Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachbarschutz gegenüber objektivrechtlich unzulässigem Außenbereichsvorhaben. Außenbereich. Wohnbauvorhaben. Rücksichtnahmegebot. Besonnung. Einsichtsmöglichkeiten. Aussichtslage. Interessenabwägung. objektivrechtliche Zulässigkeitsanforderungen. nachbarliche Schutzposition. Bebauungsplan

 

Leitsatz (amtlich)

Der Eigentümer eines Grundstücks im Innenbereich kann gegenüber einer auf dem Nachbargrundstück im Außenbereich genehmigten Bebauung Rücksichtnahme auf seine Interessen im Rahmen einer Abwägung mit den Interessen des Nachbarn nur insoweit verlangen, als er über eine schutzwürdige Abwehrposition verfügt (im Anschluß an BVerwGE 52, 122 ≪126≫). Eine solche Position erlangt er nicht allein dadurch, daß die auf seinem Grundstück verwirklichte Nutzung baurechtlich zulässig, das auf dem anderen Grundstück genehmigte Vorhaben dagegen wegen einer Beeinträchtigung öffentlicher Belange, die nicht dem Schutz privater Dritter zu dienen bestimmt sind, unzulässig ist.

 

Orientierungssatz

1. Die Baugenehmigung verleiht demjenigen, der sich seine Bauwünsche erfüllt, nicht die Rechtsmacht, durch die Art und Weise der Bauausführung unmittelbaren Einfluß auf die Bebaubarkeit der Nachbargrundstücke zu nehmen. Sie schafft keine Grundlage dafür, weitere Vorhaben mit dem Argument zunichte zu machen, für das behördlich gebilligte eigene Baukonzept sei von ausschlaggebender Bedeutung gewesen, daß das Grundstück Aussichtsmöglichkeiten eröffne und gegen Einblicke von außen abgeschirmt sei. Als Folge des Rechts, ein Grundstück in Übereinstimmung mit einer erteilten Baugenehmigung zu bebauen, müssen sich künftige Bauinteressenten nicht mit einer Nutzung begnügen, die weder zu einer Beschränkung der Aussichtslage noch zu einer Erweiterung von Einsichtsmöglichkeiten führt.

2. Bei dem öffentlichen Interesse, die Entstehung einer Splittersiedlung zu vermeiden, handelt es sich um einen der öffentlichen Belange, deren Schutz sich nicht dadurch sicherstellen läßt, daß ein nachbarlicher Interessenausgleich herbeigeführt wird. Nur so läßt sich verhindern, daß § 35 BauGB mittelbar für Eigentümer von Grundstücken im Innenbereich am Rande zum Außenbereich die Funktion einer allgemein nachbarschützenden Norm erlangt. Ist der Nachbar, der sich gegen ein Vorhaben zur Wehr setzt, nicht in der Lage, eine der Rücksichtnahme bedürftige Position aufzuzeigen, so kann er dieses Defizit nicht dadurch ausgleichen, daß er die zur objektivrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens führende Beeinträchtigung eines öffentlichen Interesses, aus der allein ihm kein Abwehrrecht erwächst, ins Feld führt und mit sonstigen für ihn nachteiligen Folgen des Vorhabens zu einer subjektiven Rechtsverletzung gleichsam aufwertet.

 

Normenkette

BauGB § 34 Abs. 1, § 35 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

OVG des Saarlandes (Urteil vom 10.11.1992; Aktenzeichen 2 R 41/91)

VG des Saarlandes (Urteil vom 18.07.1991; Aktenzeichen 2 K 129/90)

 

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 10. November 1992 wird aufgehoben.

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 18. Juli 1991 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens unter Einschluß der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen als Gesamtschuldner.

 

Tatbestand

I.

