Leitsatz (amtlich)
Die örtliche Zuständigkeit eines Trägers der Kinder- und Jugendhilfe bestimmt sich für eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe, die einer Leistung nach § 19 SGB VIII nachfolgt, regelmäßig nach § 86 SGB VIII und dem hierzu entwickelten zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff.
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Entscheidung vom 02.12.2019; Aktenzeichen 12 BV 19.1737) |
VG Ansbach (Entscheidung vom 11.07.2019; Aktenzeichen AN 6 K 17.02689) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Dezember 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
Rz. 1
Die Beteiligten streiten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe um die Erstattung von Aufwendungen.
Rz. 2
Die allein sorgeberechtigte Mutter der Kinder T. und M., Frau S., stand seit Mai 2010 unter Betreuung. Der Aufenthalt der (unterschiedlichen) Väter der Kinder ist unbekannt. Nach der Geburt des Kindes T. im April 2010 erhielt Frau S. zunächst Unterstützung in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe durch den beklagten Landkreis. Im April 2011 wurde das Kind M. geboren. Ende Juli 2011 beendete der Beklagte die vorgenannte Hilfe, weil der beabsichtigte Erziehungserfolg nicht eingetreten war. Unmittelbar im Anschluss gewährte der Beklagte deshalb Frau S. zusammen mit ihren Kindern Hilfe in Form der Betreuung in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter oder Väter und Kinder in einer im Bereich des beigeladenen Landkreises liegenden Einrichtung. Frau S. verließ diese Einrichtung auf eigenen Wunsch am 16. April 2012 und beantragte bei dem Beigeladenen für ihre beiden Kinder Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege, die dieser bewilligte. Während die Kinder in unterschiedlichen Pflegefamilien aufgenommen wurden, schloss Frau S. mit dem Träger der gemeinsamen Wohnform einen befristeten Arbeitsvertrag mit einem wöchentlichen Beschäftigungsumfang von 30 Stunden und bezog in der Einrichtung zur Vermeidung von Obdachlosigkeit eine private Wohnung. Am 7. August 2012 wurde Frau S. in einer Einrichtung für psychisch Kranke im Bereich des Klägers aufgenommen. Der Kläger übernahm daraufhin in der Annahme eigener örtlicher Zuständigkeit die Jugendhilfefälle der beiden Kinder. Später bewertete er die Zuständigkeit anders und machte mit Schreiben vom 2. Februar 2015 einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten in Höhe von insgesamt 14 201,33 € für die im Zeitraum vom 1. April 2013 bis 31. Dezember 2013 gewährte Vollzeitpflege geltend. Weil der Beklagte die Erstattung ablehnte, hat der Kläger am 22. Dezember 2017 Klage erhoben.
Rz. 3
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten antragsgemäß zur Zahlung des geforderten Erstattungsbetrages verurteilt. Der Verwaltungsgerichtshof hat die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, die fortbestehende (statische) Zuständigkeit des Beklagten für die im streitbefangenen Zeitraum geleistete Hilfe ergebe sich aus dem Rechtsgedanken des § 86b Abs. 3 SGB VIII, dass ein Wechsel der Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers vermieden werden solle, wenn eine Jugendhilfeleistung nach §§ 27 bis 35a SGB VIII durch eine Maßnahme nach § 19 SGB VIII unterbrochen und anschließend wieder zu einer Jugendhilfeleistung nach §§ 27 bis 35a SGB VIII zurückgekehrt werde.
Rz. 4
Mit seiner Revision verfolgt der Beklagte sein Klageabweisungsbegehren weiter. § 86b Abs. 3 SGB VIII regele nicht, welcher Träger der Jugendhilfe für eine der Hilfe nach § 19 SGB VIII nachfolgende Jugendhilfeleistung zuständig sei. Die Zuständigkeit richte sich vielmehr grundsätzlich dynamisch nach § 86 SGB VIII und hänge von dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern oder des maßgeblichen Elternteils des betreffenden Kindes ab. Deshalb sei er nicht für die geleistete Hilfe zuständig gewesen.
Rz. 5
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Revision des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 141 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) (1.). Ob es sich aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO), kann der Senat mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen nicht entscheiden. Das angefochtene Urteil ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (2.).
