. 39 Rn. 17) weder konkrete Referenzfälle festgestellt noch die gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte anhand eines einschlägig konkreten Verfolgungsgeschehens in Relation zur in Betracht zu ziehenden Personengruppe getroffen noch sich mit Feststellungen zu einem etwaigen Verfolgungsprogramm befasst. Im Rahmen der prognostischen Betrachtung mache sich das Tatsachengericht allein die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofes zu eigen, wonach bereits der Charakter des syrischen Regimes die Feststellung eines Verfolgungsgrundes im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG rechtfertige. Es gehe somit rechtsfehlerhaft von einer Vermutung aus, die die Feststellung eines beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgrundes tragen solle. Es sei zwar in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass bei unübersichtlicher Tatsachengrundlage beziehungsweise nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet eine Prognose auch auf der Grundlage einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen und einer zusammenfassenden Bewertung erfolgen könne. Dies entbinde jedoch nicht von der notwendig vorzunehmenden Aufklärung und Feststellung konkreter Verfolgungshandlungen und bei gruppenbezogenen Gefahrenlagen der Inbezugsetzung zur Größe der verfolgten Gruppe. Abgesehen davon, dass Feststellungen zu Referenzfällen fehlten, habe sich das Tatsachengericht auch nicht damit befasst, dass nach den Erkenntnisquellen Hunderttausende syrische Flüchtlinge jedes Jahr nach Syrien einreisten, um dort persönliche Angelegenheiten zu regeln, bevor sie wieder in die benachbarten Länder zurückkehrten.
Rz. 5
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Rz. 6
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht am Verfahren beteiligt.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die Sprungrevision der Beklagten hat mit dem Ergebnis einer Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht Erfolg. Das Urteil verstößt gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) und erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Mangels erforderlicher Sachverhaltsfeststellungen ist die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 8
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das am 12. Dezember 2018 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des Asylgesetzes vom 4. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2250) sowie das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert mit Wirkung vom 1. August 2018 durch Art. 1 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, sind zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts allerdings nicht geändert.
Rz. 9
1. Die Revision ist zulässig. Sie ist unter Beachtung der besonderen Vorschriften für die Sprungrevision (§ 134 VwGO) form- und fristgerecht mit Zustimmung des Klägers eingelegt und begründet worden.
Rz. 10
Der Zulässigkeit der Sprungrevision steht nicht entgegen, dass die Zulassung durch den Einzelrichter anstelle der Kammer erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Juli 2004 - 5 C 65.03 - BVerwGE 121, 292 ≪295≫ und vom 28. September 2004 - 1 C 10.03 - BVerwGE 122, 94 ≪95 f.≫). Mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter geht die Entscheidungsbefugnis für den Rechtsstreit uneingeschränkt auf den Einzelrichter über; dieser, nicht die ganze Kammer, entscheidet am Ende im Urteil nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Der Senat lässt offen, ob die nach § 134 Abs. 2 Satz 2 VwGO in aller Regel zwingende Bindung des Revisionsgerichts an die Zulassungsentscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 134 Abs. 2 Satz 1 VwGO ausnahmsweise entfallen oder eine Revisionszulassung unwirksam sein kann, wenn sie im Einzelfall unter Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG - d.h. in manipulativer oder objektiv willkürlicher Missachtung der einschlägigen Bestimmungen - ergangen ist (BVerwG, Urteil vom 28. September 2004 - 1 C 10.03 - BVerwGE 122, 94 ≪95 f.≫) und ob eine erst nach der Übertragung erkannte, entstandene oder abweichend von der übertragenden Kammer gesehene grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache eine "wesentliche Änderung der Prozesslage" bewirkt (dazu BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2004 - 5 C 65.03 - BVerwGE 121, 292 ≪295≫), welche die Rückübertragung auf die Kammer ermöglicht oder eine Reduktion des Rückübertragungsermessens bewirkt. Denn hinreichende Anhaltspunkte für eine Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzende, objektiv willkürliche Missachtung einer etwa gegebenen Rückübertragungsmöglichkeit bestehen hier nicht; sie folgen auch nicht daraus, dass die Sprungrevision zur Klärung einer nicht entscheidungserheblichen Grundsatzfrage (vgl. dazu unter 2. e)) zugelassen worden ist.
Rz. 11
2. Die Revision der Beklagten hat auch in der Sache Erfolg. Das angefochtene Urteil ist wegen Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) rechtsfehlerhaft, weil es auf widersprüchliche tatsächliche Feststellungen gestützt ist (vgl. dazu unten 2. e) bb)). Das Verfahren ist daher an das Tatsachengericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), um dem Verwaltungsgericht Gelegenheit zur Klärung der im Rahmen der Überzeugungsbildung aufgetretenen Widersprüche zu geben.