Die Kläger sind in L. Eigentümer eines Grundstücks, das die Südwestecke des räumlichen Geltungsbereichs des am 12. August 1971 beschlossenen Bebauungsplans „A.d.K.” bildet, wonach für den Planbereich überwiegend eine zweigeschossige Bebauung mit Familienwohnheimen festgesetzt ist. Das Grundstück ist mit einem Winkelbungalow bebaut, dessen nach Osten und nach Süden ausgerichtete Schenkel eine Terrasse umschließen. 50 m weiter südlich befindet sich, durch freies Gelände getrennt, der mit einer Halle bebaute Lagerplatz eines Bauunternehmens.

Mit Bauschein vom 10. Mai 1990 genehmigte der Beklagte dem Beigeladenen die Errichtung eines Wohnhauses und einer Doppelgarage auf dem außerhalb des Plangebiets gelegenen Grundstück, das im Süden an das Anwesen der Kläger angrenzt.

Der Widerspruch der Kläger wurde durch Bescheid vom 13. Juni 1990 u. a. mit der Begründung zurückgewiesen, das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich unbedenklich, da es in der im Zusammenhang bebauten Ortslage ausgeführt werden solle und sich in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge.

Die daraufhin erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen: Das Vorhaben sei zwar objektiv rechtswidrig, da es im Außenbereich verwirklicht werden solle, ohne durch § 35 BauGB gedeckt zu sein. Es verstoße aber nicht zum Nachteil der Kläger gegen das Rücksichtnahmegebot, das in bezug auf Belichtung, Besonnung und Belüftung des Nachbargrundstücks keine über die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften hinausgehenden Anforderungen stelle. Es wirke nicht erdrückend und halte sich der Höhe nach innerhalb des Rahmens, der durch das nördliche Nachbarhaus der Kläger vorgegeben sei. Das Rücksichtnahmegebot biete keine Gewähr dafür, daß das Nachbargrundstück nicht eingesehen werden könne und eine vorhandene Aussicht ungeschmälert erhalten bleibe.

Auf die Berufung der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht das verwaltungsgerichtliche Urteil geändert und die Baugenehmigung in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben: Das Bauprojekt sei zwar mit den bauordnungsrechtlichen Vorschriften vereinbar. Als Außenbereichsvorhaben sei es jedoch planungsrechtlich unzulässig. Die Grenze des Plangebiets markiere auch die Grenze des Innenbereichs. Der Bebauungszusammenhang ende am Grundstück der Kläger. Der weiter südlich gelegene Lagerplatz nehme an ihm nicht teil. Das Vorhaben führe zu einer unerwünschten Ausweitung des im Zusammenhang bebauten Ortsteils in den Außenbereich hinein. Außerdem lasse es die gebotene Rücksichtnahme auf nachbarliche Belange vermissen. Durch das Haus und die Garage des Beigeladenen werde die Besonnung des Anwesens der Kläger gemindert. Der Ausblick in die freie Landschaft, der sich den Klägern von der Terrasse und dem großen Südfenster ihres Bungalows aus biete, werde behindert. Das Wohnhaus des Beigeladenen überrage den Bungalow um etwa 2,75 m und eröffne den Blick gerade auch auf die Ruhezone des Grundstücks der Kläger. Diese Beeinträchtigungen würden die Grenze des Zumutbaren nicht übersteigen, wenn ein im übrigen planungsrechtlich unbedenkliches Bauvorhaben die Ursache wäre. Das aber sei gerade nicht der Fall. Das Interesse an der Verwirklichung eines Vorhabens, das gegen das Bodenrecht verstoße, wiege gering. Die Kläger hätten den Lagevorteil, den ihnen ihr Grundstück am südlichen Rand des Bebauungszusammenhangs biete, baulich voll genutzt. Sie hätten darauf vertrauen dürfen, daß die durch den Bebauungsplan vorgegebene Situation sich nicht ohne triftigen Grund verändern werde. Das auf dem Grundstück des Beigeladenen genehmigte Vorhaben verrücke nicht nur die durch den Bebauungsplan gezogene Grenze, sondern weiche auch von der Ordnung ab, die der Ortsgesetzgeber für die Bebauung westlich der Straße „Z.” zugelassen habe. Dort seien die überbaubaren Grundstücksflächen, dem Straßenverlauf folgend, so gestaffelt, daß allen Häusern eine unverbaubare Südwestecke erhalten bleibe.

