Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 26.10.2006; Aktenzeichen DB 16 S 6/06) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2006 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der jetzt 39 Jahre alte Beklagte ist seit 1996 Beamter, seit 1999 im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Bis zu seiner vorläufigen Dienstenthebung am 27. Oktober 2003 war er als Grenzaufsichtsbeamter beim Hauptzollamt Singen tätig, zuletzt im Range eines Zollobersekretärs (Besoldungsgruppe A 7).
Am 27. Oktober 2004 hat das Amtsgericht Singen den Beklagten rechtskräftig wegen Diebstahls in drei Fällen sowie versuchten Diebstahls zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 45 € (insgesamt 4 050 €) verurteilt. Das Gericht sah als erwiesen an, dass der Beklagte jeweils während der Dienstzeit im Frühjahr 2003, am 3. September 2003 und am 5. Oktober 2003 aus den Geldbeuteln seiner drei Kolleginnen P…, D… und Z…. Geldscheine entnommen habe, und zwar einmal einen Zwanzig-Euro-Schein und zweimal je einen Zwanzig-Euro-Schein und einen Fünfzig-Euro-Schein. In der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober 2003 blieb es beim Versuch, weil der Beklagte aus der Geldbörse seiner Kollegin K… zwei von ihr fotokopierte Geldscheine im Wert von 50 und 5 € entnahm, die anschließend bei ihm gefunden wurden. Der Beklagte hatte die Diebstähle während der Dienstzeit begangen. Er war dabei in Uniform und bewaffnet. Das Amtsgericht ging auf Grund eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens von erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit des Beklagten aus, sah aber keine konkreten Anzeichen für einen Schuldausschluss.
Vom 30. Oktober 2003 bis zum 27. November 2003 befand sich der Beklagte in stationärer und danach in ambulanter Behandlung in der Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bad S….
Die Klägerin hat am 13. September 2005 Disziplinarklage gegen den Beklagten erhoben und dessen Entfernung aus dem Beamtenverhältnis beantragt. Das Verwaltungsgericht hat der Klage entsprochen. Die auf das Disziplinarmaß beschränkte Berufung des Beklagten blieb erfolglos, im Wesentlichen aus folgenden Gründen:
Wegen der Beschränkung der Berufung auf das Disziplinarmaß sei der Senat an die Tat- und Schuldfeststellungen des Verwaltungsgerichts sowie an dessen disziplinarrechtliche Würdigung als Dienstvergehen gebunden. Das Verwaltungsgericht habe seinerseits die strafgerichtlichen Feststellungen des Amtsgerichts übernommen, so dass auch der Senat von ihnen auszugehen habe. Damit stehe fest, dass der Beklagte während des Dienstes dreimal Geld von Kolleginnen gestohlen und dies einmal versucht habe. Weiterhin stehe fest, dass er vorsätzlich und in Zueignungsabsicht gehandelt und dass kein Schuldausschlussgrund vorgelegen habe.
