Entscheidungsstichwort (Thema)
Örtliche Zuständigkeit des Trägers der Jugendhilfe für eine der Leistung nach § 19 SGB VIII nachfolgende andere Hilfe.
Leitsatz (amtlich)
Die örtliche Zuständigkeit des Trägers der Jugendhilfe für eine der Leistung nach § 19 SGB VIII nachfolgende andere Leistung gemäß § 2 Abs. 2 SGB VIII richtet sich regelmäßig nach § 86 SGB VIII und dem hierzu entwickelten zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff; die vorhergehende Leistung nach § 19 SGB VIII beinhaltet nicht gleichsam automatisch eine Zäsur zu einer ihr nachfolgenden anderen Form der Hilfe mit der Folge, dass diese zuständigkeitsrechtlich immer als Beginn einer neuen Leistung anzusehen wäre.
Verfahrensgang
VG Freiburg i. Br. (Urteil vom 08.05.2019; Aktenzeichen 4 K 11343/17) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 8. Mai 2019 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die Beteiligten streiten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe um die Erstattung von Aufwendungen.
Rz. 2
Die Klägerin leistete ab dem 1. Juli 2012 der sich in ihrem Zuständigkeitsbereich aufhaltenden Frau M. Hilfe in Form der Betreuung in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter oder Väter und Kinder. Das Kind wurde am 24. September 2012 geboren und lebte bei der Mutter, die das Sorgerecht gemeinsam mit dem ebenfalls im Bereich der Klägerin lebenden Vater des Kindes ausübte. Als Frau M. am 24. Juni 2013 in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wurde, verblieb ihr Kind in der gemeinsamen Wohnform. Nach ihrer Entlassung aus der psychiatrischen Einrichtung am 15. Juli 2013 fand Frau M. Aufnahme bei ihrer im Zuständigkeitsbereich des Beklagten lebenden Mutter. Die Klägerin gewährte Frau M. und Herrn M. mit Wirkung vom 17. Juli 2013 bis zum 5. September 2013 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege und brachte das Kind in einer Pflegefamilie unter. Hiervon unterrichtete sie den Beklagten am 27. August 2013, bat ihn um Übernahme des Jugendhilfefalles und forderte ihn - nach insoweit erfolgter Ablehnung - erfolglos zur Anerkennung der Kostentragungspflicht auf. Für den Zeitraum vom 5. September bis 14. Dezember 2013 nahm die Klägerin das Kind in Obhut und gewährte für die Zeit ab dem 14. Dezember 2013 erneut Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege durch Unterbringung des Kindes in einer anderen Pflegefamilie. Ein erneutes Kostenübernahmeersuchen lehnte der Beklagte gleichfalls ab.
Rz. 3
Mit ihrer am 28. Dezember 2017 erhobenen Klage begehrt die Klägerin Erstattung der von ihr im Zeitraum vom 27. August bis 31. Dezember 2013 aufgewandten Kosten der Kinder- und Jugendhilfe. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Klägerin für die ab dem 17. Juli 2013 gewährten Hilfen selbst örtlich zuständig gewesen sei und ihr deshalb ein Kostenerstattungsanspruch nach § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nicht zustehe. Die örtliche Zuständigkeit richte sich im Falle eines Übergangs der gewährten Hilfeleistung von der Betreuung in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter oder Väter und Kinder gemäß § 19 SGB VIII, für die nach § 86b SGB VIII hier die Klägerin zuständig gewesen sei, zu einer Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII nach den allgemeinen Regelungen des § 86 SGB VIII. Dabei stelle die Hilfeleistung nach § 19 SGB VIII keine Zäsur mit der Folge dar, dass eine nachfolgende Hilfeleistung immer als der Beginn einer neuen Leistung im Sinne des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs anzusehen sei.
Rz. 4
Mit ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie stützt den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch auf § 105 Abs. 1 SGB X sowie § 89c Abs. 1 Satz 2 und § 89b Abs. 1 SGB VIII. Zur Begründung führt sie aus, dass § 86b SGB VIII für Leistungen in gemeinsamen Wohnformen für Mütter oder Väter und Kinder eine spezielle Zuständigkeitsregelung enthalte, so dass mit einer sich anschließenden Hilfeleistung stets eine neue Leistung im Sinne des § 86 SGB VIII beginne und der zuständige Jugendhilfeträger neu zu bestimmen sei. Dies ergebe sich im Übrigen auch daraus, dass eine Leistung in gemeinsamen Wohnformen für Mütter oder Väter und Kinder einen anderen Bedarf abdecke als eine Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege.