Rz. 12
a) Allerdings hat das Verwaltungsgericht zunächst die allgemeinen Maßstäbe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft insoweit im Einklang mit der herangezogenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angewandt.
Rz. 13
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Rz. 14
Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Diese Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatslosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) - RL 2011/95/EU - umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 Rn. 22).
Rz. 15
§ 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe. Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob es bei der Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob dieser tatsächlich die flüchtlingsrelevanten Merkmale aufweist, sofern ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Rz. 16
Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung "wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, mithin entweder die Verfolgungshandlung oder das Fehlen von Schutz vor Verfolgung oder beide auf einen der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe zurückgehen, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/86, 2 BvR 962/86 - BVerfGE 76, 143 ≪157, 166 f.≫). Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 Rn. 22 und Beschluss vom 21. November 2017 - 1 B 148.17 - juris Rn. 17). Für die "Verknüpfung" reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus.
Rz. 17
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") drohen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 19; vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 14 und Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab bedingt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32).
Rz. 18
b) Ausgehend von obigen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht zunächst in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass sich der Kläger nicht auf die Beweiserleichterung einer Vorverfolgung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU berufen kann, weil er vor seiner Ausreise aus Syrien keiner anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt gewesen war. Hinsichtlich des Vorbringens des Klägers, wonach er im März/April 2011 vom syrischen Geheimdienst inhaftiert worden sei, hat das Verwaltungsgericht - bei unterstellter Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens - angenommen, dass stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Verfolgung sprechen, da der Kläger bis zu seiner Ausreise aus Syrien im Februar 2015 ohne weitere Beeinträchtigungen in Syrien leben konnte. Auf der Grundlage der den Senat bindenden, tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist dessen Annahme, dass die Verfolgungsvermutung durch stichhaltige Gründe widerlegt ist, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn der Umstand, dass der Kläger nach dem Vorkommnis im März/April 2011 bis zu seiner Ausreise in Syrien unbehelligt leben konnte, stellt einen stichhaltigen Grund dar, der gegen die Annahme einer erneuten Verfolgung des Klägers spricht.
Rz. 19
c) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger wegen der illegalen Ausreise, dem Auslandsaufenthalt und der Asylantragstellung deshalb keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht, weil es jedenfalls an der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung einer etwaigen Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3b AsylG fehlt. Insoweit hat das Verwaltungsgericht für den Senat bindend festgestellt, dass den vorliegenden Erkenntnismitteln keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass der syrische Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Rückkehrern wegen ihrer illegalen Ausreise, ihres Auslandsaufenthalts und der Asylantragstellung eine regimefeindliche politische Überzeugung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG zuschreiben wird.
Rz. 20
Auf der Grundlage der tatrichterlichen, den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen ist ferner die Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass die Zugehörigkeit des Klägers zum sunnitischen Glauben und seine Herkunft aus einem regierungsfeindlichen Gebiet (hier: Daara) keine gefahrerhöhenden Umstände darstellen, aufgrund derer dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich die Gefahr einer Verfolgung droht, weil ihm eine regimefeindliche Gesinnung zugeschrieben werden würde, nicht zu beanstanden. Diese tatrichterlichen Feststellungen und Würdigungen stehen im Einklang mit der herangezogenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes sowie der wohl weit überwiegenden Rechtsprechung der Obergerichte im Entscheidungszeitpunkt und werden auch nicht durch dem entgegenstehende Feststellungen des Verwaltungsgerichts infrage gestellt.
Rz. 21
d) Das Verwaltungsgericht ist ferner revisionsrechtlich unbedenklich davon ausgegangen, dass ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgt. Nach dieser Bestimmung kann die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit) fallen. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG beruht unionsrechtlich auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat zum persönlichen Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeführt (Urteil vom 26. Februar 2015 - C-472/13 [ECLI:EU:C:2015:117], Shepherd - Rn. 34), dass die Eigenschaft als Militärangehöriger eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung darstellt, um den Schutz zu genießen, der mit den Bestimmungen der Anerkennungsrichtlinie verbunden ist. Die Regelung umfasst ferner nur Fälle, in denen der geleistete Militärdienst in einem bestimmten Konflikt die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde. Demjenigen, der die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU zuerkannt bekommen möchte, obliegt es, mit hinreichender Plausibilität darzulegen, dass von der Einheit, der er angehört, mit hoher Wahrscheinlichkeit als Kriegsverbrechen einzustufende Handlungen begangen werden oder wurden (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - C-472/13 - Rn. 43). Nach den den Senat bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts hat der Kläger derartige Umstände nicht dargelegt.