Rz. 7
1. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs des Klägers gegen den Beklagten aus § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X aus Gründen bejaht, die mit Bundesrecht nicht in Einklang stehen.
Rz. 8
Zwar ist der Verwaltungsgerichtshof zutreffend davon ausgegangen, dass als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch allein § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht kommt. Danach ist, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits geleistet hat, bevor er von der Leistung des unzuständigen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu Recht angenommen, dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X hier nicht vorliegen, weil der Kläger nicht aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig, sondern in der Annahme seiner eigenen Zuständigkeit (und insofern "endgültig") Sozialleistungen erbracht hat.
Rz. 9
Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch das Vorliegen der weiteren Voraussetzung des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dass der Kläger die streitige Leistung als unzuständiger Leistungsträger erbracht haben muss, mit einer unzutreffenden Begründung bejaht. Mit Bundesrecht nicht vereinbar ist seine Rechtsauffassung, der Regelung des § 86b Abs. 3 des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII -, zuletzt geändert durch Artikel 12 des Gesetzes vom 4. Mai 2021 (BGBl. I S. 882), sei der Rechtsgedanke zu entnehmen, dass ein Wechsel der Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers vermieden werden solle, wenn im Falle eines im Sinne des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffes einheitlichen Hilfebedarfs eine Jugendhilfeleistung nach den §§ 27 bis 35a SGB VIII durch eine Maßnahme nach § 19 SGB VIII unterbrochen und anschließend, selbst bei einer Unterbrechung von bis zu drei Monaten, wieder zu einer Jugendhilfeleistung nach §§ 27 bis 35a SGB VIII zurückgekehrt werde, weshalb der für die Maßnahme nach § 19 SGB VIII zuständige Jugendhilfeträger auch für eine daran anschließende Hilfe zuständig bleibe (BA S. 17 f. Rn. 35 und 37).
Rz. 10
a) § 86b Abs. 3 SGB VIII lässt schon seinem Wortlaut nach keinen Raum für eine Auslegung dahin, dass sich die dort angeordnete statische Zuständigkeit bei einem einheitlichen Gesamthilfebedarf auch auf eine der Leistung nach § 19 SGB VIII nachfolgende Hilfe nach den §§ 27 bis 35a SGB VIII erstreckt. Die Vorschrift bestimmt - ihrer Überschrift "Örtliche Zuständigkeit für Leistungen in gemeinsamen Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder" folgend - nur, dass bei vorausgegangenen Hilfen nach den §§ 27 bis 35a bzw. Leistungen nach § 13 Absatz 3, § 21 oder § 41 SGB VIII die bisherige örtliche Zuständigkeit auch für die Leistung nach § 19 SGB VIII bestehen bleibt. Dadurch wird zwar ein Zuständigkeitszusammenhang zwischen einer der Hilfe nach § 19 SGB VIII zeitlich vorgehenden Leistung und der Leistung nach § 19 SGB VIII hergestellt, die örtliche Zuständigkeit wird aber nur für die Leistung nach § 19 SGB VIII geregelt. Eine Regelung über die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung einer anderen nachfolgenden Leistung als § 19 SGB VIII trifft § 86b SGB VIII nicht.
Rz. 11
Dieser eindeutige Wortlautbefund wird durch den systematischen Vergleich mit der Vorschrift des § 86a Abs. 4 Satz 3 SGB VIII erhärtet. Diese Vorschrift erhält den bisherigen Leistungszusammenhang zwischen einer Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII und den ihr vorausgehenden Hilfen nach § 19 oder den §§ 27 bis 35a SGB VIII im Interesse der Kontinuität der Hilfeleistung trotz Beendigung der Leistung nach § 41 SGB VIII für eine erneute Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII, wenn Letztere innerhalb von drei Monaten nach der Beendigung erforderlich wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 5 C 35.15 - BVerwGE 157, 96 Rn. 29). Aus dem Fehlen einer vergleichbaren Anordnung in § 86b Abs. 3 SGB VIII ist zu folgern, dass dieser speziellen Zuständigkeitsnorm ein entsprechender Regelungsgehalt nicht beizumessen ist.
