Entscheidungsstichwort (Thema)
Biergarten. Anlage, nicht genehmigungsbedürftige. Geräuschimmission. schädliche Umwelteinwirkung. Landesverordnung. Betriebszeit. Lärm Zumutbarkeit. Konkretisierung. Anforderung Betreiber. Sonderlage, atypische. Wertungsrahmen. Landesrecht. Normenkontrolle. Normauslegung. Bindung Revisionsgericht. Nichtigkeit der BiergV BY wegen fehlender Lärmschutzanforderungen an die Betreiber
Leitsatz (amtlich)
Eine Landesverordnung, die von nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen ausgehende Geräuschimmissionen regelt (§ 23 Abs. 2 BImSchG), ist nichtig, wenn sie keine den Lärm betreffenden Anforderungen an die Anlagenbetreiber stellt (hier: Bayerische Biergärten-Nutzungszeiten-Verordnung).
Normenkette
BImSchG §§ 3, 3 Abs. 1, § 22 Abs. 1 S. 1, § 23 Abs. 1 S. 1 Fassung 1990-05-14, Abs. 2 S. 1 Fassung 1990-05-14; VwGO § 47 Abs. 5 S. 1, § 132 Abs. 1; BiergV BY
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 07.08.1997; Aktenzeichen 22 N 95.3398) |
Tenor
Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. August 1997 wird aufgehoben.
Die Verordnung der Bayerischen Staatsregierung zur Regelung der Nutzungszeiten in Biergärten (Bayerische Biergärten-NutzungszeitenV) vom 27. Juni 1995 (GVBl S. 311) ist nichtig.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Die Antragsteller wenden sich im Normenkontrollverfahren gegen die bayerische Verordnung zur Regelung der Nutzungszeiten in Biergärten (Bayerische Biergärten-NutzungszeitenV) vom 27. Juni 1995 (GVBl S. 311).
Sie sind Eigentümer von Hausgrundstücken in einem reinen Wohngebiet. In ihrer Nachbarschaft befindet sich ein Gaststättenbetrieb mit einem sogenannten Biergarten. Das Landratsamt erteilte hierfür im Jahre 1986 die gaststättenrechtliche Erlaubnis zum Betrieb einer Schank- und Speisewirtschaft mit regelmäßigen Musikaufführungen und begrenzte die Zahl der Sitzplätze in dem Biergarten auf 2.500. Wegen des von dem Gaststättenbetrieb ausgehenden Lärms, insbesondere durch an- und abfahrende Kraftfahrzeuge der Besucher, haben einige der Antragsteller schon im Jahre 1990 Klage erhoben. Die Klage der Antragsteller zu 2, 3 und 5 hatte vor dem Verwaltungsgericht mit dem Ergebnis Erfolg, daß der Freistaat Bayern verpflichtet wurde, das Ende der Betriebszeit des Biergartens auf 21.30 Uhr festzulegen und den Biergartenbetrieb an jedem ersten und dritten Sonntag im Monat zu untersagen. Während dieses Klageverfahrens, das noch beim Berufungsgericht anhängig ist, erließ die Bayerische Staatsregierung aufgrund des Bundes-Immissionsschutzgesetzes die zur Prüfung stehende Verordnung. Sie hat folgenden Wortlaut:
Aufgrund des § 23 Abs. 2 Satz 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 14. Mai 1990 (BGBl I S. 880), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 5 des Gesetzes vom 23. November 1994 (BGBl I S. 3486), erläßt die Bayerische Staatsregierung folgende Verordnung:
§ 1
Anwendungsbereich
Die Verordnung regelt die Nutzungszeiten von Biergärten in der Nachbarschaft von Wohnbebauung, soweit nicht weitergehende Regelungen bestehen.
§ 2
Nutzungszeiten
Von Biergärten einschließlich des ihnen zurechenbaren Straßenverkehrs gehen keine schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinn des BImSchG aus, wenn spätestens
– Musikdarbietungen um 22.00 Uhr enden,
– die Verabreichung von Getränken und Speisen um 22.30 Uhr endet und
– die Betriebszeit so endet, daß der zurechenbare Straßenverkehr bis 23.00 Uhr abgewickelt ist.
§ 3
Inkrafttreten
Diese Verordnung tritt am 30. Juni 1995 in Kraft.
