Entscheidungsstichwort (Thema)
Degradierung eines Soldaten wegen sexueller Belästigung einer Schülerpraktikantin und einer außerdienstlichen Körperverletzung eines Kameraden
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Schülerpraktikantin bei der Bundeswehr unterfällt dem Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
2. Die sexuelle Belästigung einer bei der Bundeswehr beschäftigten Schülerpraktikantin durch einen Soldaten ist im Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen mit einer Dienstgradherabsetzung zu ahnden.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Süd (Urteil vom 23.06.2021; Aktenzeichen S 4 VL 12/18) |
Tenor
Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 4. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 23. Juni 2021 aufgehoben.
Der frühere Soldat wird in den Dienstgrad eines Oberstabsgefreiten der Reserve herabgesetzt.
Der gegen den früheren Soldaten am 18. Januar 2017 verhängte Verweis wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen werden dem früheren Soldaten auferlegt, der auch die ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.
Tatbestand
Rz. 1
Das Verfahren betrifft im Wesentlichen die disziplinaren Vorwürfe einer sexuellen Belästigung einer Schülerpraktikantin und einer außerdienstlichen Körperverletzung eines Kameraden.
Rz. 2
1. Der... geborene, ledige und kinderlose frühere Soldat wurde nach Abschluss der Hauptschule mit Werkrealschule und einem freiwilligen sozialen Jahr 2012 Soldat auf Zeit. Er trat seinen Dienst bei der... in... an. 2013 wurde er an das... und 2015 an das..., X, versetzt. 2017 schloss er seine Ausbildung zum... ab, wurde zum Stabsunteroffizier befördert und an das... versetzt. Zu Oktober 2020 folgte eine Versetzung zum... Seine Dienstzeit endete mit Ablauf September 2021.
Rz. 3
2. Die sachgleichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wurden jeweils gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Wegen des Verhaltens gegenüber der Schülerpraktikantin wurde dem früheren Soldaten am 18. Januar 2017 ein disziplinarer Verweis erteilt. Er habe, anstatt nur seinem Auftrag - im...lager des X... wegzusortieren - nachzukommen, mit der deutlich jüngeren und minderjährigen Schülerpraktikantin im...lager ein sehr privates Gespräch geführt. Damit sei er seiner Zurückhaltungspflicht nicht nachgekommen, was zur Folge gehabt habe, dass die Schülerpraktikantin das Praktikum abgebrochen habe.
Rz. 4
3. In dem am 28. Februar 2018 eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren wurde der frühere Soldat am 18. Mai 2018 wie folgt angeschuldigt:
"1. Am 25. Oktober 2016, damals noch im Dienstgrad eines Unteroffiziers, fragte der Soldat kurz nach 13:30 Uhr im...keller des X,... (heute...),..., nachdem er zuvor die Tür zum Keller von innen ohne dienstlichen Grund abgeschlossen hatte, die damals 14-jährige zivile Schülerpraktikantin A, ob sie noch Jungfrau sei. Danach umarmte er die Zeugin A trotz deren deutlicher Aussage, kein Interesse an ihm zu haben, drei bis vier Mal fest und streichelte bzw. strich ihr über die Wange, wobei er einmal mit seiner Hand an das Bein der Schülerin glitt. Die Zeugin hatte dabei ihm gegenüber geäußert, dass ihr dieses Verhalten unangenehm sei und sie es nicht wolle. Trotzdem nahm der Soldat sie zumindest einmal in den Arm und fragte sie, was sie denn nun tun würde, wenn er sie jetzt küssen würde. Kurz danach antwortete er auf Nachfrage der hinzugekommenen Frau Unteroffizier B, was er in dem Keller machen würde, wahrheitswidrig, dass er erst seit 2 Minuten dort sei. Tatsächlich war er aber bereits ca. 15 Minuten mit der Zeugin A in dem Keller. Wenig später umarmte der Soldat diese im zweiten Stock des Gebäudes ein weiteres Mal gegen ihren Willen.
2. Am 2. November 2017 beleidigte der Soldat im alkoholisierten Zustand nach 20:30 Uhr im Kino in der... in... einen unbekannten männlichen, wahrscheinlich türkisch-stämmigen Kinobesucher, zumindest sinngemäß mit den Worten 'Hurensohn' und er solle 'seine Mutter ficken'. Wenig später schlug er mit der Faust im selben Kino dem Hauptgefreiten (HG) C zwei oder drei Mal auf den linken Hals und den linken Kiefer, nachdem er ihn zuvor mit den Worten 'Wenn du nicht aufhörst, haue ich dir eine rein' bedroht hatte. Der HG C hatte zuvor versucht, den Soldaten von einer von ihm ausgehenden verbalen und körperlichen Auseinandersetzung mit dem Kinopersonal bzw. dem oben genannten unbekannten Kinobesucher abzuhalten. Danach nahm der Soldat den HG C in den Schwitzkasten und biss ihn. Der HG C brach infolge der Tätlichkeiten mehrfach vor Ort zusammen."