Das in den festgestellten Handlungen liegende schwerwiegende Dienstvergehen des Beklagten erfordere dessen Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Durch sein Verhalten habe der Beklagte das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren. Weil die in einer Dienststelle zusammenarbeitenden Bediensteten sich auf die Ehrlichkeit ihrer Kollegen verlassen müssten, werde ein im Dienst begangener Diebstahl dem Zugriff auf amtlich anvertrautes Geld gleichgestellt und habe grundsätzlich die Entfernung aus dem Dienst zur Folge. Gewichtige Gründe, die den Schluss rechtfertigten, es sei ausnahmsweise noch kein vollständiger Vertrauensverlust eingetreten, lägen nicht vor. Keiner der bisher anerkannten “klassischen Milderungsgründe” greife zugunsten des Beklagten ein: Anhaltspunkte für die schockartige Auslösung einer psychischen Ausnahmesituation lägen ebenso wenig vor wie solche für eine einmalige persönlichkeitsfremde Handlung oder eine überwundene negative Lebensphase. Das Verhalten des Beklagten sei diesem vielmehr persönlichkeitsimmanent. Das psychiatrische Gutachten habe beim Beklagten eine Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften und ängstlich-selbstunsicheren Anteilen diagnostiziert und den Gutachter zu der Einschätzung einer anderen schweren seelischen Abartigkeit im Sinne von §§ 20, 21 StGB gelangen lassen. Dass damit ein Schuldausschließungsgrund nicht vorliege, sei mit bindender Wirkung festgestellt worden. Die allein verbleibende verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), von der auch der Senat ausgehe, sei nach ständiger Rechtsprechung für sich genommen noch kein Einwand gegen die objektive Untragbarkeit im Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG. Der bisherige Therapieverlauf zeige, dass der Beklagte die von ihm geltend gemachte Krankheit keineswegs dauerhaft überwunden habe.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 12. Dezember 2005 und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2006 zu ändern und gegen den Beklagten auf eine mildere Disziplinarmaßnahme zu erkennen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis aufgrund einer Bemessungsentscheidung bestätigt, die gegen die gesetzlichen Vorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG verstößt. Da die Tatsachenfeststellungen des Berufungsurteils nicht ausreichen, um dem Senat eine abschließende Entscheidung über die Disziplinarklage zu ermöglichen, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG).
1. Die Verwaltungsgerichte erkennen auf die erforderliche Disziplinarmaßnahme, wenn sie nach umfassender Sachaufklärung (§ 58 BDG; § 86 Abs. 1 und 2 VwGO) zu der Überzeugung gelangen, dass der Beamte die ihm in der Disziplinarklageschrift zur Last gelegten dienstpflichtwidrigen Handlungen begangen hat, und dem Ausspruch der Disziplinarmaßnahme kein rechtliches Hindernis entgegensteht (§ 60 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1, § 5 BDG). Die Vorschrift des § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG verleiht den Verwaltungsgerichten die Disziplinarbefugnis: Sie bestimmen die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung gemäß § 13 Abs. 1 und 2 BDG, ohne an die Wertungen des klagenden Dienstherrn gebunden zu sein.
Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung.
Den Bedeutungsgehalt dieser gesetzlichen Begriffe hat der Senat in den Urteilen vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – (BVerwGE 124, 252 ≪258 ff.≫) und vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – (Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3) näher bestimmt. Danach ist maßgebendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG die Schwere des Dienstvergehens. Sie beurteilt sich zum einen nach Eigenart und Bedeutung der verletzten Dienstpflichten, Dauer und Häufigkeit der Pflichtenverstöße und den Umständen der Tatbegehung (objektive Handlungsmerkmale), zum anderen nach Form und Gewicht des Verschuldens und den Beweggründen des Beamten für sein pflichtwidriges Verhalten (subjektive Handlungsmerkmale) sowie nach den unmittelbaren Folgen der Pflichtenverstöße für den dienstlichen Bereich und für Dritte, insbesondere nach der Höhe des entstandenen Schadens.
Das Bemessungskriterium “Persönlichkeitsbild des Beamten” gemäß § 13 Abs. 1 Satz 3 BDG erfasst dessen persönliche Verhältnisse und sein sonstiges dienstliches Verhalten vor, bei und nach der Tatbegehung. Es erfordert eine Prüfung, ob das festgestellte Dienstvergehen mit dem bisher gezeigten Persönlichkeitsbild des Beamten übereinstimmt oder etwa als persönlichkeitsfremdes Verhalten in einer Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation davon abweicht.
Das Bemessungskriterium “Umfang der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit” gemäß § 13 Abs. 1 Satz 4 BDG erfordert eine Würdigung des Fehlverhaltens des Beamten im Hinblick auf seinen allgemeinen Status, seinen Tätigkeitsbereich innerhalb der Verwaltung und seine konkret ausgeübte Funktion.