Die Antragsteller haben vor dem Verwaltungsgerichtshof beantragt, die Verordnung im Wege der Normenkontrolle für nichtig zu erklären. Zur Begründung haben sie ausgeführt: Die Verordnung sei durch das Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht gedeckt. Die Ermächtigung des § 23 BImSchG lasse keine Regelungen zu, die das gesetzliche Schutzniveau verschlechterten, indem unzumutbarer Lärm im Wege der Fiktion als zumutbar bezeichnet werde. Außerdem verstoße die Verordnung gegen das Gaststättengesetz und gegen Bauplanungsrecht. Der Verwaltungsgerichtshof legte durch Beschluß vom 14. Februar 1996 (BayVBl 1996, 335) die Rechtssache dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung der Frage vor, ob die Zulässigkeit der von Schank- und Speisewirtschaften ausgehenden Geräuscheinwirkungen auf die Umgebung Gegenstand einer immissionsschutzrechtlichen Landesverordnung sein könne. Der erkennende Senat beantwortete mit Beschluß vom 5. Juli 1996 – BVerwG 7 N 1, 2 und 3.96 – Buchholz 406.25 § 23 BImSchG Nr. 2 die Vorlagefrage dahin, daß die Begrenzung der genannten Geräuscheinwirkungen Gegenstand von Rechtsverordnungen der Länder nach § 23 BImSchG sein könne; zugleich wies er darauf hin, daß damit nichts darüber ausgesagt sei, ob die Landesregierung zum Erlaß einer Verordnung ermächtigt sei, in der die von einer Gaststätte bestimmten Charakters ausgehenden Geräusche unabhängig von Art, Ausmaß oder Dauer innerhalb bestimmter zeitlicher Grenzen generell für unschädlich erklärt würden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag der Antragsteller durch Beschluß vom 7. August 1997 (BayVBl 1998, 48) abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Die Verordnung sei gültig. Sie konkretisiere den im Gesetz allgemein umschriebenen Zweck, Menschen vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen. Dies geschehe in bezug auf die in der Nachbarschaft eines traditionellen Typs der Außengastronomie wohnenden Menschen in der Weise, daß deren Schutz vor den von einem Biergarten ausgehenden Lärmeinwirkungen einschließlich des zurechenbaren Straßenverkehrslärms generalisierend durch gestaffelte Nutzungszeiten gewährleistet werde. Der Verordnungsgeber sei befugt, durch eine solche generalisierende Regelung das für nicht genehmigungsbedürftige Anlagen aus § 22 BImSchG abgeleitete Niveau des nachbarschaftlichen Immissionsschutzes zu senken. Die zur Prüfung gestellte Verordnung beruhe auf einer gerechten Interessenabwägung. Ein Biergarten sei in seiner traditionellen Prägung gekennzeichnet durch Bierausschank im Grünen, die Gestattung des Verzehrs mitgebrachter Speisen und seine soziale Funktion als Ort geselliger Kommunikation und Freizeitgestaltung. Der Verordnungsgeber habe die widerstreitenden Belange der lärmbelästigten Anwohner einerseits und der Besucher und Wirte von Biergärten andererseits erkannt, unter Berücksichtigung der institutionellen Bedeutung von Biergärten sowie der Sozialadäquanz von Biergartenlärm bewertet und in typisierender Weise rechtlich einwandfrei geregelt. Es sei kein Fall erkennbar, in dem die Anwendung der Verordnung zu einem für die Anwohner unerträglichen Ergebnis führen könnte. Sollte dennoch ausnahmsweise einmal eine für die Anwohner völlig unzumutbare Situation auftreten, ließen sich die Grundsätze des Rücksichtnahmegebots heranziehen. Die Verordnung könne damit bei besonderen Fallgestaltungen “eine absolute untere Grenze erfahren”. Sie sei auch mit sonstigem höherrangigem Recht vereinbar.
Gegen diesen Beschluß richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision der Antragsteller, mit der sie ihre Einwände gegen die Gültigkeit der Verordnung vertiefen. Der Antragsgegner tritt der Revision entgegen und verteidigt den angegriffenen Beschluß. Nach Ansicht des Oberbundesanwalts begegnet die zur Prüfung gestellte Verordnung immissionsschutzrechtlichen Bedenken.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz ermächtigt die Landesregierungen unter bestimmten Voraussetzungen, den Betrieb immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen zu regeln (1). Die zur Prüfung gestellte Verordnung zur Regelung der Nutzungszeiten in Biergärten (künftig: Biergarten-Verordnung) genügt den bundesgesetzlichen Voraussetzungen nicht; sie ist daher unter Aufhebung des angegriffenen Urteils für nichtig zu erklären (2).