Rz. 5
4. Das Truppendienstgericht hat gegen den früheren Soldaten mit Urteil vom 23. Juni 2021 unter Aufhebung des Verweises ein 15-monatiges Beförderungsverbot nebst 12-monatiger Kürzung der Dienstbezüge um 1/20 verhängt. Vom Anschuldigungspunkt 1 sei der frühere Soldat freizustellen. Insoweit stehe seine Aussage gegen die der Zeugin A, die einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung nicht standhalte. Das vom früheren Soldaten eingeräumte Umarmen im Sinne einer freundschaftlichen Geste und das unstreitige Abschließen der Tür seien nicht angeschuldigt worden. Der Anschuldigungspunkt 2 sei aufgrund der geständigen Einlassung des früheren Soldaten und der Zeugenaussagen bis auf die Beleidigungen erwiesen. Zwar stehe fest, dass die Worte "Hurensohn" und "du sollst deine Mutter ficken" gefallen seien. Es habe aber nicht geklärt werden können, wer sie verwendet habe. Mit der außerdienstlichen Körperverletzung seines Kameraden habe der frühere Soldat seine Pflichten zur Kameradschaft und zum außerdienstlichen Wohlverhalten verletzt. Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen sei eine Dienstgradherabsetzung. Unter Berücksichtigung insbesondere des persönlichkeitsfremden Verhaltens des früheren Soldaten und der überlangen Verfahrensdauer sei aber nur ein 15-monatiges Beförderungsverbot in Verbindung mit einer 12-monatigen Bezügekürzung zu verhängen, wobei der wirtschaftlich angespannten Situation des früheren Soldaten durch das Kürzungsmindestmaß von 1/20 Rechnung getragen werde.
Rz. 6
5. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat gegen das Urteil am 18. August 2021 unbeschränkt Berufung eingelegt. Sie ist der Ansicht, der frühere Soldat sei vom Anschuldigungspunkt 1 nicht freizustellen. Bereits mit dem jeweils eingeräumten Abschließen der Tür und der Umarmung der Zeugin A habe er seine Dienstpflichten verletzt. Seine Einlassung, er habe sie nur trösten wollen, weil sie ihm private Probleme offenbart habe, sei eine Schutzbehauptung. Die weiteren Tathandlungen seien aufgrund der glaubhaften Aussage der Zeugin A ebenfalls erwiesen. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt teilt diese Ansicht. Er hält eine Degradierung zum Stabsgefreiten der Reserve für angemessen.
Rz. 7
6. Der frühere Soldat tritt dem entgegen. Er verweist hinsichtlich des Anschuldigungspunktes 1 im Wesentlichen auf Ungereimtheiten in den Aussagen der Zeugin A. An die vom Anschuldigungspunkt 2 umfassten Geschehnisse könne er sich nicht erinnern, räume aber ein, dass er den Kameraden C alkoholbedingt wohl geschlagen habe, wofür er sich bei ihm entschuldigt habe.
Rz. 8
7. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des früheren Soldaten, zur Anschuldigung und zur Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf dieses verwiesen. Für die im Berufungsverfahren eingeführten Unterlagen und das Ergebnis der Beweisaufnahme durch den Senat wird auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die Berufung ist zulässig und im Wesentlichen begründet. Da sie in vollem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat in dem nach Beendigung des Dienstverhältnisses des früheren Soldaten gemäß § 82 Abs. 1 WDO fortzusetzenden Verfahren im Rahmen der Anschuldigung eigene Tat- und Schuldfeststellungen zu treffen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Danach ist eine Herabsetzung des früheren Soldaten in den Dienstgrad eines Oberstabsgefreiten der Reserve angemessen.
Rz. 10
1. In tatsächlicher Hinsicht sind die Anschuldigungen größtenteils erwiesen.
Rz. 11
a) Für den Anschuldigungspunkt 1 gilt:
Rz. 12
aa) In objektiver Hinsicht steht fest, dass der frühere Soldat im Dienstgrad eines Unteroffiziers am 25. Oktober 2016 im X, wo er seine Ausbildung zum... absolvierte, gegen 13:30 Uhr die damals 14-jährige Schülerpraktikantin A (im Folgenden: Zeugin A), die dort am Vortag ihr Schülerpraktikum angetreten hatte, mit in den...keller nahm und diesen von innen abschloss. Dies hat er eingeräumt.
Rz. 13
Fest steht auch, dass es für das Abschließen keinen dienstlichen Grund gab. Vielmehr war es nach den zweitinstanzlichen Aussagen des früheren Soldaten und der Zeugin Oberfeldwebel B üblich, die Tür zum...keller nach dem Aufschließen und Eintreten offen zu lassen und erst nach dem Verlassen wieder abzuschließen.
Rz. 14
Die Aufenthaltsdauer im...keller betrug - so auch die Aussage des früheren Soldaten bei der Polizei - etwa eine halbe Stunde. Dies ergibt sich daraus, dass die Zeugin A erstinstanzlich angab, sie habe nach ca. 20 Minuten gehört, wie jemand versucht habe, die Tür zu öffnen, es sodann zu einem Zusammentreffen mit der Zeugin Oberfeldwebel B kam und der frühere Soldat erstinstanzlich aussagte, es sei genau 14 Uhr gewesen, als er nach dem anschließenden Hochgehen oben im Behandlungsraum auf die Uhr geschaut habe.
Rz. 15
Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass der frühere Soldat auf die Nachfrage der Zeugin Oberfeldwebel B, was er in dem Keller mache, antwortete, er sei erst zwei Minuten dort, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 20 Minuten mit der Zeugin A im...keller war. Dies hat die Zeugin A in der Berufungshauptverhandlung glaubhaft ausgesagt. Die Zeugin Oberfeldwebel B hat in der Berufungshauptverhandlung bestätigt, dass ihr diese Antwort des früheren Soldaten bekannt vorkomme.
Rz. 16
Des Weiteren hat der frühere Soldat eingeräumt, die Zeugin A im abgeschlossenen...keller einmal umarmt zu haben.