Aus den gesetzlichen Vorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG folgt die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte, über die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Dies entspricht dem Zweck der Disziplinarbefugnis als eines Mittels der Funktionssicherung des öffentlichen Dienstes. Danach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (Beschlüsse vom 6. Juli 1984 – BVerwG 1 DB 21.84 – BVerwGE 76, 176 ≪177 ff.≫ und vom 13. Oktober 2005 – BVerwG 2 B 19.05 – Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2; Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 16; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 9. August 2006 – 2 BvR 1003/05 – DVBl 2006, 1372 ≪1373≫; Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003 – 2 BvR 1413/01 – NVwZ 2003, 1504).
2. Bei der Gesamtwürdigung haben die Verwaltungsgerichte zunächst die im Einzelfall bemessungsrelevanten Tatsachen zu ermitteln und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Bewertung einzubeziehen. Insbesondere bei der Bestimmung der Schwere des Dienstvergehens dürfen nur solche belastenden Tatsachen berücksichtigt werden, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Demgegenüber sind entlastende Umstände nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” schon dann beachtlich, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist.
Auf der Grundlage des so zusammengestellten Tatsachenmaterials haben die Verwaltungsgerichte eine Prognose über das voraussichtliche künftige dienstliche Verhalten des Beamten zu treffen und das Ausmaß der von ihm herbeigeführten Ansehensbeeinträchtigung des Berufsbeamtentums einzuschätzen. Bei schweren Dienstvergehen stellt sich vorrangig die Frage, ob der Beamte nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist. Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein aktiver Beamter aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn er das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Dies ist anzunehmen, wenn aufgrund der prognostischen Gesamtwürdigung auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden.
Ergibt die prognostische Gesamtwürdigung, dass ein endgültiger Vertrauensverlust noch nicht eingetreten ist, haben die Verwaltungsgerichte diejenige Disziplinarmaßnahme zu verhängen, die erforderlich ist, um den Beamten zur Beachtung der Dienstpflichten anzuhalten und der Ansehensbeeinträchtigung entgegenzuwirken.
Als maßgebendes Bemessungskriterium ist die Schwere des Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG richtungweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Dies bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der im Katalog des § 5 BDG aufgeführten Disziplinarmaßnahme zuzuordnen ist. Dabei können die vom Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Fallgruppen herausgearbeiteten Regeleinstufungen von Bedeutung sein. Davon ausgehend kommt es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist.
Nach dem Urteil vom 20. Oktober 2005 (a.a.O. ≪260 ff.≫) gelten die Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG auch für die Fallgruppe der Zugriffsdelikte, d.h. für die Veruntreuung dienstlich anvertrauter Gelder und Güter. Entsprechendes gilt für den hier vorliegenden Fall des Kollegendiebstahls; er ist nach der ständigen Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich der Schwere im Grundsatz der Veruntreuung amtlich anvertrauter Gelder vergleichbar (vgl. Urteile vom 29. September 1998 – BVerwG 1 D 82.97 – juris, vom 13. März 1996 – BVerwG 1 D 55.95 – DokBer B 1996, 207 ff., jeweils m.w.N.; vgl. auch Urteil vom 25. Oktober 2007 – BVerwG 2 C 43.07 – NVwZ-RR 2008, 335 Rn. 19). Auch hier gilt, dass der Dienstherr sich auf die Ehrlichkeit seiner Bediensteten verlassen muss. Der Diebstahl gegenüber Kollegen vergiftet das Betriebsklima und stört den Arbeitsfrieden in schwerwiegender Weise (vgl. Urteile vom 9. August 1995 – BVerwG 1 D 7.95 – juris und vom 29. September 1998 – BVerwG 1 D 82.97 – juris). Aufgrund der Schwere dieser Dienstvergehen ist hier die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die veruntreuten Beträge oder Werte – wie hier einschließlich des Versuchs mit insgesamt 215 € – die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen. Diese Indizwirkung entfällt jedoch, wenn sich im Einzelfall aufgrund des Persönlichkeitsbildes des Beamten Entlastungsgründe von solchem Gewicht ergeben, dass die prognostische Gesamtwürdigung den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauensverhältnis noch nicht vollends zerstört.