Zur Begründung der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision trägt der Beigeladene vor, das Berufungsgericht habe aus dem Bebauungsplan unzutreffende Folgerungen für die Zuordnung des Baugrundstücks zum Innen- oder Außenbereich gezogen. Das Vorhaben solle innerhalb der Ortslage verwirklicht werden. Selbst wenn es als Außenbereichsvorhaben qualifiziert werde, sei es zulässig. Es verstoße nicht gegen das Rücksichtnahmegebot. Das Vorhaben rufe keine unzumutbaren Immissionen hervor und halte sich im Rahmen der landesrechtlichen Regelungen, die für die Wahrung einer ausreichenden Belichtung, Belüftung oder Besonnung maßgebend seien. Von der Beeinträchtigung einer Schutzposition könne weder dann, wenn eine Aussichtslage verbaut, noch dann, wenn Einsichtsmöglichkeiten geschaffen würden, die Rede sein. Das Bauvorhaben füge sich in die Umgebungsbebauung ein. Würde das Baugebiet erweitert, so könnten die Kläger sich gegen eine Anschlußbebauung nicht erfolgreich zur Wehr setzen.

Der Beigeladene beantragt,

das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 10. November 1992 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 18. Juli 1991 zurückzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie treten dem Vorbringen der Revision mit Rechtsausführungen entgegen.

Der Oberbundesanwalt hat sich nicht am Verfahren beteiligt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 141, § 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Sie führt zur Wiederherstellung des vom Berufungsgericht aufgehobenen Urteils des Verwaltungsgerichts, das die Klage zu Recht abgewiesen hat. Die Kläger werden durch die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung nicht in eigenen Rechten verletzt.

Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zutreffend davon ausgegangen, daß das genehmigte Vorhaben im Außenbereich ausgeführt werden soll und deshalb an § 35 BauGB zu messen ist. Nicht zu folgen ist ihm freilich in der Annahme, daß durch die Grenze des Bebauungsplans die Scheidelinie zwischen der bebauten Ortslage und dem Außenbereich markiert werde. § 34 BauGB knüpft ausschließlich an die optisch wahrnehmbaren faktischen Verhältnisse an (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1990 – BVerwG 4 C 40.87 – Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 138). Dagegen kommt es nicht darauf an, ob sich in der Nichteinbeziehung einer Fläche in den Geltungsbereich eines Bebauungsplans der Wille der Gemeinde dokumentiert, die Zuordnung zum Außenbereich festzuschreiben. Der nach § 34 BauGB erforderliche Bebauungszusammenhang reicht so weit, wie die vorhandene Bebauung den Eindruck der Zusammengehörigkeit und Geschlossenheit vermittelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. November 1968 – BVerwG 4 C 2.66 – BVerwGE 31, 20 = Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 14; Beschluß vom 27. Mai 1988 – BVerwG 4 B 71.88 – Buchholz 406.11 § 34 BBauG/BauGB Nr. 127). Das Berufungsgericht hat die tatsächlichen Gegebenheiten dahin gewürdigt, daß die freie Fläche, die sich an das Grundstück der Kläger südwärts anschließt und bis zum Lagerplatz reicht, nicht den Charakter einer Baulücke hat. Dies läßt sich aus revisionsgerichtlicher Sicht nicht beanstanden.