Rz. 17
Der Senat ist darüber hinaus davon überzeugt, dass er sie dort mindestens ein weiteres Mal umarmte, sie fragte, ob sie noch Jungfrau sei und was sie tun würde, wenn er sie jetzt küssen würde, sie streichelte, ihr über die Wange strich und einmal mit seiner Hand an ihr Bein glitt, obwohl die Zeugin A deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass sie kein Interesse an ihm habe, ihr sein Verhalten unangenehm sei und sie es nicht wolle, und dass er sie wenig später im zweiten Stock des Gebäudes ein weiteres Mal gegen ihren Willen umarmte. Insoweit steht die Aussage des früheren Soldaten gegen die der Zeugin A.
Rz. 18
Der frühere Soldat hat in der Berufungshauptverhandlung behauptet, er sei nach dem Aufschließen des...kellers gemeinsam mit der Zeugin A zwecks Prüfung von Verfallsdaten des Materials hineingegangen. Dabei habe er die Tür zunächst offen stehen lassen und den Schlüssel nach innen gesteckt, damit er nicht verloren gehe. Im...keller habe die Zeugin A - wie schon vormittags beim "Mitlaufen" durch Patientenzimmer - ständig ihr Handy in der Hand gehabt. Darauf angesprochen habe sie über ihren Freund bzw. Ex-Freund gesprochen und darüber, dass sie keine gute Beziehung geführt hätten. Sie habe Tränen in den Augen gehabt. Damit niemand denke, er sei schuld daran, sei er zur Tür gegangen und habe diese von innen zugezogen, damit sie keiner so traurig sehe und denke, er sei schuld daran. Dabei habe er die Tür reflexartig und unbewusst abgeschlossen. Kisten habe er nicht davor geschoben. Sodann habe er - wie eingeräumt - lediglich einmal den Arm um die Zeugin A gelegt und sie an sich gedrückt, um sie zu trösten. Alle weiteren Vorwürfe seien unwahr. Erst als die Zeugin Oberfeldwebel B geklopft habe, habe er realisiert, dass die Tür abgeschlossen sei und habe sie geöffnet. Auch eine spätere Umarmung der Zeugin A im zweiten Stockwerk habe nicht stattgefunden. Diese habe ihr Praktikum vermutlich deshalb abgebrochen, weil er sie vormittags wiederholt wegen des Handys "gemaßregelt" und sie kein Interesse am Praktikum gehabt habe.
Rz. 19
Demgegenüber hat die Zeugin A in der Berufungshauptverhandlung ausgesagt, der frühere Soldat habe sie vormittags nicht zurechtgewiesen, sondern ihr intime Fragen gestellt. Direkt nach dem Eintreten in den...keller habe er die Tür von innen abgeschlossen und Kisten und Kartons vor die Tür geschoben. Dies habe sie sehr verunsichert. Im...keller habe der frühere Soldat ihr weitere intime Fragen gestellt, u. a., ob sie noch Jungfrau sei, und sie berührt. Er habe sie ein- bis zweimal umarmt und ihr über die Wange und das Bein gestrichen. Auf die Frage des früheren Soldaten, was sie machen würde, wenn er sie jetzt küssen würde, habe sie geantwortet, sie würde "wegziehen", d. h. nicht erwidern. Ihr Handy habe sie nicht dabei gehabt; es sei den Tag über in ihrem Rucksack im Pausenraum gewesen. Als sie ihn gefragt habe, was passieren würde, wenn sie jemandem von dem Vorfall im Keller berichten würde, habe er geantwortet, dass dann Aussage gegen Aussage stünde. Sie habe sodann mitbekommen, dass jemand in den Keller gewollt habe. Daraufhin sei der frühere Soldat hektisch aufgesprungen und habe die Tür aufgeschlossen. An die eintretende Zeugin Oberfeldwebel B habe sie sich deshalb nicht gewandt, weil sie Angst gehabt und unter Schock gestanden habe. Nachdem sie wieder nach oben gegangen seien, habe der frühere Soldat sie später in der zweiten Etage gegen ihren Willen von hinten in den Arm genommen und erneut an sich gedrückt. Anschließend seien sie wieder nach unten gegangen und sie habe früher nach Hause gehen dürfen. Der frühere Soldat habe ihr kurz darauf noch eine Nachricht über WhatsApp geschickt; ihre Handynummer habe sie ihm zuvor für den Fall von Zugverspätungen gegeben. Im Nachgang habe er noch versucht, Kontakt über Facebook mit ihr aufzunehmen. Die Freundschaftsanfrage habe sie sofort gelöscht. Sie habe das Praktikum wegen des Vorfalls abgebrochen, sei den Rest der Woche zuhause geblieben und habe während der verbliebenen Praktikumszeit die Schule besucht.
Rz. 20
Nach § 123 Satz 3 i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 261 StPO hat der Senat über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Die für die Überführung eines Angeschuldigten erforderliche persönliche Gewissheit des Tatrichters erfordert ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen (BVerwG, Urteil vom 24. Januar 2019 - 2 WD 16.18 - juris Rn. 14). Dabei ist der Senat nicht schon aufgrund des Zweifelsgrundsatzes an einer Verurteilung gehindert, wenn "Aussage gegen Aussage" steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen (BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 - 2 WD 1.21 - juris Rn. 20). In einem solchen Fall bedarf es aber einer besonders sorgfältigen Gesamtwürdigung aller Umstände. Erforderlich sind vor allem eine sorgfältige Inhaltsanalyse, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20 - NStZ-RR 2021, 24).