1. Rechtsgrundlage der Biergarten-Verordnung ist § 23 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BImSchG. Nach dieser Vorschrift sind, soweit die Bundesregierung von der Ermächtigung keinen Gebrauch macht, die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnung vorzuschreiben, daß die Errichtung, die Beschaffenheit und der Betrieb nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen bestimmten Anforderungen zum Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen sowie zur Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen genügen müssen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 BImSchG). Zu solchen Anlagen gehören Schank- und Speisewirtschaften und damit auch Biergärten als traditioneller Typus der bayerischen Außengastronomie, wie ihn der Verwaltungsgerichtshof in Auslegung nicht revisiblen Landesrechts gekennzeichnet hat. Gaststättenrecht schließt für seinen Regelungsbereich die Anwendung der §§ 22 ff. BImSchG nicht aus. Dies hat der Senat bereits in seinem Beschluß vom 5. Juli 1996 – BVerwG 7 N 1, 2 und 3.96 – (Buchholz 406.25 § 23 BImSchG Nr. 2) im einzelnen dargelegt. Aufgrund der Ermächtigung des § 23 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BImSchG kann daher eine Landesregierung unabhängig von gaststättenrechtlichen Sperrzeitregelungen durch Rechtsverordnung immissionsschutzrechtliche Anforderungen an Gaststätten festlegen, solange nicht die Bundesregierung eine solche Verordnung erlassen hat.
Rechtsverordnungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BImSchG dienen dem Zweck, die in § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG geregelten Betreiberpflichten durch unmittelbar durchsetzbare Vorschriften zu konkretisieren; daneben können sie auch zusätzliche, über die Grundpflichten des § 22 BImSchG hinausgehende (Vorsorge-)Anforderungen enthalten. Inhalt und Ausmaß einer auf § 23 Abs. 2 Satz 1 BImSchG gestützten Verordnung werden durch den gesetzlichen Schutzzweck bestimmt und begrenzt (vgl. BTDrucks 7/179, S. 39 zu § 21). In diesem Rahmen ist es Sache des Verordnungsgebers zu regeln, wie und mit welchen Mitteln die Allgemeinheit und die Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen geschützt werden sollen, zu denen gemäß § 3 Abs. 1 und 2 BImSchG auch die auf Menschen einwirkenden Anlagengeräusche zählen. Das Gesetz stellt in § 23 Abs. 1 Satz 1 einen Katalog beispielhafter Maßnahmen zur Verfügung, die Gegenstand einer den Schutzzweck konkretisierenden Verordnung sein können. Die gesetzlichen Regelbeispiele geben Anhaltspunkte für Inhalt und Zielrichtung der auf die Ermächtigung gestützten Verordnungen, schließen aber andere Maßnahmen nicht aus, soweit sie zur Erfüllung des Schutzzwecks geeignet und erforderlich sind. Als solche kommen Regelungen über die Betriebszeiten der Anlage in Betracht. Beispiele zeitlicher Anforderungen an den Betrieb nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen finden sich in § 6 der Rasenmäherlärm-Verordnung (8. BImSchV), in § 5 der Sportanlagenlärmschutzverordnung (18. BImSchV) und in § 2 der insoweit auf § 23 Abs. 2 BImSchG gestützten Berliner Verordnung zur Bekämpfung des Lärms (LärmVO) i.d.F. vom 6. Juli 1994 (GVBl S. 231). Dabei wird in § 5 Abs. 2 Halbsatz 2 der 18. BImSchV hervorgehoben, daß es dem gesetzlichen Schutzzweck entspricht, bei derartigen zeitlichen Betriebsbeschränkungen das Schutzinteresse der Nachbarschaft und der Allgemeinheit sachgerecht gegen das Betriebsinteresse des Anlagenbetreibers abzuwägen.