Rz. 12
Dieser spezielle Gehalt lässt sich entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs auch nicht durch den Rückgriff auf den zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff in der Weise ausweiten, dass die bisherige örtliche Zuständigkeit nach § 86b SGB VIII dann und deshalb für andere Anschlussleistungen (wie etwa eine anschließende Hilfe zur Erziehung) erhalten bleibt, sofern zwischen diesen Leistungen ein einheitlicher Leistungszusammenhang besteht. Der zuständigkeitsrechtliche Leistungsbegriff ist von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der allgemeinen Zuständigkeitsnorm des § 86 SGB VIII entwickelt worden; und zwar zum Begriff der "Leistung", an deren Beginn etwa § 86 Abs. 2 Satz 2 bis 4 und Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit anknüpfen (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 5 C 35.15 - BVerwGE 157, 96 Rn. 19 m.w.N.). Er kann deshalb und angesichts der bereits explizit aus dem Wortlaut des § 86b Abs. 3 SGB VIII folgenden begrenzten Reichweite dieser Zuständigkeitsnorm nicht herangezogen werden, um deren Anwendungsbereich zu erweitern. Auch die in § 86b Abs. 1 SGB VIII genannte Formulierung "vor Beginn der Leistung" bezieht sich ausschließlich auf Leistungen nach § 19 SGB VIII und ist im Sinne von "vor Beginn des tatsächlichen Einsetzens der Leistung nach § 19 SGB VIII" zu verstehen. Dies folgt sowohl aus dem Wortlaut des § 86b Abs. 1 SGB VIII als auch im Umkehrschluss aus der speziellen Regelung des § 86b Abs. 3 SGB VIII (vgl. Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand Juli 2021, § 86b Rn. 8 f.; Nellissen, in: Wabnitz/Fieseler/Schleicher u.a., Kinder- und Jugendhilferecht, 65. Lfg. 2016, § 86b SGB VIII Rn. 4; Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 86b Rn. 2). Endet eine Jugendhilfeleistung nach § 19 SGB VIII, so endet damit auch der Anwendungsbereich der speziellen Zuständigkeitsnorm des § 86b SGB VIII. Wird im Anschluss an die Hilfe nach § 19 SGB VIII eine andere Jugendhilfeleistung gewährt, so ist die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung dieser Leistung auch dann nach einer anderen Zuständigkeitsnorm - nämlich regelmäßig nach § 86 SGB VIII - zu bestimmen, wenn zwischen dieser nachfolgenden Leistung und der Leistung nach § 19 SGB VIII ein einheitlicher Zusammenhang (im Sinne des jugendhilferechtlichen Leistungsbegriffs) besteht. Der zuletzt genannte Umstand eines einheitlichen Leistungszusammenhangs kann dann allerdings bei der Prüfung der Zuständigkeitsnorm des § 86 SGB VIII relevant und dafür gegebenenfalls entscheidungserheblich sein.
Rz. 13
b) Aus § 86b Abs. 3 SGB VIII lässt sich auch nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung der von den Vorinstanzen angenommene Rechtsgedanke einer sich aus § 86b Abs. 3 SGB VIII ergebenden statischen Zuständigkeitsregelung entnehmen, wonach der für die Maßnahme nach § 19 SGB VIII zuständige Jugendhilfeträger auch für eine sich daran anschließende Hilfe (nach § 86b Abs. 3 SGB VIII) örtlich zuständig bleibe.
Rz. 14
Die Befugnis zur Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten nur begrenzt zu. Jede Art der gesetzesimmanenten richterlichen Rechtsfortbildung setzt unabhängig von dem in Betracht kommenden methodischen Mittel (teleologische Extension oder Analogie) eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen. Ob eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den gesetzlichen Vorschriften tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut der Vorschrift nicht alle Fälle erfasst, die nach dem Sinn und Zweck der Regelung erfasst sein sollten (BVerwG, Urteil vom 29. November 2018 - 5 C 10.17 - BVerwGE 164, 23 Rn. 11 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Rz. 15
Nach dem Regelungsprogramm des Gesetzgebers richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, wenn den Leistungen in gemeinsamen Wohnformen für Mütter oder Väter und Kinder im Sinne des § 19 SGB VIII eine andere Leistung der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII nachfolgt, für Letztere vielmehr nach den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen und damit regelmäßig nach § 86 SGB VIII (vgl. bereits OVG Koblenz, Urteil vom 12. Dezember 2017 - 7 A 11296/17 - juris Rn. 26; OVG Münster, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 12 A 1493.11 - juris Rn. 8 ff.; VG Freiburg, Urteil vom 8. Mai 2019 - 4 K 11343/17 - juris Rn. 19 ff.; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Gutachten vom 24. November 2020 - G 5/20 -, NDV 2021, 334 ≪336 f.≫; DIJUF-Rechtsgutachten vom 16. April 2020, JAmt 2020, 260; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand Juli 2021, § 86b Rn. 19.2; Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 86b Rn. 2 und 10; Eschelbach, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 86b Rn. 1; Eschelbach, JAmt 2020, 278).