Rz. 21
Nach Maßgabe dessen hat der Senat keine vernünftigen Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung der Zeugin A. Sie ist in sich schlüssig und entspricht in allen wesentlichen Punkten ihren früheren Aussagen. Die Zeugin A machte auf den Senat auch nach ihrem Aussageverhalten einen glaubwürdigen Eindruck. Sie wirkte authentisch und vermittelte nicht den Eindruck, dass sie übertreibt oder Dinge erfindet. Ihre ebenfalls vernommene Mutter hat bestätigt, dass ihre Tochter nicht dazu neigt, Geschichten zu erfinden.
Rz. 22
Wenngleich sich keine Notwendigkeit erschließt, weshalb der frühere Soldat nach dem Abschließen der Tür des...kellers von innen noch Kartons davorgeschoben haben soll, hat die Zeugin Oberfeldwebel B bestätigt, in unmittelbarer Nähe der Tür Kartons wahrgenommen zu haben, was die Schilderung der Zeugin A glaubhaft erscheinen lässt.
Rz. 23
Dass sich die Zeugin A in der Berufungshauptverhandlung hinsichtlich der Anzahl der Umarmungen im...keller nur noch an zwei Umarmungen sicher erinnern konnte, während sie bei der Polizei angab, der frühere Soldat habe sie "ca. drei bis vier Mal" umarmt, erklärt sich mit dem langen Zurückliegen der Tat und dem fließenden Tatgeschehen.
Rz. 24
Zwar weist die Aussage der Zeugin A eine Unstimmigkeit hinsichtlich des Zeitpunktes des Bemerkens der abgeschlossenen Tür auf. Nach ihren insoweit übereinstimmenden Aussagen bei der Wehrdisziplinaranwaltschaft, beim Truppendienstgericht und in der Berufungshauptverhandlung registrierte sie das Abschließen der Tür direkt nach dem Eintreten. Bei der Polizei hat sie indes ausgesagt, sie habe nach ca. 20 Minuten gehört, wie die Klinke des Lagerraumes heruntergedrückt worden sei. Diese Aussage könnte so zu verstehen sein, dass sie erst zu diesem Zeitpunkt bemerkte, dass die Tür abgeschlossen war. Auf Vorhalt hat sie diesen vermeintlichen Widerspruch aber plausibel mit der Erläuterung entkräftet, dass sie das Abschließen zwar unmittelbar nach dem Eintreten wahrgenommen, den früheren Soldaten aber erst im Zusammenhang mit dem Erscheinen der Zeugin Oberfeldwebel B darauf angesprochen habe.
Rz. 25
Zwar widerspricht die weitere Angabe der Zeugin A in der Berufungshauptverhandlung, nach dem Erscheinen der Zeugin Oberfeldwebel B im...keller seien sie und der frühere Soldat hochgegangen, während die Zeugin Oberfeldwebel B im...keller geblieben sei, an der sie auch nach wiederholtem Befragen festgehalten hat, deren Aussage, sie selbst sei zuerst hochgegangen, dessen sich die Zeugin Oberfeldwebel B ebenfalls sehr sicher war. Angesichts des Zeitablaufs und des Umstands, dass sich die Gedanken der Zeugin A im...keller auf das Verhalten des früheren Soldaten konzentrierten, ist dieser Widerspruch, der nur das Randgeschehen betrifft, aber nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit ihrer konsistenten Angaben zu den Tathandlungen in Frage zu stellen.
Rz. 26
Dies gilt insbesondere deshalb, weil kein Motiv ersichtlich ist, weshalb die Zeugin A den früheren Soldaten zu Unrecht der Taten bezichtigen sollte. Der Senat glaubt nicht, dass sie - wie der frühere Soldat geltend macht - keine Lust auf das Praktikum hatte und sich die Taten ausgedacht hat, um es abbrechen zu können. Hierfür bestand kein Anlass. Die Zeugin A hat glaubhaft bekundet, dass sie sich ungeachtet ihres unerfüllten Erstwunsches, das Praktikum bei der Polizei zu absolvieren, sehr auf das Praktikum bei der Bundeswehr gefreut habe, das ihr als solches großen Spaß gemacht habe. Dies wird durch die Zeugenaussage ihrer Mutter bestätigt, die anschaulich beschrieben hat, dass sich ihre Tochter auf das Praktikum sehr gefreut habe und vom ersten Praktikumstag voller Vorfreude auf den nächsten Praktikumstag heimgekehrt sei.
Rz. 27
Für die Richtigkeit der Aussage der Zeugin A spricht auch, dass ihre Mutter darüber hinaus bekundet hat, ihre Tochter sei, als sie am Tattag nach Hause gekommen sei, sofort in ihr Zimmer gegangen. Weil sie ihre Tochter kenne, sei sie zu ihr gegangen und ihre Tochter habe ihr von dem Vorfall mit dem früheren Soldaten erzählt; dabei habe sie Angst gehabt und geweint. Zudem hat die Mutter den Kontaktaufnahmeversuch des früheren Soldaten per Facebook mit ihrer Tochter nach dem Vorfall bestätigt, den der frühere Soldat - ebenso wie seine durch einen Screenshot belegte WhatsApp-Nachricht mit dem Text "Und bist du froh" an die Zeugin A, nachdem diese die Dienststelle verlassen hatte - erstinstanzlich bestritten hatte.
Rz. 28
Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Zeugin A - wie der frühere Soldat behauptet - die Taten von ihrer Mutter "in den Mund gelegt" wurden. Vielmehr hat diese in der Berufungshauptverhandlung glaubhaft geschildert, dass sich ihre Tochter ihr gegenüber auf Befragen nur teilweise geöffnet habe und sie selbst erst bei der polizeilichen Vernehmung ihrer Tochter die Einzelheiten erfahren habe.
