Entscheidungsstichwort (Thema)
Diskothek. Gewerbebetrieb, sonstiger. Vergnügungsstätte. Industriegebiet. Befreiung. Nachbarschutz. Rechtsmißbrauch
Leitsatz (amtlich)
Kerngebietstypische Vergnügungsstätten (hier: Diskothek) sind in Industriegebieten gemäß § 9 BauNVO (in sämtlichen Fassungen) unzulässig.
Normenkette
BauNVO 1977 § 9; BauGB § 31 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Entscheidung vom 07.08.1997; Aktenzeichen 1 L 230/96) |
VG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 06.09.1996; Aktenzeichen 8 A 52/95) |
Tenor
Die Revision der Beigeladenen zu 1 und zu 2 gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. August 1997 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladenen zu 1 und zu 2 tragen die Kosten des Revisionsverfahrens als Gesamtschuldner.
Tatbestand
I.
Die Kläger wenden sich gegen einen den Beigeladenen erteilten Bauvorbescheid für eine Diskothek.
Die (noch am Revisionsverfahren beteiligten) Kläger zu 2 und zu 3 sind Eigentümer von Grundstücken, die ebenso wie das Baugrundstück der Beigeladenen zu 1 und 2 im Geltungsbereich eines 1982 in Kraft getretenen Bebauungsplans liegen; er setzt sie sämtlich als Industriegebiet fest. Der Kläger zu 2 betreibt einen Handel mit Autoteilen. Auf seinem Grundstück befindet sich eine genehmigte Ausstellungshalle mit Verkaufsraum; ihm wurde ferner eine Hausmeisterwohnung und eine Taxenzentrale im Obergeschoß der Ausstellungshalle genehmigt. Auf dem Grundstück des Klägers zu 3 steht eine Ausbildungshalle mit Schulungsräumen für die technisch-praktische Ausbildung von Berufskraftfahrern und Baumaschinenführern; im Obergeschoß ist eine genehmigte Werkswohnung vorhanden.
Die Beklagte erteilte den Beigeladenen einen Bauvorbescheid für die Errichtung einer Diskothek auf ihrem Grundstück. Nach den Antragsunterlagen soll das Gebäude eine Grundfläche von 440 qm haben; die eigentliche Fläche der Diskothek soll 225 qm betragen; hinzukommt ein integrierter Jazz-Club von 54 qm Größe und ein 25 qm großes Bistro; 96 Stellplätze sind vorgesehen.
Die Kläger legten Widerspruch ein und machten geltend, in Industriegebieten seien Diskotheken nicht zulässig; als Nachbarn könnten sie sich auf die Verletzung des Gebietscharakters berufen, ohne darüber hinaus konkret beeinträchtigt zu sein. Ihre Widersprüche wurden zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Kläger würden nicht in ihren Rechten verletzt, weil die geplante Diskothek nach der Baunutzungsverordnung 1977 als sonstiger Gewerbebetrieb auch und gerade in einem Industriegebiet zulässig sei. Auch das Gebot der Rücksichtnahme sei hier nicht verletzt.
Die Klage war im ersten und im zweiten Rechtszug erfolgreich. Die Vorinstanzen haben den Bauvorbescheid aufgehoben, weil er rechtswidrig sei und die Kläger in subjektiven Nachbarrechten verletze. Die geplante Diskothek sei als kerngebietstypische Vergnügungsstätte kein sonstiger Gewerbebetrieb im Sinne von § 9 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1977, weil sie der Zweckbestimmung eines Industriegebiets widerspreche. Sie könne auch nicht im Wege einer Befreiung zugelassen werden. Entgegen der Rechtsauffassung der Beigeladenen dürften sich die Kläger auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen; denn durch die Nutzung ihrer Grundstücke werde das nachbarliche Austauschverhältnis nicht gestört.
Mit der Revision begehren die Beigeladenen die Abweisung der Klagen. Die Kläger sind dem entgegengetreten.