Rz. 16
§ 86 SGB VIII regelt die örtliche Zuständigkeit für Leistungen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII, soweit nicht spezielle Zuständigkeitsregelungen z.B. in den §§ 86a, 86b SGB VIII eingreifen. Die Vorschrift stellt damit im Regelungssystem der Jugendhilfe die Grundnorm zur Ermittlung der örtlichen Zuständigkeit dar (vgl. etwa Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., 2018, Stand Juli 2021, § 86 Rn. 1 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat sich mit der allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII grundsätzlich für einen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit, d.h. eine dynamische Zuständigkeit auch während einer einheitlichen Gesamtleistung entschieden. Dementsprechend ändert sich die örtliche Zuständigkeit, wenn z.B. die gemeinsam Sorgeberechtigten während der Dauer einer einheitlichen Jugendhilfeleistung ihren gewöhnlichen Aufenthalt gemeinsam wechseln (§ 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Nichts Anderes gilt, sofern § 86 SGB VIII die Zuständigkeit ausschließlich an den gewöhnlichen Aufenthalt des allein sorgeberechtigten Elternteils knüpft. Auch in diesem Fall wandert die Zuständigkeit also mit dem maßgeblichen Elternteil mit, wenn dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt wechselt. Die dynamische Zuständigkeit will die Beibehaltung der räumlichen Nähe zwischen Elternteil und örtlichem Träger sicherstellen, weil erst diese das Eingehen einer Hilfebeziehung und einen kontinuierlichen, möglichst engen Kontakt ermöglicht, was für eine wirksame Unterstützung von Familien als unbedingt erforderlich angesehen wird. Statische Zuständigkeitszuweisungen gehören nach dem Regelungskonzept des Gesetzes (vgl. BT-Drs. 17/13531 S. 8) dagegen zu den Ausnahmefällen. Die Annahme einer insoweit bestehenden Regelungslücke ist dementsprechend in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig. Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber in der in Rede stehenden Fallkonstellation einen solchen Ausnahmefall gesehen hat, sind nicht ersichtlich.
Rz. 17
Aus der Systematik des Gesetzes ergibt sich, dass die §§ 86a und 86b SGB VIII im Vergleich zur Grundnorm hinsichtlich eines besonderen Adressatenkreises und einer besonderen Leistungsform jeweils eine spezielle Zuständigkeitsbestimmung enthalten, die (nur) in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich im Wege der Spezialität die allgemeine Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII verdrängen. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass § 86 SGB VIII als Grundnorm für die örtliche Zuständigkeit immer dann anzuwenden ist, wenn und soweit die spezielleren Normen nicht einschlägig sind. Dementsprechend ist die Frage der örtlichen Zuständigkeit in der vorliegenden Fallkonstellation, die - wie dargelegt - von § 86b Abs. 3 SGB VIII nicht unmittelbar erfasst wird, entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht ungeregelt, sondern regelmäßig in Anwendung des § 86 SGB VIII zu beantworten.
Rz. 18
Auch das Fehlen einer der Vorschrift des § 86a Abs. 4 Satz 3 SGB VIII vergleichbaren Regelung in § 86b SGB VIII für nachfolgende Leistungen gibt keinen Anhalt für das Bestehen einer Regelungslücke. Dagegen spricht bereits, dass der Gesetzgeber in § 86b Abs. 1 Satz 2 SGB VIII mit der Bezugnahme allein auf § 86a Abs. 2 SGB VIII genau bestimmt und eingegrenzt hat, in welchem Umfang Regelungen des § 86a SGB VIII auch im Rahmen des § 86b SGB VIII gelten sollen. Soweit darüber hinaus die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 12/2866 S. 23) zu § 86b Abs. 3 SGB VIII auf § 86a Abs. 4 SGB VIII verweist, bezieht sich dies nur auf die Sätze 1 und 2 dieser Vorschrift. Als § 86b durch das Erste Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl. I S. 239) in das Gesetz aufgenommen wurde, enthielt die zeitgleich geänderte Vorschrift des § 86a Abs. 4 nur die Sätze 1 und 2, während Satz 3 erst durch die nachfolgende isolierte Ergänzung durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 15. Dezember 1995 (BGBl. I S. 1775) in § 86a Abs. 4 SGB VIII eingefügt wurde.