Das Berufungsgericht vertritt zu Recht die Auffassung, daß das Vorhaben des Beigeladenen planungsrechtlich nach § 35 Abs. 2 BauGB zu beurteilen ist. Gegen seine Ansicht, daß diese Bestimmung in Verbindung mit § 35 Abs. 3 BauGB nach Maßgabe des Rücksichtnahmegebots ein Abwehrrecht zu vermitteln geeignet ist, läßt sich ebenfalls nichts einwenden. Das Gebot, auf schutzwürdige Individualinteressen Rücksicht zu nehmen, wird zwar in § 35 Abs. 3 BauGB nicht ausdrücklich aufgeführt; seine Qualität als öffentlicher Belang ist aber in der Rechtsprechung des Senats schon früh erkannt worden (vgl. BVerwG, Urteile vom 6. Dezember 1967 – BVerwG 4 C 94.66 – BVerwGE 28, 268 = Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 60 und vom 3. März 1972 – BVerwG 4 C 4.69 – Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 97). Es hat im Beispielskatalog des § 35 Abs. 3 BauGB insofern Niederschlag gefunden, als es sich bei dem Erfordernis, schädliche Umwelteinwirkungen zu vermeiden, um nichts anderes als eine besondere gesetzliche Ausformung dieses Gebots, wenn auch eingeschränkt auf Immissionskonflikte, handelt (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1977 – BVerwG 4 C 22.75 – BVerwGE 52, 122 = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 28 und vom 21. Januar 1983 – BVerwG 4 C 59.79 – Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 196). Daß das Grundstück der Kläger, anders als das Baugrundstück, nicht im Außenbereich liegt, ist unerheblich, da das in § 35 Abs. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme nicht nur für Außenbereichsvorhaben untereinander gilt, sondern über Gebietsgrenzen hinweg wirkt und auch Eigentümern zugute kommt, deren Grundstücke im Geltungsbereich eines Bebauungsplans im Sinne des § 30 BauGB oder im unbeplanten Innenbereich im Sinne des § 34 BauGB liegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Januar 1983 – BVerwG 4 C 59.79 – a.a.O.; Beschluß vom 25. November 1985 – BVerwG 4 B 202.85 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 67 = NVwZ 1986, 469).

Das Berufungsgericht vertritt den Standpunkt, daß die Beeinträchtigungen, die sich für den Fall der Verwirklichung der Bauabsichten abzeichnen, den Klägern an sich zumutbar sind. Den Ausschlag für die Wertung, daß der Beigeladene gleichwohl rücksichtslos handele, soll der Umstand geben, daß das Vorhaben – objektivrechtlich – unzulässig ist. Dem ist nicht zu folgen.

Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt nach der Rechtsprechung des Senats wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1977 – BVerwG 4 C 22.75 – a.a.O. und vom 13. März 1981 – BVerwG 4 C 1.78 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44 = DÖV 1981, 672).

Voraussetzung für eine solche Abwägung ist aber, daß derjenige, der ein Vorhaben abwehren will, eine abwägungserhebliche schutzwürdige Position gegenüber dem Vorhaben besitzt. Denn Rücksicht zu nehmen ist nur auf solche Interessen des Nachbarn, die wehrfähig sind, weil sie nach der gesetzgeberischen Wertung, die im materiellen Recht ihren Niederschlag gefunden hat, schützenswert sind. Fehlt es hieran, so ist für Rücksichtnahmeerwägungen von vornherein kein Raum. Eine Interessenabwägung erübrigt sich. Hat der Nachbar keine Stellung inne, die nach Maßgabe der Gesetze Schutz beansprucht, so stellt sich die Frage nach der Unzumutbarkeit nachteiliger Auswirkungen für ihn nicht.