Der Oberbundesanwalt beteiligt sich am Verfahren. Er teilt die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet. Das Berufungsurteil steht im Einklang mit Bundesrecht. Durch die Aufhebung des ihnen erteilten Bauvorbescheids für eine Diskothek werden die Beigeladenen nicht in ihren Rechten verletzt. Denn die Diskothek ist nicht genehmigungsfähig, weil sie mit der Festsetzung eines Industriegebietes in dem Bebauungsplan Nr. 40 B der Beklagten nicht vereinbar ist. Den Verstoß gegen § 9 BauNVO können die Kläger auch geltend machen.
1. Planungsrechtliche Beurteilungsgrundlage für die Bauvoranfrage der Beigeladenen ist der am 11. Februar 1982 in Kraft getretene Bebauungsplan Nr. 40 B „Gewerbliche Bauflächen südlich und östlich von Klappschau” der Beklagten, in dessen Geltungsbereich das Grundstück der Beigeladenen liegt. Gegen seine Wirksamkeit sind Bedenken weder geltend gemacht worden noch ersichtlich. Der Bebauungsplan gilt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO in Verbindung mit §§ 2 bis 14 BauNVO in der seinerzeit geltenden Fassung, also in der Fassung vom 15. September 1977 (BGBl I, S. 1763). Danach ist das Grundstück der Beigeladenen als Industriegebiet im Sinne von § 9 BauNVO 1977 festgesetzt.
Gegenstand der Bauvoranfrage ist eine Diskothek. Bei ihr handelt es sich um eine kerngebietstypische Vergnügungsstätte. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist sie mit einer Grundfläche von 440 qm (davon 225 qm reine Diskothekenfläche, 54 qm integrierter Jazz-Club und 25 qm Bistro) für Besucher aus der ganzen Stadt und dem Umland bestimmt. Wie schon die Zahl der 96 vorgesehenen Stellplätze zeigt, soll sie einen großen Einzugsbereich haben. Als eine Diskothek von „gehobenem Niveau und Ambiente” soll sie in Konkurrenz zu Diskotheken in den größeren Städten der Region treten. Dies rechtfertigt die Wertung des Berufungsgerichts, daß es sich bei ihr um eine für Kerngebiete typische Vergnügungsstätte handelt, nämlich um eine Vergnügungsstätte, die als zentraler Dienstleistungsbetrieb einen größeren Einzugsbereich besitzt und für ein größeres und allgemeines Publikum erreichbar sein soll.
Diskotheken als kerngebietstypische Vergnügungsstätten sind in einem Industriegebiet nach § 9 BauNVO 1977 unzulässig. Dies folgt zwar nicht schon daraus, daß Vergnügungsstätten in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich genannt werden. Denn anders als nach der Baunutzungsverordnung in der Fassung vom 23. Januar 1990 (BGBl I, S. 132), in der die Zulässigkeit von Vergnügungsstätten für die einzelnen Baugebiete abschließend geregelt ist (vgl. BVerwG, Beschluß vom 9. Oktober 1990 – BVerwG 4 B 120.90 – Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 4 = ZfBR 1991, 35), können nach den älteren Fassungen der Baunutzungsverordnung Vergnügungsstätten grundsätzlich auch als „sonstige Gewerbebetriebe” zulässig sein (BVerwG, Urteil vom 25. November 1983 – BVerwG 4 C 64.79 – BVerwGE 68, 207). Maßgeblich ist vielmehr, ob bei typisierender Betrachtung kerngebietstypische Vergnügungsstätten mit der Zweckbestimmung des Industriegebiets vereinbar sind. Diese Frage ist – ebenso wie für das Misch- und das Gewerbegebiet (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1983 – BVerwG 4 C 64.79 – BVerwGE 68, 207 und Beschluß vom 28. Juli 1988 – BVerwG 4 B 119.88 – Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 8 = ZfBR 1988, 277) – zu verneinen.