Rz. 19
Schließlich ergeben sich auch aus Sinn und Zweck des § 86b Abs. 3 SGB VIII keine Hinweise auf das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke. Mit der Einfügung des § 86b SGB VIII wollte der Gesetzgeber eine Lücke in den schon bestehenden Zuständigkeitsvorschriften füllen (BT-Drs. 12/2866 S. 22), die er hinsichtlich der Zuständigkeit für Leistungen nach § 19 SGB VIII gesehen hat. In diesem Zusammenhang bedeutet die statische Zuweisungsregelung des § 86b Abs. 3 SGB VIII, dass sich die Leistung nach § 19 SGB VIII zuständigkeitsrechtlich gewissermaßen als Annex einer vorangegangenen Leistung der in der Vorschrift aufgeführten Art erweist. Sie dient damit insbesondere dem Schutz der Orte, in denen sich Einrichtungen einer besonderen Wohnform für Mütter oder Väter und Kinder befinden (BT-Drs. 12/2866 S. 25 zu § 89e), vor einer Belastung durch Hilfeleistungen an Personen, die aus anderen Zuständigkeitsbereichen kommend in solche Einrichtungen aufgenommen werden. Dieser Schutz der Einrichtungsorte ist durch die Hilfe in einer besonderen Wohnform veranlasst und an diese gebunden. Weder aus dem Gesetzeszusammenhang noch den Gesetzgebungsmaterialien ergeben sich belastbare Anhaltspunkte für die Annahme, dass er auch in den vom Verwaltungsgerichtshof erörterten Fällen fortbestehen soll, in denen Hilfeberechtigte nach § 19 SGB VIII im Anschluss an diese Unterstützung in dem Ort der Einrichtung verbleiben. Im Gegenteil ist § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Aussage zu entnehmen, dass der Schutz der Einrichtungsorte nur für den Zeitraum gilt, in dem die nach dieser Vorschrift maßgebende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Einrichtung hat bzw. hatte (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 5 C 25.11 - BVerwGE 145, 257 Rn. 32; VGH München, Beschluss vom 6. Oktober 2009 - 12 ZB 08.1452 - juris Rn. 9). Dies gilt - wie § 89e Abs. 1 Satz 2 SGB VIII mit dem Verweis auch auf § 86b Abs. 3 SGB VIII nahelegt - auch im Anwendungsbereich des § 86b SGB VIII.
Rz. 20
2. Der Senat kann in Ermangelung hinreichender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz nicht selbst abschließend über die Sache entscheiden. Die Bestimmung des zuständigen Trägers der Jugendhilfe für die der Leistung nach § 19 SGB VIII nachfolgende Hilfe richtet sich hier in Anwendung der vorstehenden Maßstäbe nach der allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII und hängt damit maßgeblich vom gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern bzw. des maßgeblichen Elternteils ab. Dabei ist zu beachten, dass die Leistung, an deren Beginn § 86 SGB VIII für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit anknüpft, mit der Frau S. im April 2010 gewährten sozialpädagogischen Familienhilfe begonnen hat, da es sich bei dieser und den beiden vorgenannten Hilfen nach der zutreffenden Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs um eine einheitliche Leistung im Sinne des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs gehandelt hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat - von seinem Rechtsstandpunkt ausgehend zutreffend - keine Feststellungen zum gewöhnlichen Aufenthalt des maßgeblichen Elternteils getroffen. Die Sache ist daher an ihn zurückzuverweisen, damit er die erforderlichen Feststellungen im Rahmen der ihm obliegenden Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) nachholen kann.
Fundstellen
DÖV 2021, 1136 |
FEVS 2022, 319 |
JZ 2021, 733 |
VR 2021, 432 |