Rz. 29
Die Tathandlungen sind für den früheren Soldaten auch nicht persönlichkeitsfremd. Zwar hat die Zeugin Oberfeldwebel B erstinstanzlich bekundet, sie habe nicht wahrgenommen, dass dieser sich ihr oder Kameradinnen unangemessen körperlich genähert hätte. Jedoch hat die Zeugin Stabsunteroffizier D in ihrer Vernehmung am 3. November 2017, deren Protokoll in die Berufungshauptverhandlung eingeführt worden ist, ausgeführt, der frühere Soldat habe in der Cocktailbar des im Anschuldigungspunkt 2 genannten Kinos die Handynummer der Barkeeperin "bestellt" und sei dabei aufdringlich gewesen; zudem sei es im Kinosaal "nervig" gewesen, dass er sich dauernd zu ihr gelehnt habe und sein Arm mehrfach auf ihr Bein gefallen sei.
Rz. 30
Demgegenüber ist die Version des früheren Soldaten bereits in sich nicht schlüssig, weil es verdächtiger wirkt, sich mit einer Schülerpraktikantin, die Tränen in den Augen hat, in einem abgeschlossenen als in einem offenen Kellerraum aufzuhalten.
Rz. 31
Zudem glaubt der Senat ihm nicht, dass er die Tür von innen reflexartig abgeschlossen hat, ohne es zu bemerken. Gegen einen Automatismus spricht, dass die Tür üblicherweise gerade nicht von innen abgeschlossen, sondern offen gelassen wurde. Auch widerspricht die erstmalige Behauptung eines versehentlichen Abschließens der Tür in der Berufungshauptverhandlung der Aussage des früheren Soldaten unmittelbar nach der Tat bei der Polizei. Dort hatte er erklärt, er sei "dann zur Tür und habe die abgeschlossen. Aber nicht fest, nur einmal so umschlossen, damit auch keiner mitkriegt, falls sie weinen sollte." Demzufolge hat er die Tür bewusst abgeschlossen. Diesen Widerspruch hat der frühere Soldat auf Vorhalt in der Berufungshauptverhandlung nicht nachvollziehbar erklären können.
Rz. 32
Des Weiteren hält es der Senat für unglaubhaft, dass der frühere Soldat die Zeugin A im...keller wegen Beziehungsproblemen getröstet haben soll. Denn sie kannte den früheren Soldaten nicht persönlich. Er wurde ihr erst am Vortag - ihrem ersten Praktikumstag - kurz vorgestellt. Der Senat hält es daher für fernliegend, dass die Zeugin A ihm am zweiten Tag ihres Praktikums ihr Herz über Beziehungsprobleme ausgeschüttet haben soll, zumal sie seinerzeit nach ihren glaubhaften Angaben keine Beziehungsprobleme hatte. Solche oder andere Probleme waren auch ihrer Mutter laut deren Zeugenaussage in der Berufungshauptverhandlung nicht bekannt.
Rz. 33
Der Senat glaubt ferner nicht, dass die Zeugin A im...keller und vormittags in den Patientenzimmern mit ihrem Handy beschäftigt war. Denn der Zeuge Oberfeldarzt d.R. Dr. H hat in der Berufungshauptverhandlung ausgesagt, es habe den Hinweis gegeben, dass im Dienst gearbeitet werde und keine Privatgespräche geführt würden. Die Zeugin Oberfeldwebel B hat bestätigt, es sei üblich gewesen, dass Handys im Dienst nicht benutzt werden durften, sondern nur in den Pausen. Dass sich die Zeugin A am zweiten Tag ihres Schülerpraktikums dieser Vorgabe wiederholt widersetzt haben soll, erscheint abwegig. Dem Zeugen Oberfeldarzt d.R. Dr. H ist in der Berufungshauptverhandlung auch nicht erinnerlich gewesen, dass sich jemand über Verstöße der Schülerpraktikantin beschwert habe.
Rz. 34
Gegen die Glaubwürdigkeit des früheren Soldaten spricht des Weiteren, dass die Zeugin Oberfeldwebel B in beiden Instanzen glaubhaft ausgesagt hat, sie habe beim Aufeinandertreffen im...keller das Verhalten des früheren Soldaten als merkwürdig empfunden; es habe gewirkt, als habe er sich ertappt gefühlt und die Zeugin A habe sehr schüchtern gewirkt. Zudem ist erwiesen, dass der frühere Soldat ihr gegenüber hinsichtlich der Aufenthaltsdauer mit der Zeugin A im...keller die Unwahrheit sagte, was ebenfalls gegen seine Glaubwürdigkeit spricht.
Rz. 35
bb) In subjektiver Hinsicht steht aufgrund der aufgezeigten Ergebnisse der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest, dass der frühere Soldat die Tathandlungen nicht beging, um die Zeugin A zu trösten, sondern um sich ihr körperlich anzunähern. Allerdings geht der Senat zu Gunsten des früheren Soldaten davon aus, dass er die Tür nicht abschloss, um die Zeugin A an einem Verlassen des Raums zu hindern, sondern um den unerwünschten Eintritt Dritter zu unterbinden.
Rz. 36
b) Der Anschuldigungspunkt 2 ist in tatsächlicher Hinsicht vollumfänglich erwiesen.