Die Zweckbestimmung eines Baugebiets kann nicht allein aus der jeweiligen Baugebietsvorschrift der Baunutzungsverordnung abgeleitet werden, sondern wird auch dadurch beeinflußt, welche Funktionen dem einzelnen Baugebiet im Verhältnis zu anderen Baugebieten der Baunutzungsverordnung zukommen. Dabei hängt die Zulässigkeit von Nutzungen in den einzelnen Baugebieten nicht nur von deren Immissionsträchtigkeit oder Immissionsverträglichkeit ab, sondern wird auch von anderen Maßstäben der städtebaulichen Ordnung bestimmt (BVerwG, Beschluß vom 28. Juli 1988 – BVerwG 4 B 119.88 – Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 8 = ZfBR 1988, 277, unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 25. November 1983 – BVerwG 4 C 64.79 – BVerwGE 68, 207 ≪210 f.≫; vgl. auch Urteil vom 29. April 1992 – BVerwG 4 C 43.89 – ≪BVerwGE 90, 140, 144 f.≫). Das Industriegebiet dient in erster Linie der Unterbringung von gewerblichen Betrieben. In ihm sollen vor allem störende und andernorts unzulässige Betriebe untergebracht werden. Industriegebiete liegen typischerweise getrennt von Wohngebieten und sollen allenfalls den durch die Gewerbebetriebe ausgelösten Besucherverkehr bewältigen. Dagegen haben Kerngebiete zentrale Funktionen. Sie bieten vielfältige Nutzungen und ein urbanes Angebot an Gütern und Dienstleistungen für die Besucher der Stadt und für die Wohnbevölkerung eines größeren Einzugsbereichs, gerade auch im Bereich von Kultur und Freizeit (BVerwG, Beschluß vom 28. Juli 1988 – BVerwG 4 B 119.88 – Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 8 = ZfBR 1988, 277). In den Kerngebieten sollen deshalb auch die Vergnügungsstätten konzentriert sein. Sie sollen nicht in die regelmäßig am Rande gelegenen und für größere Besucherzahlen nicht erschlossenen Industriegebiete abgedrängt werden; für Erholung und Vergnügen sind Industriegebiete nicht bestimmt. Nach der Wertung des Verordnungsgebers gehören Diskotheken gerade nicht zu den im Industriegebiet typischen Gewerbebetrieben. Die Regelung der Baunutzungsverordnung 1990, nach der Vergnügungsstätten im Industriegebiet generell ausgeschlossen sind, bestätigt als „Auslegungshilfe” diese Interpretation der älteren Fassungen der Verordnung.
Zu Recht hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß die von den Beigeladenen geplante Diskothek auch nicht im Wege der Befreiung zugelassen werden könnte. Insbesondere käme eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB nicht in Betracht, weil die Abweichung von der festgesetzten Nutzungsart städtebaulich nicht vertretbar wäre. Dies folgt aus der Unvereinbarkeit einer Diskothek mit der typischen Funktion eines Industriegebiets, wie sie sich nunmehr auch aus der Neuregelung in der Baunutzungsverordnung 1990 ergibt.
2. Auf die Einhaltung der festgesetzten Nutzungsart haben die Kläger einen Rechtsanspruch. Als Eigentümer von Grundstücken, die durch denselben Bebauungsplan ebenfalls als Industriegebiet festgesetzt werden, können sie die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens abwehren, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird (BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 ≪161≫). Nicht zu folgen ist der Rechtsauffassung, der Nachbarschutz könne entfallen, weil eine schutzniveauverschlechternde Entwicklung gar nicht eintreten könne. Zwar mag richtig sein, daß die in einem Industriegebiet vorhandenen Gewerbebetriebe durch eine Diskothek regelmäßig kaum oder nur geringfügig gestört werden dürften. Gleichwohl kann auch im Industriegebiet jede von der Gebietsfestsetzung abweichende Nutzung eine potentielle Verschlechterung für den Nachbarn bedeuten, weil sie den Beginn einer Veränderung des Gebietscharakters darstellt und damit möglicherweise zur Zulässigkeit von Nutzungen führt, die den Nachbarn entweder selbst stören oder – wenn die neue Nutzung nicht stört – ihn hinsichtlich seines eigenen Betriebes zur Rücksichtnahme zwingen kann.