Rz. 5
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die zulässige Sprungrevision der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 141 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden, dass der Klägerin der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zusteht. Er findet weder für den Zeitraum vom 27. August bis zum 5. September 2013 (1.) noch für den Zeitraum vom 5. September bis zum 14. Dezember 2013 (2.) oder den Zeitraum vom 14. bis 31. Dezember 2013 (3.) in den kostenerstattungsrechtlichen Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII -, zuletzt geändert durch Artikel 12 des Gesetzes vom 4. Mai 2021 (BGBl. I S. 882), eine Rechtsgrundlage. Die Klägerin kann den Kostenerstattungsanspruch auch nicht auf § 105 Abs. 1 SGB X stützen (4.).
Rz. 7
1. Die Klägerin kann keine Kostenerstattung für die im Zeitraum vom 27. August bis 5. September 2013 gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII beanspruchen. Die Voraussetzungen der hierfür als Rechtsgrundlage in Betracht kommenden Regelungen des § 89c Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB VIII liegen nicht vor.
Rz. 8
Nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Nach Satz 2 der Vorschrift sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86d SGB VIII aufgewandt hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a und 86b SGB VIII begründet wird. Beide Erstattungsregelungen setzen mit der Bezugnahme auf § 86c bzw. § 86d SGB VIII voraus, dass der die Kostenerstattung beanspruchende örtliche Jugendhilfeträger nicht selbst für die Erbringung der in Rede stehenden Leistung der Kinder- und Jugendhilfe zuständig gewesen ist. Hier war jedoch die Klägerin selbst der nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der zum Zeitpunkt der Hilfeleistung geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) zuständige Träger der Jugendhilfe:
Rz. 9
a) Folgt der Leistung in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter oder Väter und Kinder im Sinne des § 19 SGB VIII eine andere Leistung der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII nach, so ist die spezielle Zuständigkeitsnorm des § 86b SGB VIII nicht mehr anwendbar; vielmehr richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers für diese Leistung regelmäßig nach der allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 C 7.20 - Rn. 12). Danach kommt es grundsätzlich auf den gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) der Eltern bzw. des maßgeblichen Elternteils vor Beginn der Leistung an. Hiervon gehen auch die Beteiligten in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht zu Recht aus.
Rz. 10
b) Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin für die im Zeitraum vom 27. August bis 5. September 2013 gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig gewesen ist. Nach dieser Vorschrift bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, wenn die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam zusteht und diese nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet haben (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 22, 26).
Rz. 11
Hierzu hat das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen, dass die Frage, ob die bisherige Leistung der Klägerin nach § 19 SGB VIII mit der anschließenden Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII lediglich fortgesetzt worden ist oder ob die Klägerin mit der Vollzeitpflege eine neue Leistung der Jugendhilfe erbracht hat, grundsätzlich nach Maßgabe des zu § 86 SGB VIII entwickelten zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs zu beantworten ist. Danach sind unter einer Leistung, an deren Beginn auch die in Rede stehende Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit anknüpft, unabhängig von der Hilfeart und -form im Rahmen einer Gesamtbetrachtung alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen zu verstehen, sofern sie ohne zwischenzeitliche Beendigung oder beachtliche Unterbrechung gewährt worden sind. Unter den vorgenannten Voraussetzungen lassen Verschiebungen der Schwerpunkte innerhalb des Hilfebedarfs und Modifikationen, Änderungen oder Ergänzungen in der Ausgestaltung der Hilfe bis hin zu einem Wechsel der Hilfeart den Leistungszusammenhang grundsätzlich unberührt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2018 - 5 C 15.17 - BVerwGE 163, 262 Rn. 16 m.w.N.). Die Beendigung einer Leistung im Sinne der §§ 86 ff. SGB VIII liegt vor, wenn der Jugendhilfeträger die von ihm bisher gewährte Hilfeleistung aufgrund eines Verwaltungsakts tatsächlich einstellt und dies in belastbarer Weise auf der Annahme beruht, dass ein objektiv erkennbarer und qualitativ unveränderter, kontinuierliche Hilfe gebietender jugendhilferechtlicher Bedarf nicht mehr fortbesteht. Kennzeichnend für die Beendigung ist also die Entscheidung des Jugendhilfeträgers, den bisherigen Hilfeleistungsvorgang nicht nur zeitweise zu unterbrechen, sondern abzuschließen, sofern dies auf der durch Tatsachen hinreichend gerechtfertigten Einschätzung gründet, dass ein entsprechender Hilfebedarf entfallen ist oder eine neue Hilfemaßnahme erforderlich ist, die zur Deckung eines andersartigen, neu entstandenen Bedarfs dient (BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 5 C 35.15 - BVerwGE 157, 96 Rn. 31).