Als durchgreifende Entlastungsgründe kommen vor allem die Milderungsgründe in Betracht, die in der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts zu den Zugriffsdelikten entwickelt worden sind. Diese Milderungsgründe erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose geben. Zum einen tragen sie existenziellen wirtschaftlichen Notlagen sowie körperlichen oder psychischen Ausnahmesituationen Rechnung, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Zum anderen erfassen sie ein tätiges Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils vor drohender Entdeckung.
Unter Geltung der Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ist es jedoch nicht mehr möglich, diese Milderungsgründe bei Zugriffsdelikten und bei anderen Delikten vergleichbaren Gewichts wie hier beim Kollegendiebstahl als abschließenden Kanon der allein beachtlichen Entlastungsgründe anzusehen (vgl. Urteile vom 20. Oktober 2005 a.a.O. und vom 3. Mai 2007 a.a.O. Rn. 23). Vielmehr gelten auch hier die dargestellten Anforderungen an die prognostische Gesamtwürdigung. Demnach dürfen entlastende Gesichtspunkte nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sie für das Vorliegen eines solchen Milderungsgrundes ohne Bedeutung sind oder nicht ausreichen, um dessen Voraussetzungen – im Zusammenwirken mit anderen Umständen – zu erfüllen. Die Milderungsgründe bieten jedoch Vergleichsmaßstäbe für die Bewertung, welches Gewicht entlastenden Gesichtspunkten in der Summe zukommen muss, um eine Fortsetzung des Beamtenverhältnisses in Betracht ziehen zu können. Generell gilt, dass deren Gewicht umso größer sein muss, je schwerer das Zugriffsdelikt aufgrund der Höhe des Schadens, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von “Begleitdelikten” und anderer belastender Gesichtspunkte im Einzelfall wiegt.
3. Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es genügt den sich aus § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ergebenden Anforderungen an die prognostische Gesamtwürdigung nicht.
Zwar kann das Revisionsgericht die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung gemäß § 13 Abs. 1 und 2 BDG selbst treffen, wenn es sich die Überzeugung verschafft hat, dass das Berufungsgericht die bemessungsrelevanten Tatsachen richtig und vollständig festgestellt hat und die Verfahrensbeteiligten hierzu rechtzeitig angehört worden sind (vgl. zu den rechtsstaatlichen Voraussetzungen, unter denen das Revisionsgericht befugt ist, eine eigene Strafzumessungsentscheidung zu treffen, BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 – 2 BvR 1447/05 und 136/05 – BVerfGE 118, 212 ≪228 ff, 235 f.≫). Für eine solche revisionsgerichtliche Bemessungsentscheidung fehlt es jedoch an tragfähigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils, so dass sich dieses auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG).
Das Revisionsgericht hat bei der Anwendung des revisiblen Rechts auf den festgestellten Sachverhalt (§ 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG) grundsätzlich dieselben Befugnisse und Entscheidungsmöglichkeiten, die das Berufungsgericht im Falle einer Zurückverweisung hätte (Urteil vom 6. Juli 1994 – BVerwG 11 C 12.93 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 271). Von dieser Befugnis kann der Senat jedoch nur Gebrauch machen, wenn er aufgrund der gemäß § 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils eine gesetzeskonforme, d.h. den Anforderungen des § 13 BDG genügende Bemessungsentscheidung treffen kann. Er kann weder Tatsachen berücksichtigen, die nicht festgestellt sind, noch die Richtigkeit der festgestellten Tatsachen nachprüfen.