Der Anspruch der Kläger auf Bewahrung der Gebietsart entfällt hier schließlich auch nicht deshalb, weil sie – nach dem Vortrag der Beigeladenen – ihre Grundstücke selbst planwidrig nutzen. Zwar trifft es zu, daß eine planwidrige Nutzung nicht schutzwürdig ist (BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – BVerwG 7 C 6.92 – BVerwGE 91, 92 ≪96≫). Deshalb muß eine Nachbarklage zum Schutze einer planwidrigen Nutzung erfolglos bleiben; denn rechtsmißbräuchlich handelt, wer unter Berufung auf das nachbarliche Austauschverhältnis eine eigene Nutzung schützen möchte, die ihrerseits das nachbarliche Austauschverhältnis stört. Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts fehlt es hier jedoch an Anhaltspunkten für ein rechtsmißbräuchliches Handeln der Kläger.
Das Berufungsgericht prüft die genehmigten Nutzungen und führt zutreffend aus, daß die genehmigte Nutzung als Werkswohnungen und die genehmigte Nutzung als Taxizentrale nach § 9 Abs. 3 Nr. 1 und nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO mit dem Gebietscharakter vereinbar ist. Zur Zulässigkeit der Schulungsräume im Hause des Klägers zu 3 macht das Berufungsgericht zwar keine Ausführungen. Im Tatbestand werden diese Räume jedoch als „integrierte Schulungsräume” der Ausbildungshalle für die technisch/praktische Ausbildung von Berufskraftfahrern und Baumaschinenführern beschrieben. Sie sind somit ebenfalls in einem Industriegebiet zulässig, weil sie zu einem Gewerbebetrieb gehören, der unter die „Gewerbebetriebe aller Art” im Sinne von § 9 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO fällt.
Demgegenüber hatten die Beigeladenen geltend gemacht, die als Werkswohnungen genehmigten Wohnungen würden tatsächlich als normale Wohnungen genutzt. Die Kläger bestreiten dies. Das Berufungsgericht hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Dies war auch nicht erforderlich. Denn selbst wenn unterstellt wird, daß die beiden Werkswohnungen gegenwärtig für private Wohnzwecke genutzt werden, so spricht nichts dafür, daß die Kläger diese dann rechtswidrige Nutzung verteidigen wollen. Auch das Berufungsgericht geht davon aus, daß der Nachbar keinen Schutz für eine eigene unzulässige Nutzung verlangen darf. Dann bedeuten aber seine weiteren Ausführungen, daß es nach seiner Wertung hier auch nur um den Schutz der genehmigten Nutzungen, insbesondere den der Gewerbebetriebe, geht und daß sich die Kläger nur auf sie stützen. Ein rechtsmißbräuchliches Vorgehen der Kläger ist somit von den Beigeladenen nicht schlüssig vorgetragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO, § 100 ZPO. Die fehlerhafte Bezeichnung der Beigeladenen im Tenor des Protokolls vom 24. Februar 2000 ist als offenbar unrichtig berichtigt worden (§ 118 VwGO).
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Lemmel, Halama, Rojahn
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 24.02.2000 durch Kurowski Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BauR 2000, 1306 |
NVwZ 2000, 1054 |
IBR 2000, 392 |
DÖV 2000, 1057 |
GewArch 2000, 388 |
ZfBR 2000, 423 |
BRS 2000, 399 |
DVBl. 2000, 1340 |
KomVerw 2001, 77 |
UPR 2000, 455 |
FSt 2001, 295 |
FuBW 2001, 60 |
FuHe 2001, 177 |
FuNds 2001, 596 |