Eine schutzwürdige Abwehr-Position, die bei der Abwägung der beiderseitigen Interessen ausschlaggebend sein könnte, erlangt der Nachbar nicht allein dadurch, daß die auf seinem Grundstück verwirklichte Nutzung baurechtlich zulässig, das auf dem anderen Grundstück genehmigte Vorhaben dagegen wegen einer Beeinträchtigung öffentlicher Belange, die nicht dem Schutz privater Dritter zu dienen bestimmt sind, nach § 35 Abs. 2 BauGB unzulässig ist. Aus dem vom erkennenden Senat im Urteil vom 25. Februar 1977 aufgestellten Grundsatz, daß demjenigen, der sein Grundstück in einer an sich zulässigen Weise, z. B. als Begünstigter der Privilegierungsregelung des § 35 Abs. 1 BauGB, baulich nutzen will, insofern ein Vorrang eingestanden werden muß, als er berechtigte Interessen nicht zurückzustellen braucht, um fremde Interessen zu schonen, folgt nicht, daß allein das Recht, ein Vorhaben verwirklichen zu dürfen, auch das Recht vermittelt, ein objektivrechtlich unzulässiges anderes Vorhaben, das tatsächliche Nachteile für den Nachbarn zur Folge haben kann, abzuwehren. Ein solcher Schluß auf eine schutzwürdige Abwehr-Position kann auch nicht aus der Rechtsprechung des erkennenden Senats gezogen werden, wonach die Ausgangsposition bei der Interessengewichtung für die Beteiligten unterschiedlich ist, je nachdem, ob es um ein Vorhaben geht, das grundsätzlich zulässig und nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen nicht zuzulassen ist, oder ob es sich – umgekehrt – um ein solches handelt, das an sich unzulässig ist und nur ausnahmsweise zugelassen werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 6. Oktober 1989 – BVerwG 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343 ≪348≫ = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 93 und vom 27. Februar 1992 – BVerwG 4 C 50.89 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 107). Denn diese Rechtsprechung setzt bereits voraus, daß sich der jeweils betroffene Nachbar auf solche Interessen berufen kann, die das Gesetz im Verhältnis der Grundstücksnachbarn untereinander als schutzwürdig ansieht. Spielen dagegen bei den für das Vorhaben zu beachtenden objektivrechtlichen Zulässigkeitsanforderungen Interessen des Nachbarn, die nach den einschlägigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften schützenswert sind, keine Rolle, so greifen die Abwägungsmechanismen des Rücksichtnahmegebots nicht, so daß es nicht darauf ankommt, ob die vom Nachbarn angefochtene Baugenehmigung – objektivrechtlich – rechtswidrig ist. Deshalb hat z. B. das vom Berufungsgericht zu Lasten des Beigeladenen in die Waagschale geworfene öffentliche Interesse, die Entstehung einer Splittersiedlung zu vermeiden, außer Betracht zu bleiben; denn es handelt sich um einen der öffentlichen Belange, deren Schutz sich nicht dadurch sicherstellen läßt, daß ein nachbarlicher Interessenausgleich herbeigeführt wird. Nur so läßt sich verhindern, daß § 35 BauGB mittelbar für Eigentümer von Grundstücken im Innenbereich am Rande zum Außenbereich die Funktion einer allgemein nachbarschützenden Norm erlangt. Ist der Nachbar, der sich gegen ein Vorhaben zur Wehr setzt, nicht in der Lage, eine der Rücksichtnahme bedürftige Position aufzuzeigen, so kann er dieses Defizit nicht dadurch ausgleichen, daß er die zur objektivrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens führende Beeinträchtigung eines öffentlichen Interesses, aus der allein ihm kein Abwehrrecht erwächst, ins Feld führt und mit sonstigen für ihn nachteiligen Folgen des Vorhabens zu einer subjektiven Rechtsverletzung gleichsam aufwertet.

Das Berufungsgericht stellt fest, daß sich das genehmigte Vorhaben auf das Grundstück der Kläger insofern nachteilig auswirke, als die Besonnung gemindert werde, Einsichtsmöglichkeiten geschaffen würden und der Ausblick verlorengehe. Den Ausführungen des Berufungsgerichts kann aber nicht entnommen werden, daß die Kläger insoweit ein schutzwürdiges Interesse an der unveränderten Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Situation besitzen, das der Beigeladene im Rahmen des § 35 Abs. 3 BauGB grundsätzlich zu respektieren hätte und das er nur mit gewichtigeren schützenswerten eigenen Interessen überwinden könnte.