2. Die Biergarten-Verordnung ist durch den bundesrechtlichen Ermächtigungsrahmen nicht gedeckt. Sie stellt entgegen § 23 Abs. 1 BImschG keine Anforderungen an die Biergartenbetreiber zum Zweck des Lärmschutzes, sondern erklärt statt dessen alle von Biergärten in der Nachbarschaft von Wohnbebauung ausgehenden oder ihnen zuzurechnenden Lärmeinwirkungen generell für nicht schädlich im Sinne von § 22 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 BImSchG, sofern bestimmte Betriebszeiten nicht überschritten werden. Ein solcher Regelungsansatz verfehlt den Schutzzweck des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Dies hat der Verwaltungsgerichtshof verkannt.
a) Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, daß das in § 22 BImSchG abstrakt bestimmte Schutzniveau durch eine Verordnung aufgrund von § 23 Abs. 1 BImSchG ohne weiteres unterschritten werden dürfe. Diese Auffassung ist bundesrechtswidrig. Sie hat zur Konsequenz, daß die “Anforderungen”, von denen die bundesrechtliche Ermächtigungsvorschrift als Regelungsgegenstand einer möglichen Verordnung spricht, den Rechtskreis der Anlagenbetreiber auch erweitern können und damit im Blick auf den angestrebten “Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft” gewissermaßen negativer Natur sind. Soweit sich der Verwaltungsgerichtshof für seine Ansicht auf den Wortlaut des § 23 Abs. 1 Satz 1 BImSchG stützt, der – anders als § 7 im Verhältnis zu § 5 BImSchG – nicht an die aus § 22 BImSchG folgenden Betreiberpflichten anknüpft, verkennt er den Grund der Textabweichung. Sie ist durch Art. 1 Nr. 10 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes vom 11. Mai 1990 (BGBl I S. 870) entstanden. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber lediglich die Möglichkeit eröffnen, in Rechtsverordnungen nach § 23 BImSchG auch Vorsorgeanforderungen zu stellen; denn diese gehörten nicht zu den in § 22 BImSchG geregelten Betreiberpflichten (vgl. BTDrucks 11/6633, S. 46). Im Ergebnis verkehrt daher der Verwaltungsgerichtshof mit seinem in Rede stehenden Hinweis das eigentliche Anliegen des Gesetzgebers in das genaue Gegenteil. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß die unmittelbar geltende Regelung des § 22 BImSchG durch eine sie konkretisierende Verordnung nach § 23 BImSchG der Sache nach nur in dem Umfang verdrängt wird, wie deren Regelungsgehalt dem gesetzlich vorausgesetzten Schutzniveau entspricht. Schöpft die untergesetzliche Konkretisierung die abstrakten gesetzlichen Anforderungen an die Pflichten der Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen nicht aus, etwa weil sie schädliche Umwelteinwirkungen, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind, nicht verhindert oder, soweit diese unvermeidbar sind, nicht auf das rechtlich gebotene Mindestmaß beschränkt, greift die gesetzliche Regelung ein, die dann zum Zweck des Vollzugs von den zuständigen Behörden für den jeweiligen Einzelfall wiederum zu konkretisieren ist.
Allerdings determinieren die Anforderungen des Gesetzes die Regelungen einer Verordnung nach § 23 Abs. 1 BImSchG nicht in der Weise, daß für alle vom Gesetz erfaßten Sachbereiche eine ganz bestimmte Konkretisierung vorgegeben wäre. Das gilt namentlich für den hier umstrittenen Bereich der Zumutbarkeit lärmbezogener Nutzungskonflikte im öffentlich-rechtlichen Nachbarschaftsverhältnis zwischen Anlagenbetreibern und Dritten. Die Frage der Zumutbarkeit von Lärm ist in besonderem Maße von Wertungen geprägt und kann darum sehr unterschiedlicher Beurteilung im Einzelfall unterliegen. Der zu einer solchen Bewertung vorrangig berufene Verordnungsgeber ist daher befugt, die im Gesetz allgemein umschriebene Schwelle zumutbarer Lärmeinwirkungen (§ 3 Abs. 1 BImSchG) aufgrund abstrakt-genereller Abwägung der widerstreitenden Interessen dergestalt verbindlich festzulegen, daß für eine einzelfallbezogene Beurteilung der Zumutbarkeit nur ausnahmsweise Raum ist (vgl. Beschluß vom 8. November 1994 – BVerwG 7 B 73.94 – Buchholz 406.25 § 3 BImSchG Nr. 10). Die Rechtswirksamkeit einer solchen typisierenden Regelung setzt jedoch immer voraus, daß sie auf sachverständiger Grundlage die Besonderheiten des geregelten Sachbereichs mit der erforderlichen Differenzierung berücksichtigt, den vorgegebenen Wertungsrahmen durch im Regelfall hinreichende Schutzstandards ausfüllt und – wenn nach Lage der Dinge geboten – bei atypischen Sonderlagen Abweichungen im Einzelfall zuläßt. Soweit hierbei die rechtsverbindliche Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben eine gerichtliche Prüfung der materiellen Regelung ausschließt, kommt der Verfahrenskontrolle als Maßstab der Richtigkeitsgewähr verstärkte Bedeutung zu.