Rz. 37
aa) Fest steht, dass der frühere Soldat im damaligen Dienstgrad eines Stabsunteroffiziers am 2. November 2017 gemeinsam mit dem seinerzeitigen Hauptgefreiten C, nach dessen erstinstanzlicher Aussage der frühere Soldat im Dienst sein Vorgesetzter war, sowie der Zeugin D (damals: Stabsunteroffizier) und der Zeugin E (damals: Unteroffizier) alkoholisiert in dem im Anschuldigungspunkt 2 bezeichneten Kino war. Dies folgt aus den erstinstanzlichen Aussagen der Zeuginnen D und E.
Rz. 38
bb) Aus diesen Aussagen ergibt sich auch, dass sich der frühere Soldat im Kino auffallend laut verhielt. Aufgrund der vorgerichtlichen Aussage der Zeugin D vom 3. November 2017 ist erwiesen, dass der frühere Soldat in einer Auseinandersetzung gegenüber einem türkisch-stämmig aussehenden Kinobesucher, der ihn um Ruhe bat, lautstark mehrfach "Hurensohn" sowie, er solle "seine Mutter ficken", äußerte. Die Zeugin E hat erstinstanzlich bestätigt, dass diese Worte fielen.
Rz. 39
cc) Des Weiteren steht fest, dass der frühere Soldat wenig später im selben Kino gegenüber dem Zeugen C, der versuchte, ihn von einer Auseinandersetzung mit dem Kinopersonal abzuhalten, mehrfach äußerte: "Wenn du nicht damit aufhörst, hau' ich dir eine rein!" Dies hat der frühere Soldat in seiner vorgerichtlichen Vernehmung am 6. November 2017 eingeräumt. Des Weiteren ist erwiesen, dass er den Zeugen C sodann zwei oder drei Mal auf den linken Hals und den linken Kiefer schlug, ihn in den Schwitzkasten nahm und biss, woraufhin der Zeuge C mehrfach vor Ort zusammenbrach. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der erstinstanzlichen Aussagen des Zeugen C und der Zeuginnen D und E sowie der vorgerichtlichen Aussage der Zeugin D vom 3. November 2017. Bedenken gegen dessen Glaubwürdigkeit hat der frühere Soldat selbst nicht geltend gemacht.
Rz. 40
dd) In subjektiver Hinsicht geht der Senat davon aus, dass der frühere Soldat jeweils wissentlich und willentlich handelte.
Rz. 41
2. Der frühere Soldat hat damit ein Dienstvergehen begangen (§ 23 Abs. 1 SG). Er hat schuldhaft seine Dienstpflichten verletzt.
Rz. 42
a) Mit dem erwiesenen Verhalten zum Anschuldigungspunkt 1 hat er vorsätzlich gegen die Pflichten zum treuen Dienen nach § 7 SG und zum innerdienstlichen Wohlverhalten gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 SG verstoßen.
Rz. 43
aa) Zur Pflicht zum treuen Dienen gehört die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der geltenden Rechtsordnung (BVerwG, Urteil vom 28. August 2019 - 2 WD 28.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 68 Rn. 37 m. w. N.).
Rz. 44
(1) Entgegen dieser Verpflichtung hat der frühere Soldat gegen das Verbot der Benachteiligung von Beschäftigten aufgrund des Geschlechts nach § 7 Abs. 1 AGG verstoßen. Denn er hat als Soldat während seiner beruflichen Tätigkeit beim X eine dort beschäftigte Schülerpraktikantin im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG sexuell belästigt.
Rz. 45
Eine Schülerpraktikantin bei der Bundeswehr unterfällt gemäß § 6 Abs. 1 AGG dem persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Vor Benachteiligungen geschützt sind danach die "Beschäftigten" in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (vgl. BT-Drs. 16/1780 S. 34). Dazu gehören gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG auch die "zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten". Diese Regelung geht über den Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ArbGG hinaus, indem er sich nicht auf die zu ihrer Berufsausbildung beschäftigten Personen beschränkt. Zur Berufsbildung (vgl. § 1 Abs. 1 BBiG) zählen neben der Berufsausbildung (§ 1 Abs. 3 BBiG) die Berufsausbildungsvorbereitung (§ 1 Abs. 2 BBiG), die berufliche Fortbildung (§ 1 Abs. 4 BBiG) und die berufliche Umschulung (§ 1 Abs. 5 BBiG). Ferner werden nicht nur die dem BBiG unterliegenden Berufsausbildungsverhältnisse einbezogen, sondern nach § 26 BBiG auch Umschüler, Volontäre, Praktikanten und andere, die, ohne dass ein Arbeitsverhältnis vereinbart ist, eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben, sofern sie einem dem Beschäftigungsverhältnis vergleichbaren Weisungsverhältnis unterliegen (vgl. Staudinger/Serr, in: Staudinger, BGB, Stand September 2020, § 6 AGG Rn. 6 m. w. N.; siehe auch Kalb, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, § 6 AGG Rn. 6; Riesenhuber, in: Ermann, BGB, 16. Aufl. 2020, § 6 AGG Rn. 3). Dies war bei der Zeugin A der Fall.
Rz. 46
Der frühere Soldat hatte ihr gegenüber das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot zu beachten. Es gilt nicht nur für den Arbeitgeber, sondern auch für dort Beschäftigte und Dritte (vgl. § 7 Abs. 3, § 12 Abs. 4 AGG). Dass Soldaten selbst nicht gemäß § 6 Abs. 1, § 24 AGG dem Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, sondern nach § 6 SoldGG dem Schutz des Gesetzes über die Gleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten unterfallen, führt nicht zur Unanwendbarkeit des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, wenn sie ihrerseits an ihrer Dienststelle Beschäftigte benachteiligen, für die der Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gilt.