Wie aus § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB und dem bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenrecht zu ersehen ist, gehört es zu den gesetzgeberischen Anliegen, gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten. Insbesondere die landesrechtlichen Abstandsvorschriften treffen Vorsorge dafür, daß sich Beeinträchtigungen der vom Berufungsgericht festgestellten Art, die eine typische Folge der Verwirklichung von Bauvorhaben sind, im Rahmen dessen halten, was sozial verträglich und dem durch die Baumaßnahme mittelbar betroffenen Nachbarn zumutbar ist. Sie zielen im Interesse der Wahrung des nachbarlichen Wohnfriedens auf eine aufgelockerte Bebauung ab, die eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung der Gebäude und der sonstigen Teile des Nachbargrundstücks gewährleistet und die Einsichtsmöglichkeiten begrenzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 17.90 – BVerwGE 88, 191 = Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 34). Soweit die landesgesetzliche Regelung Ausdruck der Wertung ist, daß die Beeinträchtigungen, die bei Anwendung der Abstandsflächenvorschriften verbleiben, hingenommen werden müssen, ist grundsätzlich davon auszugehen, daß der Betroffene auch als Rücksichtnahmebegünstigter keine unzumutbare Einbuße erleidet. Der Grundeigentümer, der sich gegen die Verwirklichung eines Bauvorhabens auf dem Nachbargrundstück zur Wehr setzt, kann unter dem Blickwinkel der Besonnung und etwaiger Einsichtsmöglichkeiten grundsätzlich keine Rücksichtnahme verlangen, die über den Schutz hinausgeht, der diesen Interessen durch die Grenzabstandsvorschriften zuteil wird. Denn das Abstandsflächenrecht stellt in bezug auf diese Belange seinerseits eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme dar (vgl. BVerwG, Beschluß vom 22. November 1984 – BVerwG 4 B 244.84 – NVwZ 1985, 653). Allerdings entbindet die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsvorschriften nicht von der Beachtung etwaiger weitergehender planungsrechtlicher Anforderungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Mai 1986 – BVerwG 4 C 34.85 – Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 114 = ZfBR 1986, 247 ≪248≫). Das Berufungsgericht hat indes selbst ausgeführt, daß das Vorhaben des Beigeladenen in diesem Sinne gegenüber den Klägern nicht „rücksichtslos” ist. Es hat darüber hinaus in Anwendung der irrevisiblen saarländischen Landesbauordnung für den Senat verbindlich festgestellt, daß das Bauvorhaben des Beigeladenen in Einklang mit den einschlägigen Abstandsflächenvorschriften steht. Daraus folgt, daß die Kläger aus diesem Normenbereich keine schützenswerte Rechtsposition für sich herleiten können.

Zu einer abweichenden Wertung besteht nicht deshalb Anlaß, weil die Kläger ihr Grundstück in Ausnutzung einer Baugenehmigung bebaut haben, die es ihnen ermöglichte, ein bestimmtes Baukonzept zu verwirklichen. Das Vorhaben, das der Beigeladene auszuführen beabsichtigt, ist nicht geeignet, die auf dem Grundstück der Kläger legal ausgeübte Wohnnutzung in Frage zu stellen. Es dient dem gleichen Nutzungszweck. Daß es das auf dem Grundstück der Kläger verwirklichte Maß der baulichen Nutzung übersteigt, tut der Wohnverträglichkeit keinen Abbruch. Daran vermag auch der Hinweis auf die besondere Empfindlichkeit der Nutzungsweise nichts zu ändern, für die das Berufungsgericht die Lage des auf dem Grundstück der Kläger errichteten Hauses ins Feld führt, das so gestaltet ist, „daß es die Terrasse zu den Nachbarhäusern im Norden und im Osten abschirmt, während es nach Süden und Westen, wo keine Bebauung angrenzt, den Blick in die Natur freigibt”. Die Baugenehmigung verleiht demjenigen, der sich seine Bauwünsche erfüllt, nicht die Rechtsmacht, durch die Art und Weise der Bauausführung unmittelbaren Einfluß auf die Bebaubarkeit der Nachbargrundstücke zu nehmen. Sie schafft keine Grundlage dafür, weitere Vorhaben mit dem Argument zunichte zu machen, für das behördlich gebilligte eigene Baukonzept sei von ausschlaggebender Bedeutung gewesen, daß das Grundstück Aussichtsmöglichkeiten eröffne und gegen Einblicke von außen abgeschirmt sei. Als Folge des Rechts, ein Grundstück in Übereinstimmung mit einer erteilten Baugenehmigung zu bebauen, müssen sich künftige Bauinteressenten nicht mit einer Nutzung begnügen, die weder zu einer Beschränkung der Aussichtslage noch zu einer Erweiterung von Einsichtsmöglichkeiten führt.