Rz. 22
e) Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dem Kläger drohten bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, die auch an den (zugeschriebenen) Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (politische Überzeugung) anknüpften, ist hier im Ergebnis revisionsrechtlich zu beanstanden. Dies folgt nicht schon daraus, dass das Verwaltungsgericht zwar an die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung anknüpft, insoweit aber nicht selbst die nach seiner dem Verwaltungsgerichtshof zugeschriebenen Rechtsauffassung hierfür erforderlichen Feststellungen getroffen hat, oder daraus, dass insoweit die in der herangezogenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes getroffene Würdigung, soweit sie der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegt, in Ergebnis oder Herleitung zu beanstanden wäre (aa). Das angefochtene Urteil beruht aber auf einer Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes (bb).
Rz. 23
aa) Das Verwaltungsgericht ist allerdings davon ausgegangen, der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg habe eine Gruppenverfolgung "(stillschweigend) in der Sache bejaht" und gehe "faktisch von einer Gruppenverfolgung" aus, ohne die hierzu in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze zutreffend anzuwenden, und begegne (u.a.) deswegen durchgreifenden Bedenken. Allein dies führt nicht zu einem Bundesrechtsverstoß, denn der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg (Urteil vom 2. Mai 2017 - A 11 S 562/17 -) lässt sich dies gerade nicht entnehmen.
Rz. 24
Der Verwaltungsgerichtshof ist vielmehr bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass aufgrund der in Syrien gegebenen Umstände dem Kläger in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") eine menschenrechtswidrige Behandlung durch syrische Sicherheitskräfte droht. Er hat daher nicht - wie es bei der Zugrundelegung einer Gruppenverfolgung der Fall ist - aus gegen eine ganze Gruppe gerichteten Maßnahmen Rückschlüsse auf die individuelle Verfolgungsgefahr für den Asylbewerber gezogen, die allein an die Zugehörigkeit zu einer näher umschriebenen Gruppe anknüpften. Der Verwaltungsgerichtshof ist vielmehr auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu der Bewertung gelangt, dass der Kläger als syrischer Mann im wehrpflichtigen Alter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen habe, die auch an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale anknüpfe, und hat damit eine beachtlich wahrscheinlich drohende Individualverfolgung festgestellt. Insoweit läuft auch die Bewertung des Verwaltungsgerichts ins Leere und ist nicht weiter zu überprüfen, der Kläger sei wegen der vorbezeichneten Merkmale im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 20. Juni 1995 - 9 C 294.94 - InfAuslR 1995, 422) Mitglied einer Personengruppe, die von Gruppenverfolgung erfasst sein könne; dieser Begriff der Gruppenverfolgung ist jedenfalls nicht mit dem der "sozialen Gruppe" im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (dazu BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 28 ff.; Beschluss vom 15. April 2019 - 1 B 16.19 - juris) zu verwechseln. Die Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofes begegnen dabei weder in Bezug auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 und 2 AsylG) noch hinsichtlich ihrer Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit einem der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG durchgreifenden, angesichts der Bezugnahme des Verwaltungsgerichts möglicherweise beachtlichen Bedenken. Solche Bedenken gegen die herangezogene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes folgen auch nicht aus weiteren, von jenen des Verwaltungsgerichtshofes abweichenden Feststellungen und Würdigungen des Verwaltungsgerichts oder dem Umstand, dass der Verwaltungsgerichtshof inzwischen die Verknüpfung von drohender Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund anders als im Urteil vom 2. Mai 2017 - A 11 S 562/17 - bewertet (VGH Mannheim, Urteile vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - Asylmagazin 2019, 26 und vom 27. März 2019 - A 4 S 335/19 - juris).