b) Die Voraussetzungen einer derartigen Konkretisierung gesetzlicher Vorgaben erfüllt die Biergarten-Verordnung nicht. Sie begnügt sich damit, zur Lösung des Nutzungskonflikts zwischen Wohnnachbarn einerseits und Betreibern sowie Besuchern von Biergärten andererseits einen einschränkungslosen Vorrang des Biergartenbetriebs während bestimmter Nutzungszeiten festzulegen. Indem die Verordnung die von Biergärten einschließlich des ihnen zurechenbaren Straßenverkehrs ausgehenden Umwelteinwirkungen als unschädlich definiert, wenn Musikdarbietungen um 22.00 Uhr enden, die Verabreichung von Getränken und Speisen um 22.30 Uhr endet und die Betriebszeit so endet, daß der zurechenbare Straßenverkehr bis 23.00 Uhr abgewickelt ist, blendet sie die Möglichkeit unzumutbarer Geräuschimmissionen innerhalb dieser Zeiten normativ aus. Dem liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, Biergärten verursachten wegen der spezifisch bayerischen Besonderheiten dieses Anlagetyps im Rahmen bestimmter Betriebszeiten prinzipiell keinen immissionsschutzrechtlich beachtlichen Lärm, und zwar ohne Rücksicht auf Art, Ausmaß und Dauer derartiger Einwirkungen. Mit dieser Regelungstechnik stellt die Biergarten-Verordnung keine den Lärm betreffenden immissionsschutzrechtlichen Anforderungen im Sinne von § 23 Abs. 1 BImSchG, sondern schließt statt dessen, soweit ihr Regelungsgehalt reicht, auf Lärmminderung gerichtete und auf § 24 BImSchG gestützte Anordnungen der zuständigen Behörden aus, stellt also – mit anderen Worten – in der Sache von solchen Anforderungen frei. Anwohner in der Nachbarschaft eines Biergartens sind hiernach im Rahmen der festgelegten Nutzungszeiten selbst dann nicht geschützt, wenn im Einzelfall von einem Biergarten gesundheitsschädlicher Lärm, namentlich durch den ihm zurechenbaren Straßenverkehr, ausgeht. Dieser Mangel läßt sich nicht mittels einer Inpflichtnahme der Betreiber aufgrund des Gesetzes ausgleichen; denn § 22 BImSchG setzt seinerseits schädliche Umwelteinwirkungen voraus, die nach der konkretisierenden Definition der Verordnung während der Nutzungszeiten von Biergärten gerade nicht in Betracht kommen sollen. Aus dem gleichen Grund verhindert die Biergarten-Verordnung im Rahmen ihres Anwendungsbereichs gaststättenrechtliche Maßnahmen zur Lärmminderung, da die einschlägigen Vorschriften (§ 4 Abs. 1 Nr. 3, § 5 Abs. 1 Nr. 3 GastG) auf schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes Bezug nehmen.