Zu einer abweichenden Beurteilung nötigt auch die Bemerkung des Berufungsgerichts nicht, die Kläger hätten durch den „Bau des auf die besondere Lage ausgerichteten Bungalows” ihr „berechtigtes Vertrauen auf die günstige Grundstückssituation” betätigt. Worauf die Kläger ihr Vertrauen hätten gründen können, ist nicht ersichtlich. Ihr Grundstück liegt am Rande des Wohngebiets „A.d.K.”. Die Flächen, an die es im Süden angrenzt, sind bereits Teil des Außenbereichs. Der Eigentümer eines an der Grenze zum Außenbereich gelegenen Grundstücks muß mit Veränderungen in der Umgebung von vornherein rechnen. Der Außenbereich ist ausweislich des § 35 BauGB einer baulichen Nutzung nicht gänzlich entzogen. Im übrigen besteht keine Gewähr dafür, daß die Außenbereichsqualität auf unabsehbare Zeit erhalten bleibt. Gerade dort, wo sich Innen- und Außenbereich berühren, lassen sich Verschiebungen nicht von vornherein ausschließen. Beleg hierfür ist § 34 Abs. 4 BauGB, der zum Erlaß von Abgrenzungs-, Entwicklungs- und Abrundungssatzungen ermächtigt. Hinzu kommt, daß die Gemeinde es jederzeit in der Hand hat, die planerischen Voraussetzungen für die Festsetzung neuer oder die Erweiterung vorhandener Baugebiete in den Außenbereich hinein zu schaffen. Aus einer Baugenehmigung, die zur Ausnutzung eines bloß augenblicklichen Lagevorteils am Rande des Außenbereichs Gelegenheit bietet, läßt sich kein Schutz vor einer Verschlechterung der freien Aussicht oder vor Einsichtsmöglichkeiten von später genehmigten Gebäuden herleiten (vgl. BVerwG, Beschluß vom 3. Januar 1983 – BVerwG 4 B 224.82 – BRS 40 Nr. 192). Die Aufrechterhaltung einer ungeschmälerten Aussicht und das Fehlen von Anlagen, von denen aus das Grundstück eingesehen werden kann, stellen eine durch die Baugenehmigung vermittelte Chance dar, deren Vereitelung nicht dem Entzug einer Rechtsposition gleichkommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1969 – BVerwG 4 C 80.67 – Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 21).