Rz. 12
aa) Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht auch bei der hier in Rede stehenden Fallkonstellation einer der Leistungsgewährung nach § 19 SGB VIII nachfolgenden anderen Jugendhilfeleistung im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII zu Recht zugrunde gelegt, dass die Hilfe nach § 19 SGB VIII nicht gleichsam automatisch eine Zäsur zu einer ihr nachfolgenden anderen Hilfeart oder -form mit der Folge beinhaltet, dass diese zuständigkeitsrechtlich immer als Beginn einer neuen Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII anzusehen wäre.
Rz. 13
Der Wortlaut des § 86 SGB VIII bietet hierfür keinen Anhalt. Eine derartige Zäsurwirkung kann der Leistung nach § 19 SGB VIII - entgegen der Ansicht der Klägerin - insbesondere nicht deshalb beigemessen werden, weil diese immer einen anderen Bedarf abdecke als andere Jugendhilfeleistungen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII, wie beispielsweise auch die hier in Rede stehende Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII. Denn diese Prämisse trifft nicht zu. Richtig ist zwar, dass im Gegensatz zu anderen Hilfen im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII bei der Hilfe nach § 19 SGB VIII nicht die Eltern des Kindes anspruchsberechtigt sind, sondern der alleinerziehende Elternteil, der mit dem Kind oder den Kindern die gemeinsame Wohnform in Anspruch nimmt (vgl. etwa VG München, Urteil vom 24. April 2002 - M 18 K 00.2155 - JAmt 2002, 523 ≪523≫; Eschelbach, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 86b Rn. 1). Die Leistungsgewährung nach § 19 SGB VIII knüpft an dessen Persönlichkeitsdefizite an und verfolgt das Ziel, ihn bei der Pflege und Erziehung des Kindes zu unterstützen und seine Erziehungskompetenz zu stärken, weshalb die Leistung nicht allein und auch nicht vorrangig an den Interessen des Kindes ausgerichtet ist (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 - 5 C 19.08 - BVerwGE 135, 159 Rn. 17 und 26). Das rechtfertigt aber nicht den Umkehrschluss, dass die Betreuung in einer gemeinsamen Einrichtung für Mütter oder Väter und Kinder den Interessen von Letzteren keine Rechnung trägt. Dass die Leistung nach § 19 SGB VIII auch auf das Kind unter sechs Jahren und seinen Bedarf bezogen ist und ihm dient, ergibt sich vielmehr schon aus dem Umstand, dass sie nur zu gewähren ist, wenn überhaupt ein Kind vorhanden ist oder erwartet wird. Ferner sprechen hierfür der Wortlaut des § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ("gemeinsam mit dem Kind", "Pflege und Erziehung des Kindes") sowie des § 19 Abs. 3 SGB VIII ("der betreuten Personen"). Ob danach Pflege und Erziehung des Kindes letztlich das eigentliche Ziel der Hilfe nach § 19 SGB VIII sind (so OVG Koblenz, Urteil vom 12. Dezember 2017 - 7 A 11296/17 - JAmt 2018, 162 ≪164≫; Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. vom 24. November 2020 - G 5/20 S. 3 f.), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn sie dient jedenfalls auch dem Kind und seinen Interessen. Dass dem so ist, ist sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 22. Oktober 2009 - 5 C 19.08 - BVerwGE 135, 159 Rn. 28, 31 und 35) als auch des Bundessozialgerichts (Urteil vom 24. März 2009 - B 8 SO 29/07 R - BSGE 103, 39) geklärt. Danach enthält die nach § 19 SGB VIII zu gewährende Leistung der Jugendhilfe ein einheitliches Hilfeangebot für zwei Generationen bei einem allein erziehenden Elternteil, das mittels einer komplexen, multifunktionalen Leistungspalette darauf abzielt, den gesamten pädagogischen Bedarf in der von der Vorschrift erfassten spezifischen Lebenssituation zu decken. Es handelt sich um sachlich aufeinander bezogene Leistungen für den alleinerziehenden Elternteil und das Kind, die durch die einrichtungsgebundene Gewährung auch zeitlich und örtlich verbunden sind und die die Förderung aller von der Bedarfssituation betroffenen Personen im Auge haben.