Rz. 25
Das angegriffene Urteil oder - soweit es auf dessen Urteil vom 2. Mai 2017 - A 11 S 562/17 - Bezug nimmt - der Verwaltungsgerichtshof waren hier nicht gehalten, bei der Bewertung, ob im Ausland befindlichen männlichen syrischen Staatsangehörigen im rekrutierungsfähigen Alter, die ohne Genehmigung der Militärbehörden Syrien verlassen haben, auf die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze der Gruppenverfolgung zurückzugreifen, wenn die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Individualverfolgung geprüft und bejaht wird. Zwar setzt auch der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung voraus (BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 und vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 14) und ist daher nicht durch eine reine qualitative, sondern zusätzlich durch eine quantitative Betrachtung ("Gefahrendichte") mitgeprägt (vgl. dazu auch: Berlit, ZAR 2017, 110). Bei der Rechtsfigur der Gruppenverfolgung handelt es sich ferner nicht um einen eigenen Asyltatbestand, sondern lediglich um ein Hilfsmittel, um Rückschlüsse auf die individuelle Verfolgungsgefahr für den Asylbewerber nicht (oder nicht nur) aus seinem persönlichen Schicksal, sondern aus Maßnahmen gegen die ganze Gruppe zu ziehen, der der Asylbewerber angehört (BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 ≪168≫). Sie stellt sich somit lediglich als eine Beweiserleichterung und nicht etwa als Beweisverschärfung dar (BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Nr. 39 Rn. 13). Die zur Zulassung führende Rechtsfrage stellte sich mithin bei zutreffender Auslegung des herangezogenen Urteils des Verwaltungsgerichtshofes bereits im Ansatz nicht. Nicht zu vertiefen ist daher, inwieweit an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben zur Gruppenverfolgung auch unter der Geltung der RL 2011/95/EU festzuhalten ist und ob der hier betroffene Personenkreis syrischer Staatsangehöriger, die der in Syrien bestehenden Militärpflicht unterliegen und sich durch Ausreise aus Syrien und Verbleib im Ausland dieser Pflicht entzogen haben, eine "Gruppe" im Sinne dieser Rechtsprechung bildet.
Rz. 26
bb) Das Verwaltungsgericht hat indes dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO) verstoßen, dass es sein Urteil auf einander widerstreitende tatsächliche Feststellungen und Würdigungen gestützt hat, ohne diese inneren Widersprüche aufzulösen.
Rz. 27
(1) Die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung ist vorrangig Aufgabe des Tatrichters und unterliegt nur eingeschränkter Nachprüfung durch das Revisionsgericht (vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 29. Februar 2012 - 7 C 8.11 - Buchholz 419.01 § 26 GenTG Nr. 1 Rn. 35, 44 und vom 27. November 2014 - 7 C 20.12 - BVerwGE 151, 1 Rn. 43). Die Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung findet ihre Grenzen nicht nur im anzuwendenden Recht und dessen Auslegung, sondern auch in Bestimmungen, die den Vorgang der Überzeugungsbildung leiten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 2014 - 7 B 12.14 - juris Rn. 5 m.w.N.). Hierzu zählen etwa gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze und die Denkgesetze. Des Weiteren verlangt das Gebot der freien Beweiswürdigung, dass das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. Das Gericht darf also nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht in Erwägung zieht. Danach liegt ein Verstoß gegen dieses Gebot vor, wenn ein Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, es insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen, oder sein Urteil zu einer entscheidungserheblichen Frage auf zwei einander widersprechende Tatsachenfeststellungen stützt (BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1990 - 7 C 3.90 - BVerwGE 85, 155 ≪158≫). In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteile vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 ≪208 f.≫ und vom 28. Februar 2007 - 3 C 38.05 - BVerwGE 128, 155 Rn. 59).
Rz. 28
(2) Das Verwaltungsgericht hat sein Urteil in diesem Sinne auf widersprüchliche tatsächliche Feststellungen gestützt. Es hat sich einerseits die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg in dessen Urteil vom 2. Mai 2017 zu eigen gemacht, wonach Männer im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen hätten. Andererseits hat es aber ausgeführt, dass auch den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg verwerteten Erkenntnisquellen sowie weiteren vom Verwaltungsgericht selbst herangezogenen Erkenntnisquellen keinerlei Belege zu entnehmen seien, dass es bei Bestrafungen von männlichen syrischen Staatsangehörigen, die sich der Wehrpflicht entzogen haben, zu menschenrechtswidrigen Behandlungen bis hin zu Folter komme. Gleiches gilt, soweit das Verwaltungsgericht sich einerseits Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg zu eigen gemacht hat, wonach die den Männern im wehrdienstfähigen Alter drohenden Maßnahmen des syrischen Staates an eine vermutete regimefeindliche Gesinnung anknüpfen, andererseits aber diese Ausführungen für nicht überzeugend hält (UA S. 30), weil Erkenntnisquellen auf ein willkürlich-wahlloses und damit ohne Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund erfolgendes Verhalten der syrischen Sicherheitskräfte hinwiesen.