Die Schutzposition, die die Kläger für sich reklamieren, läßt sich nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen schließlich nicht aus den Festsetzungen des Bebauungsplans „A.d.K.” herleiten. Zwar können bauplanerische Festsetzungen dem Schutz der Aussicht dienen. Auch ist es möglich, daß Festsetzungen eines Bebauungsplans, wie z. B. die über die Art der in einem Baugebiet zulässigen Nutzung, Schutzwirkungen über den räumlichen Geltungsbereich des Plans hinaus entfalten. Eine solche planbereichsüberschreitende Wirkung im Hinblick auf den Schutz der freien Aussicht käme – wenn sie nicht überhaupt nur durch ausdrückliche Festsetzungen, z. B. nach § 9 Abs. 1 Nr. 10 BauGB zu erreichen ist – jedoch nur dann in Betracht, wenn der Satzungsgeber bestimmten Festsetzungen diese Wirkung beilegt. Ob dem so ist, ist durch Auslegung, gegebenenfalls unter Auswertung der Planbegründung, zu ermitteln (vgl. BVerwG, Beschluß vom 3. Januar 1983 – BVerwG 4 B 224.82 – a.a.O.). Dem Berufungsurteil läßt sich nicht entnehmen, daß der Satzungsgeber Anlaß gehabt haben könnte, sich über den Schutz der Aussichtslage Gedanken zu machen. Erst recht ergibt sich nichts dafür, daß bestimmte Festsetzungen den Schutz der Aussicht über die Grenzen des Geltungsbereichs des Plans hinaus gewährleisten sollten. Die Tatsache allein, daß der Planer in einem Baugebiet am Rande des Außenbereichs erkennbar Wert auf ein gewisses Maß an Auflockerung gelegt hat, läßt sich noch nicht als Indiz oder gar als Beleg für die Absicht werten, einen freien Ausblick in den Außenbereich sicherzustellen. Das Berufungsgericht entnimmt dem Bebauungsplan „A.d.K.” für den Bereich westlich der Straße „Z.” zwar die Zielsetzung, die überbaubaren Grundstücksflächen so zu staffeln, „daß alle Häuser eine unverbaubare Südwestecke erhalten können”. Ob eine solche Zielsetzung überhaupt Wirkung auch in den Außenbereich hinein entfalten könnte, kann offenbleiben. Denn auch diese Würdigung des Berufungsgerichts gibt nichts für eine Schutzposition der Kläger her, da das Vorhaben des Beigeladenen so ausgeführt werden soll, daß es für die Kläger nicht mit einer Beeinträchtigung der Aussicht nach Südwesten verbunden ist. Zudem folgt, so führt das Berufungsgericht weiter aus, die Staffelung der Baugrenzen dem gekrümmten Straßenverlauf und ließe sich so nicht in südlicher Richtung fortsetzen, da die Straße im Bereich des Grundstücks der Kläger nach Südwesten abbiegt.

Dieses Ergebnis wird durch folgende Überlegungen bestätigt:

Wäre das Baugrundstück des Beigeladenen Teil des unmittelbar angrenzenden Innenbereichs, so begegnete das genehmigte Vorhaben – wie das Berufungsgericht ausgeführt hat – im Hinblick auf Abwehrrechte der Kläger keinerlei Bedenken. Ein Vorhaben, das im Außenbereich an der Grenze zu einem Gebiet verwirklicht werden soll, in dem sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach § 30 und/oder § 34 BauGB richtet, dürfte schwerlich gegen das aus § 35 BauGB ableitbare Rücksichtnahmegebot verstoßen, wenn es im Falle der Einbeziehung des Baugrundstücks in das Plangebiet oder den Innenbereich nach § 30 BauGB bzw. im Wege der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB oder in Anwendung des § 34 BauGB genehmigungsfähig wäre, ohne daß sich ein Nachbar gegen die Zulassung erfolgreich zur Wehr setzen könnte. Denn durch ein Vorhaben, das im Geltungsbereich eines Bebauungsplans unter den in § 30 und § 31 Abs. 2 BauGB bezeichneten Voraussetzungen zulässig wäre oder das sich im Sinne des § 34 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen würde, werden die nachbarlichen Interessen nicht allein deshalb in rechtserheblicher Weise – schwerer – betroffen, weil der Prüfungsmaßstab nicht den §§ 30, 31 oder 34 BauGB, sondern § 35 BauGB zu entnehmen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2, § 159 Satz 2 und § 162 Abs. 3 VwGO.

 

Unterschriften

Gaentzsch, Hien, Lemmel, Richterin Heeren ist wegen Erkrankung gehindert zu unterschreiben. Gaentzsch, Halama

 

Fundstellen

BRS 1993, 459

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