Rz. 47
Der frühere Soldat hat die Zeugin A im Sinne des § 7 Abs. 1 AGG aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt, weil er sie sexuell belästigt hat.
Rz. 48
Eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Schutzgut des § 3 Abs. 4 AGG ist die sexuelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gewährleistet es, selbst darüber zu entscheiden, unter den gegebenen Umständen von einem anderen in ein sexualbezogenes Geschehen involviert zu werden. Bei Handlungen, die nicht unmittelbar das Geschlechtliche im Menschen zum Gegenstand haben, wie z. B. Umarmungen, kann sich eine Sexualbezogenheit aufgrund einer mit ihnen verfolgten sexuellen Absicht ergeben (vgl. BAG, Urteile vom 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - NJW 2017, 3018 Rn. 18 und vom 20. Mai 2021 - 2 AZR 596/20 - NJW 2021, 3138 Rn. 24).
Rz. 49
Bei den beiden Umarmungen der Zeugin A im...keller, der Frage, ob sie noch Jungfrau sei, dem Streicheln, dem Streichen über die Wange und dem Gleiten mit der Hand an das Bein der Zeugin A sowie dem späteren Umarmen im zweiten Stock handelt es sich wegen des damit vom früheren Soldaten verfolgten Ziels der körperlichen Annäherung um ein sexuell bestimmtes Verhalten im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG.
Rz. 50
Dieses war seitens der Zeugin A unerwünscht. Insoweit ist es nicht erforderlich, dass der Betroffene seine ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht hat. Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war (vgl. BAG, Urteil vom 20. Mai 2021 - 2 AZR 596/20 - NJW 2021, 3138 Rn. 24 m. w. N.). Dies ist bereits der Fall, wenn das Opfer weder ausdrücklich noch indirekt signalisiert hat, sich mit dem Täter mit den entsprechenden Berührungen auf sexueller Ebene austauschen zu wollen (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Mai 2020 - 2 WD 13.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 74 Rn. 26 und vom 22. April 2022 - 2 WD 15.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 91 Rn. 28); die Zeugin A hat die Unerwünschtheit - wie festgestellt - sogar deutlich gegenüber dem früheren Soldaten zum Ausdruck gebracht.
Rz. 51
Das Verhalten des früheren Soldaten bewirkte auch eine Verletzung der Würde der Zeugin A. Für das "Bewirken“ genügt der bloße Eintritt der Belästigung. Gegenteilige Absichten oder Vorstellungen der für dieses Ergebnis aufgrund ihres Verhaltens objektiv verantwortlichen Person spielen keine Rolle. Ebenso kommt es auf vorsätzliches Verhalten nicht an (vgl. BAG, Urteil vom 29. Juni 2017 - 2 AZR 302/16 - NJW 2017, 3018 Rn. 20). Die Würdeverletzung muss nicht die Qualität einer Würdeverletzung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG erreichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 2 WD 13/16 - juris Rn. 86). Das hier gegebene Ausloten der Bereitschaft, körperlich intim zu werden, genügt, weil dadurch eine fehlende Achtung vor der Intimsphäre der Geschädigten dokumentiert wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 2 WD 13.16 - juris Rn. 86 m. w. N.).
Rz. 52
(2) Nicht hingegen hat der frühere Soldat gegen Strafgesetze verstoßen.
Rz. 53
Eine Straftat nach § 174, § 177 oder § 182 StGB scheidet mangels sexueller Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB aus, weil das Verhalten des früheren Soldaten die dafür erforderliche Erheblichkeitsschwelle (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15 - NStZ 2017, 528 ≪529≫ und Beschlüsse vom 8. April 1992 - 5 StR 128/92 - juris Rn. 3 und vom 6. Mai 2020 - 2 StR 543/19 - juris Rn. 10 und 17 m. w. N.) nicht überschritt. Eine Straftat nach § 184i Abs. 1 StGB liegt nicht vor, weil diese Vorschrift erst kurz nach der Tat in Kraft trat (§ 2 Abs. 1 StGB).
Rz. 54
Der frühere Soldat hat sich auch nicht einer (tätlichen) Beleidigung nach § 185 StGB strafbar gemacht. Ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung erfüllt nur dann den Tatbestand der Beleidigung, wenn nach den gesamten Umständen in dem Verhalten des Täters zugleich eine - von ihm gewollte - herabsetzende Bewertung des Opfers zu sehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 2006 - 2 StR 382/06 - NStZ 2007, 218). Für einen dahingehenden Willen des früheren Soldaten ist nichts ersichtlich.
Rz. 55
Das Abschließen der Tür stellt keine Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB dar. Es kann dahinstehen, ob ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vorliegt, weil die Zeugin A, die das Abschließen der Tür registrierte, hiergegen nicht protestierte. Jedenfalls hat der frühere Soldat nicht vorsätzlich gehandelt. Denn am erforderlichen Vorsatz für eine Freiheitsberaubung fehlt es, wenn der Täter den Raum, in dem sich ein anderer befindet, nur verschließt, um - wie hier - den Eintritt Dritter zu verhindern, nicht aber, um dem Anderen das Verlassen des Raumes zu verwehren (vgl. Schluckebier, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2015, § 239 Rn. 33).
Rz. 56
bb) Die sexuelle Belästigung stellt zugleich eine vorsätzliche Verletzung der Pflicht zum innerdienstlichen Wohlverhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 SG) dar, weil der frühere Soldat damit nicht der Achtung und dem Vertrauen gerecht wurde, die sein Dienst als Soldat erforderte.