Wegen der von den Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG geforderten prognostischen Gesamtwürdigung kann nach der Rechtsprechung des Senats auch die Frage, ob der Beamte im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit gehandelt hat, bei Zugriffsdelikten und den ihnen vergleichbaren Kollegendiebstählen nicht schematisch als unbeachtlich behandelt werden. Vielmehr haben die Verwaltungsgerichte dieser Frage nachzugehen, wenn der Sachverhalt hinreichenden Anlass bietet. Lässt sich nach erschöpfender Sachaufklärung ein Sachverhalt nicht ohne vernünftigen Zweifel ausschließen, dessen rechtliche Würdigung eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beamten ergibt, so ist dieser Gesichtspunkt nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” in die Gesamtwürdigung einzustellen. Dies trägt auch der disziplinarrechtlichen Geltung des Schuldprinzips und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003 a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – a.a.O. Rn. 30).
Bei der Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts hat sich das Berufungsgericht an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden gesehen, die ihrerseits vom Verwaltungsgericht ohne Beweisaufnahme übernommen worden sind. Hiergegen ist im Grundsatz nichts zu erinnern. Nach § 23 Abs. 1 BDG sind die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils im Disziplinarverfahren bindend, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat. Die Klägerin ist somit zu Recht von den Feststellungen des Amtsgerichts ausgegangen. Ebenso sind diese Feststellungen für das Verwaltungsgericht bindend (§ 57 Abs. 1 BDG). Dies gilt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für das Berufungsverfahren. Für das Revisionsverfahren ergibt sich die Bindung aus § 70 Abs. 1 BDG und aus § 137 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 3 BDG. Für eine Lösung von den Feststellungen bestand kein Anlass.
Der Bindung unterliegen die “tatsächlichen Feststellungen”. Hierzu gehören nicht nur die äußeren Aspekte eines Tathergangs, sondern auch Elemente des inneren Tatbestandes wie etwa die Zueignungsabsicht oder die Bereicherungsabsicht. Feststellungen zur Schuldfähigkeit binden das Gericht indessen nur, soweit sie sich auf die Frage beziehen, ob der Betreffende schuldfähig oder schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB ist. Ist wie hier die Frage der Schuldunfähigkeit mit bindender Wirkung verneint, bleibt es Sache des erkennenden Gerichts, für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme festzustellen, ob bei Vorliegen der Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB ein Fall verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB gegeben ist und welchen Grad die Minderung gegebenenfalls erreicht. Auf Feststellungen, die für diese Frage Bedeutung haben, erstreckt sich die Bindung des Disziplinargerichts nicht (vgl. für den vergleichbar gelagerten Fall im Wehrdiziplinarrecht Urteil vom 13. März 2003 – BVerwG 1 WD 2.03 – ZBR 2004, 144 ≪145≫). Das Disziplinargericht muss vielmehr selbst die hierzu erforderlichen Tatsachen feststellen (was auch im Wege der Übernahme entsprechender Feststellungen der Vorinstanz geschehen kann), es muss sich aber bewusst sein, dass es in diesem Punkt keiner Bindung nach § 57 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG unterliegt, und selbst die erforderliche Rechtsentscheidung treffen, ob die Minderung der Schuldfähigkeit eine erheblich ist.
Erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setzt voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungsfähigkeit kommt es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte (vgl. BGH, Urteile vom 27. November 1959 – 4 StR 394/59 – BGHSt 14, 30 ≪32≫ und vom 21. November 1969 – 3 StR 249/68 – BGHSt 23, 176 ≪190≫; stRspr). Die daran anknüpfende Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung “erheblich” war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte ohne Bindung an die Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten haben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise. Die Erheblichkeitsschwelle liegt umso höher, je schwerer das in Rede stehende Delikt wiegt (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 – NStZ 2004, 437 und vom 22. Oktober 2004 – 1 StR 248/04 – NStZ 2005, 329 ≪330≫). Für die Annahme einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit sind schwerwiegende Gesichtspunkte heranzuziehen wie etwa Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen, leichtere Formen des Schwachsinns, altersbedingte Persönlichkeitsveränderungen, Affektzustände sowie Folgeerscheinungen einer Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten (vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 21 Rn. 2 m.w.N.). Dementsprechend hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB von der Bedeutung und Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab. Aufgrund dessen wird sie bei Zugriffsdelikten nur in Ausnahmefällen erreicht werden (vgl. Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – a.a.O. Rn. 34.)