Rz. 14
bb) Eine andere Entscheidung hinsichtlich der Zäsurwirkung ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch nicht deshalb geboten, weil die örtliche Zuständigkeit für Leistungen in gemeinsamen Wohnformen für Mütter oder Väter und Kinder nach § 19 SGB VIII in § 86b SGB VIII speziell geregelt ist. Denn diese Vorschrift regelt ausschließlich die örtliche Zuständigkeit für Leistungen nach § 19 SGB VIII. Sie enthält weder eine Aussage hinsichtlich der Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers für eine nachfolgende Hilfeleistung (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 C 7.20 - Rn. 10 ff.) noch bietet sie einen Anhalt für die Annahme einer zuständigkeitsrechtlichen Zäsur zwischen der Hilfe nach § 19 SGB VIII und nachfolgenden anderen Leistungen der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII. Letzteres findet entgegen einer in der Instanzrechtsprechung (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 12 A 1493.11 - juris Rn. 8 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 15. Juni 2009 - 13 K 2641/07 - juris Rn. 16 ff.; VG München, Urteil vom 24. April 2002 - M 18 K 00.2155 - JAmt 2002, 523 ≪523≫) vertretenen Auffassung insbesondere keine Stütze in den insoweit in Bezug genommenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 29. Januar 2004 - 5 C 9.03 - BVerwGE 120, 116 ≪122≫). Dort heißt es zwar, dass der Rechtsgrundlage für eine bestimmte Hilfemaßnahme für sich allein eine zuständigkeitsrechtliche Bedeutung unmittelbar nur insoweit zukomme, als die Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit - wie in § 86a Abs. 4, § 86b Abs. 1 SGB VIII - auf die Hilfegewährung nach einer bestimmten Rechtsgrundlage Bezug nehmen. Dies ist jedoch nicht dahingehend zu verstehen, dass ein etwaiger Leistungszusammenhang unterbrochen wird, wenn das Gesetz für eine Hilfemaßnahme - wie § 86b SGB VIII für die hier in Rede stehende Leistung nach § 19 SGB VIII - eine spezielle Zuständigkeitsregelung enthält, so dass mit jeder Anschlusshilfe stets eine neue Leistung beginnen würde. Einem derartigen Verständnis widerstreitet bereits die nachfolgende Aussage in der betreffenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, hieraus folge kein allgemeiner Grundsatz, dass zuständigkeitsrechtlich auch dann nach den einzelnen Rechtsgrundlagen für eine Hilfegewährung zu unterscheiden sei, wenn der Gesetzgeber dies nicht ausdrücklich geregelt habe. Damit wird der Grundsatz bekräftigt, dass für den zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff nicht auf die in § 2 Abs. 2 SGB VIII getroffene systematische Aufzählung verschiedener (Einzel-)Leistungen, sondern auf die zur Deckung eines qualitativ unveränderten jugendhilferechtlichen Bedarfs bezogene Gesamtmaßnahme abzustellen ist.
Rz. 15
c) Nach Maßgabe des Vorstehenden hat das Verwaltungsgericht auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Recht entschieden, dass die Klägerin auch für die im Zeitraum vom 27. August bis 5. September 2013 gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig gewesen ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift, nach der die bisherige Zuständigkeit bestehen bleibt, wenn die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam zusteht und diese nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet haben (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 22, 26 ff.), sind hier gegeben. Die zuständigkeitsrechtlich relevante Leistung begann mit der Hilfe nach § 19 SGB VIII und wurde durch die anschließende Hilfe in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII fortgesetzt. Die Klägerin hat die mit der Hilfe nach § 19 SGB VIII einsetzende Leistung weder im Rechtssinne durch Verwaltungsakt gegenüber Frau M. beendet, noch diente die sich anschließende Vollzeitpflege der Deckung eines andersartigen, neu entstandenen Bedarfs. Vielmehr umfasste bereits die Hilfe nach § 19 SGB VIII auch die Versorgung des Säuglings, die Vollzeitpflege diente ausschließlich hierzu. Die Einheitlichkeit des Bedarfs wird vorliegend auch dadurch unterstrichen, dass das Kind nach Einweisung von Frau M. in eine psychiatrische Einrichtung am 24. Juni 2013 zunächst weiterhin in dem Mutter-Kind-Haus versorgt wurde und sich die Vollzeitpflege nahtlos hieran angeschlossen hat. Für die Hilfe nach § 19 SGB VIII war - wie zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - nach Maßgabe des § 86b SGB VIII die Klägerin zuständig, da sich Frau M. vor Beginn dieser Hilfe gewöhnlich im Zuständigkeitsbereich der Klägerin aufhielt. Die Elternteile übten die Personensorge gemeinsam aus. Seit Mitte Juli 2013 hatte Frau M. ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten, während Herr M. weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Klägerin lebte.