Der damit bewirkte Ausschluß jeglichen Lärmschutzes für die Wohnnachbarn eines Biergartens während bestimmter Betriebszeiten ist auch nicht deshalb hinzunehmen, weil vernünftigerweise kein Fall in Erwägung zu ziehen ist, in dem der von Biergärten ausgehende Lärm die bundesgesetzliche Zumutbarkeitsschwelle überschreitet. Die in dem angefochtenen Beschluß vertretene gegenteilige Annahme ist ersichtlich von der Erwägung beeinflußt, daß auf § 23 Abs. 1 BImSchG gestützte Rechtsverordnungen auch zum Zwecke einer Absenkung des immissionsschutzrechtlichen Schutzniveaus unter die von § 22 BImSchG gezogene Grenze erlassen werden und damit auch “negative” Anforderungen stellen dürfen. Läßt man diese rechtsirrige Auffassung beiseite, wird alsbald offenbar, daß die Biergarten-Verordnung nicht an eine die genannte Voraussetzung absichernde empirische Grundlage anknüpft, sondern umgekehrt das Ziel verfolgt, eine solche Absicherung überflüssig zu machen. Damit ist der Inhalt der Verordnung nicht mehr an § 23 Abs. 1 BImSchG orientiert; in Konsequenz dessen “regelt” sie außerdem nach ihrem eigenen Anspruch nunmehr Sachlagen, die nach der bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage nicht regelungsfähig sind. Um dieser Folgerung zu entgehen, hat der Verwaltungsgerichtshof anscheinend erwogen, in Ausnahmefällen einer für die Wohnnachbarn völlig unzumutbaren Lärmsituation ließen sich die der Biergarten-Verordnung immanenten “Grundsätze des Gebotes der gegenseitigen Rücksichtnahme” heranziehen. Eine solche “Anforderung” findet aber im Wortlaut der Biergarten-Verordnung keine Grundlage. Danach ist für die Annahme, der Verordnungsgeber lasse bei atypischen Sonderlagen Abweichungen im Einzelfall zu und schreibe jedenfalls insoweit eine Lärmbegrenzung vor, nichts ersichtlich. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs widerspricht seinem eigenen, zutreffend am Zweck der Ermächtigung des § 23 Abs. 1 BImSchG orientierten rechtlichen Ausgangspunkt, wonach die normativen Vorgaben der Verordnung derart bestimmt und abschließend sein sollen, daß sie im Sinne der Rechtsprechung des Senats (Beschluß vom 8. November 1994 – BVerwG 7 B 73.94 – a.a.O.) als gesetzeskonkretisierend und damit für die Beurteilung der Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit des Lärms generell verbindlich zu erachten seien. Übereinstimmend hiermit geht auch die amtliche Begründung zu § 2 der Verordnung davon aus, daß bei Einhaltung der festgelegten Nutzungszeiten keine schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zu besorgen und das Vorliegen schädlicher Umwelteinwirkungen im Einzelfall erst dann zu prüfen seien, wenn diese Nutzungszeiten nicht beachtet würden. Mit dem dadurch umschriebenen Zweck der Verordnung, die Zumutbarkeit von Biergarten-Lärm für benachbarte Anwohner speziell und abschließend zu regeln, ist es unvereinbar, die Anwendung der Verordnung unter den ungeschriebenen und von einem normativen Maßstab abgelösten Vorbehalt eines allgemeinen Rücksichtnahmegebots zu stellen. Der Verwaltungsgerichtshof will mit diesem Vorgehen ersichtlich nur eine Lücke füllen, die es nach dem Konzept der Verordnung gerade nicht geben soll. Er setzt sich daher in einen nicht nachvollziehbaren Widerspruch zu diesem Konzept und überschreitet damit zugleich die vom Rechtsstaatsprinzip gezogene Grenze zulässigen Richterrechts.
“Anforderungen” im Sinne von § 23 Abs. 1 BImSchG enthält die Verordnung auch nicht deshalb, weil sie, wie der Verwaltungsgerichtshof irrig meint, die Einhaltung der “Betriebsschlußmodalitäten” vorschreibe. Davon kann keine Rede sein. Die Biergarten-Verordnung legt keine gaststättenrechtlichen Betriebszeiten fest, sondern bestimmt aus immissionsschutzrechtlicher Sicht Nutzungszeiten, in denen schädliche Umwelteinwirkungen ausgeschlossen sind. Daraus läßt sich nicht folgern, daß außerhalb dieser Zeiten ein Betriebsverbot für Biergärten angeordnet worden ist; für die Annahme eines solchen Verbots fehlt es aus rechtsstaatlicher Sicht an einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage. Die in der Biergarten-Verordnung angewendete Regelungssystematik läßt vielmehr nur den Schluß zu, daß außerhalb der dort angegebenen Nutzungszeiten die allgemeinen, nicht näher konkretisierten Anforderungen des § 22 BImSchG gelten sollen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Dr. Franßen, Dr. Paetow, Dr. Bardenhewer, Kley, Herbert
Fundstellen
Haufe-Index 543922 |
NJW 1999, 2201 |
BVerwGE, 260 |
NVwZ 1999, 393 |
NVwZ 1999, 651 |
NZM 1999, 471 |
DÖV 2000, 35 |
DVP 1999, 249 |
DVP 2000, 129 |
GewArch 1999, 210 |
JA 1999, 837 |
JZ 1999, 787 |
VR 1999, 405 |
ZUR 1999, 226 |
ZfBR 2000, 69 |
BayVBl. 1999, 408 |
DVBl. 1999, 863 |
UPR 1999, 193 |
FSt 1999, 469 |