Rz. 29
Hier keine andere Beurteilung rechtfertigt, dass das Verwaltungsgericht sich nach der Feststellung, die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg habe "wenig Überzeugungskraft", dieser Rechtsprechung "unter Zurückstellung der aufgezeigten Bedenken aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung" anschließt. Der Senat wertet dies dahin, dass das Verwaltungsgericht sich dem Verwaltungsgerichtshof damit zwar im Ergebnis, nicht aber in Bezug auf die zu dieser Rechtsprechung gefundenen tatsächlichen Feststellungen und abweichenden Bewertungen anschließt. Zurückgestellt werden die Bedenken gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, nicht die tatsächlichen Feststellungen und abweichenden Bewertungen, an welche diese Bedenken anknüpfen. Das Verwaltungsgericht formuliert die Feststellungen und Bewertungen, die seine Bedenken begründen, auch in einer so pointierten Art und Weise, dass sie nicht allein "aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung" unberücksichtigt bleiben können. Das "Zurückstellen" dieser Bedenken lässt hier auch sonst nicht den Schluss zu, dass das Verwaltungsgericht seine eigenen Tatsachenfeststellungen und Bewertungen in der Sache aufgibt, soweit sie jenen des Verwaltungsgerichtshofes widersprechen, und sich kraft eigener Einsicht jedenfalls in dem Umfange, als es für die Entscheidung erheblich ist, dem Verwaltungsgerichtshof nicht nur im Ergebnis, sondern auch in den dieses tragenden tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen anschließt. Der Überzeugungsgrundsatz (§ 108 VwGO) steht einem Überdenken der eigenen tatsächlichen Feststellungen und hieran anknüpfender Bewertungen in Auseinandersetzung mit entgegenstehenden tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen nicht entgegen und kann dies sogar fordern. Er lässt in dem Wertungsrahmen, den er für die tatrichterliche Überzeugungsbildung eröffnet, Raum auch für die Überwindung möglicher Zweifel zugunsten anderweitiger, rational ebenfalls nachvollziehbarer Feststellungen und Wertungen und gebietet dabei die argumentative Auseinandersetzung auch mit diesen. In dem so gezogenen Wertungsrahmen kommt dem Aspekt der Rechtssicherheit und Rechtseinheit, die herzustellen und zu befördern mit Aufgabe der Rechtsmittelgerichte ist, argumentativ durchaus erhebliches Gewicht zu, auch wenn jenseits der Rechtskraftbindung keine "Präjudizienbindung" besteht. Allein die "Einheit der Rechtsordnung" lässt es aber nicht zu, sich im Ergebnis einer Rechtsprechung zu beugen, obwohl nach der fortbestehenden eigenen Überzeugung dem weiterhin tatsächliche Feststellungen und Bedenken entgegenstehen, die Bedenken mithin lediglich zurückgestellt, also nicht überwunden werden.
Rz. 30
So liegt es hier. Der Widerspruch zwischen den weiterhin für überzeugend gehaltenen eigenen tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen zu jenen des Verwaltungsgerichtshofes, die "wenig Überzeugungskraft" haben sollen, wird nicht aufgelöst. Die einander widerstreitenden Feststellungen und Bewertungen stehen vielmehr beziehungslos nebeneinander, ohne dass das Verwaltungsgericht klarstellt, welchen Sachverhalt es kraft eigener Überzeugungsbildung als zutreffend ansieht. Dann aber fehlt es an einer hinreichend klaren richterlichen Überzeugungsbildung, die das gewonnene Gesamtergebnis des Verfahrens zu tragen geeignet wäre.
Rz. 31
(3) Dieser Fehler ist vorliegend auch beachtlich. Keiner abschließenden Erörterung bedarf es im Hinblick auf den Ausschluss der Verfahrensrüge in der Sprungrevision (§ 134 Abs. 4 VwGO), unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen § 108 VwGO dem materiellen oder dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist (s. dazu Berkemann, in: FS Herberger, 2016, S. 75; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 108 Rn. 59, 66). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind jedenfalls Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung regelmäßig dem materiellen Recht zuzuordnen (BVerwG, Urteil vom 27. November 2014 - 7 C 20.12 - BVerwGE 151, 1 Rn. 43). Der Senat sieht keinen Anlass, hiervon für den vorliegenden Fall widerstreitender Tatsachenfeststellungen abzurücken.
Rz. 32
3. Da offen ist, von welchem Sachverhalt das Verwaltungsgericht ausgegangen ist, kann der Senat nicht abschließend selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), um dem Verwaltungsgericht Gelegenheit zur Auflösung der im Rahmen der Überzeugungsbildung aufgetretenen Widersprüche zu geben.
Rz. 33
4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Fundstellen
JZ 2019, 714 |
ZAR 2020, 203 |