Rz. 16
2. Der Klägerin steht ein Kostenerstattungsanspruch gegen den Beklagten auch nicht für die im Zeitraum vom 5. September bis 14. Dezember 2013 erfolgte Inobhutnahme des Kindes nach § 42 SGB VIII zu. Gemäß der hierfür allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 89b Abs. 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet wird. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass der örtliche Träger nach § 89b Abs. 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtig ist, welcher für die Inobhutnahme, würde es sich dabei nicht um eine andere Aufgabe der Jugendhilfe im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB VIII, sondern um eine Leistung der Jugendhilfe im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII handeln, nach § 86 SGB VIII zuständig gewesen wäre. Mit dieser Verweisung auf § 86 SGB VIII wird zugleich auf den zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff des § 86 SGB VIII Bezug genommen, so dass dessen Maßstäbe bei dieser fiktiven Zuständigkeitsprüfung gelten. Dabei ist für Fälle, in denen - wie hier - der Inobhutnahme eine Jugendhilfeleistung vorausgegangen ist, ebenfalls bereits entschieden, dass die Inobhutnahme zuständigkeitsrechtlich nicht immer wie eine neue Leistung zu behandeln ist, sondern auch in einen bereits (längere Zeit) vor Beginn der Inobhutnahme begründeten Leistungszusammenhang im Sinne des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs einzubeziehen sein kann (BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 5 C 35.15 - BVerwGE 157, 96 Rn. 18 ff.).
Rz. 17
Demnach ist der Beklagte gegenüber der Klägerin nicht nach § 89b Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtig. Denn die Klägerin wäre für die Inobhutnahme nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zuständig gewesen, würde es sich bei der Inobhutnahme um eine Leistung im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII handeln. Die Inobhutnahme und die ihr unmittelbar vorangehende Vollzeitpflege decken - auch nach Auffassung der Klägerin (vgl. Schriftsatz vom 13. August 2019 S. 17) - einen einheitlichen Bedarf und stellen sich deshalb nach Maßgabe des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs als eine einheitliche Leistung dar. Damit ist unter Bezugnahme auf die Ausführungen unter 1. zugleich geklärt, dass es sich auch bei der Leistung nach § 19 SGB VIII und der Inobhutnahme zuständigkeitsrechtlich um eine einheitliche Leistung handelt, für die insgesamt die Klägerin zuständig war.
Rz. 18
3. Auch für die ab dem 14. Dezember 2013 erneut in Form der Vollzeitpflege gewährte Hilfe kann die Klägerin keine Kostenerstattung gemäß § 89c Abs. 1 SGB VIII beanspruchen. Insoweit handelt es sich zuständigkeitsrechtlich wegen des qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs ebenfalls um eine die vorhergehenden Jugendhilfemaßnahmen einschließlich derjenigen nach § 19 SGB VIII umfassende einheitliche Leistung.
Rz. 19
4. Schließlich steht der Klägerin kein Kostenerstattungsanspruch nach § 105 Abs. 1 SGB X zu, da sie weder die Hilfen zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege noch die Inobhutnahme als unzuständiger, sondern - wie dargelegt - als zuständiger Sozialleistungsträger erbracht hat.
Rz. 20
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO.
Fundstellen
BVerwGE 2022, 61 |
DÖV 2022, 135 |
FEVS 2022, 259 |
JZ 2022, 70 |
NDV-RD 2022, 21 |
VR 2022, 35 |
BayVBl. 2022, 202 |
FSt 2022, 417 |