Wie sich dem Berufungsurteil entnehmen lässt, ist das Berufungsgericht wie zuvor schon das Verwaltungsgericht und das Amtsgericht von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Beklagten ausgegangen. Dem Berufungsurteil ist jedoch nicht zu entnehmen, auf welchen Feststellungen diese rechtliche Wertung beruht. Das Urteil referiert “eine Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften und ängstlich-selbstunsicheren Anteilen” (UA S. 4) und bezieht sich auf das psychiatrische Gutachten vom 11. Februar 2004, nach dem zum Zeitpunkt der Taten die Einsichtsfähigkeit des Beklagten nicht betroffen und seine Steuerungsfähigkeit nicht vollständig aufgehoben gewesen sei. Der dem Gutachten entnommene Hinweis, der Beklagte habe oft vor den Taschen der Frauen gestanden, ohne etwas zu entwenden (UA S. 7/8), spricht aber eher gegen als für eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit. Jedenfalls bestand für das Berufungsgericht begründeter Anlass, dieser unter Umständen entscheidungserheblichen Frage selbst nachzugehen.
Liegt allerdings eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten im Sinne des § 21 StGB tatsächlich vor, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Auch insoweit leidet das Berufungsurteil an einem Abwägungsmangel. Es hat zwar die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Beklagten ohne eigene Tatsachenfeststellung mit dem Satz angenommen, von der allein verbleibenden verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gehe auch der Senat aus. Wie das Berufungsgericht diesen Umstand gewichtet, ergibt sich jedoch aus demselben Satz, in dem es unter Hinweis auf eine Entscheidung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. April 1996 ausführt, die verminderte Schuldfähigkeit sei “nach ständiger Rechtsprechung für sich genommen noch kein Einwand gegen die objektive Untragbarkeit im Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG” (UA S. 11). Damit lässt das Berufungsgericht erkennen, dass es weiterhin der vom Bundesverwaltungsgericht inzwischen aufgegebenen früheren Rechtsprechung folgt, derzufolge eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit bei Zugriffsdelikten und ihnen gleichstehenden Dienstvergehen wie hier dem Kollegendiebstahl letztlich unbeachtlich ist. Soweit es der von ihm angenommenen erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Beklagten überhaupt Bedeutung beigemessen hat, hat es sie lediglich im Hinblick auf die Frage erörtert, ob der Beklagte seine Erkrankung überwunden habe oder ob mit einer Fortdauer der von ihm geltend gemachten gesundheitlichen Störungen zu rechnen war.
4. Da bei der nach § 13 BDG gebotenen Gesamtabwägung nur eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit als Entlastungsgrund in Betracht kommt, bedarf es der tatrichterlichen Aufklärung, ob die Verminderung der Schuldfähigkeit diesen Grad erreicht hat oder nicht. Hierzu Feststellungen zu treffen, ist dem Revisionsgericht versagt. Hiervon abgesehen dürfte das Revisionsgericht bei Rechtsfehlern des Berufungsgerichts, die sich auf die verhängte Maßnahme auswirken, nur dann von einer Zurückverweisung absehen, wenn es sich Gewissheit verschafft hat, dass die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen des angefochtenen Urteils richtig und vollständig sind. Dagegen hat es von einer eigenen Entscheidung abzusehen und die Festsetzung der Rechtsfolgen dem Tatgericht zu überlassen, wenn ihm ein vollständiger und aktueller Bemessungssachverhalt nicht vorliegt oder wenn nicht auszuschließen ist, dass die tatsächliche Grundlage der Maßnahmebemessung unzureichend sein könnte. So liegt es hier. Da dies offenkundig ist, bedurfte es hierzu keiner vorherigen Anhörung des Beamten und seines Verteidigers zu dieser Frage (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 a.a.O. S. 228 ff., 234 f.). Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten.
Unterschriften
Albers, Dr. Müller, Groepper, Dr. Heitz, Thomsen
Fundstellen