Rz. 57
b) Mit dem erwiesenen Verhalten zum Anschuldigungspunkt 2 hat der frühere Soldat ebenfalls schuldhaft seine Dienstpflichten verletzt.
Rz. 58
aa) Mit der Körperverletzung des Zeugen Hauptgefreiter C hat er vorsätzlich gegen seine Pflichten zur Kameradschaft (§ 12 SG) und zum außerdienstlichen Wohlverhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 SG) verstoßen.
Rz. 59
(1) Die Pflicht zur Kameradschaft ist nach § 12 Satz 1 SG für den Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich. Sie gilt daher innerhalb und außerhalb des Dienstes (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 - 2 WD 1.21 - juris Rn. 31). Sie verpflichtet alle Soldaten gemäß § 12 Satz 2 SG, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten, und verbietet es, durch - wie hier - gewaltsame Übergriffe das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines anderen Soldaten zu verletzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 - 2 WD 1.21 - juris Rn. 31 m. w. N.).
Rz. 60
(2) Damit einher geht eine vorsätzliche Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 SG). Danach hat sich ein Soldat außer Dienst und außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt.
Rz. 61
Ein außerdienstliches Verhalten liegt vor, weil es sich weder während des Dienstes noch innerhalb dienstlicher Anlagen ereignete und auch keinen funktionellen Bezug zum Dienst aufwies (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 72 Rn. 23). Die Tat war auch geeignet, das dienstliche Ansehen des früheren Soldaten ernsthaft zu beeinträchtigen. Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine Straftat begangen wird, die mit einer Freiheitsstrafe im mittleren Bereich sanktioniert werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 - 2 WD 1.21 - juris Rn. 28 m. w. N.). Dies ist bei einer vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB der Fall.
Rz. 62
Nicht hingegen hat sich der frühere Soldat nach § 30 Abs. 1 WStG strafbar gemacht, der den erhöhten Schutz des Untergebenen gegen die missbräuchliche Ausnutzung der dem Vorgesetzten anvertrauten Gewalt bezweckt (vgl. BGH, Urteil vom 7. April 1970 - 1 StR 487/69 - NJW 1970, 1332). Er gilt nach § 36 Abs. 1 WStG entsprechend für Taten eines Soldaten, der zur Zeit der Tat nicht Vorgesetzter eines anderen, aber Offizier oder Unteroffizier ist und einen höheren Dienstgrad als der andere hat (Nr. 1) oder im Dienst dessen Vorgesetzter ist (Nr. 2). Ferner muss dieser bei der Tat seine Dienststellung missbraucht haben. Zwar war der frühere Soldat Stabsunteroffizier und hatte einen höheren Dienstgrad als der Hauptgefreite C und war zudem im Dienst dessen Vorgesetzter. Er hat aber bei der Tat nicht - wie es § 36 Abs. 1 WStG sowohl für Nr. 1 als auch für Nr. 2 voraussetzt (vgl. BT-Drs. 2/3040 S. 40) - seine Dienststellung missbraucht. Vielmehr handelte es sich um eine Affekthandlung des früheren Soldaten im alkoholisierten Zustand im Verlauf eines außerdienstlichen Streitgesprächs (vgl. OVG Saarland, Beschluss vom 10. Juni 2020 - 1 A 353/18 - juris Rn. 17).
Rz. 63
(3) Ein Verstoß gegen die Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG) liegt nicht vor. Denn bei der außerdienstlichen Streitigkeit bestand kein "Verhältnis der besonderen militärischen Unterordnung", aus dem sich eine Fürsorgepflicht des früheren Soldaten als Vorgesetztem ableiten ließe (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 - 2 WD 1.21 - juris Rn. 30).
Rz. 64
(4) Ebenso wenig hat der frühere Soldat gegen die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) verstoßen. Denn § 17 Abs. 2 Satz 3 SG bildet eine abschließende Regelung für Verfehlungen strafrechtlichen Gehalts außerhalb des Dienstes (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2022 - 2 WD 2.21 - juris Rn. 29 m. w. N.).
Rz. 65
bb) Mit der Bezeichnung des unbekannten Kinobesuchers als "Hurensohn" und der Äußerung, er solle "seine Mutter ficken" hat der frühere Soldat zum einen gegen die Zurückhaltungspflicht nach § 10 Abs. 6 SG verstoßen. Danach haben Offiziere und Unteroffiziere auch außerhalb des Dienstes bei ihren Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um ihr Vertrauen als Vorgesetzte zu erhalten. Auch handelte es sich um Äußerungen, die Untergebenen - nämlich den anwesenden, dienstgradniedrigeren Zeugen C und E - zu Gehör kommen und zudem - da die Worte in einem gefüllten Kinosaal fielen - in die Öffentlichkeit dringen konnten (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2008 - 2 WD 1.08 - BVerwGE 132, 179 Rn. 34). Zum anderen ging damit eine vorsätzliche Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 SG einher. Zwar ermöglicht der Strafrahmen der Beleidigung (§ 185 StGB) keine Verhängung einer Freiheitsstrafe im mittleren Bereich. In einem solchen Fall bedarf es zur Begründung einer allein aus Zweifeln an der Rechtstreue des Soldaten resultierenden Disziplinarwürdigkeit einer außerdienstlichen Straftat zusätzlicher Umstände (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2020 - 2 WD 2.19 - Buchholz 450.2 § 18 WDO 2002 Nr. 1 Rn. 21). Solche bestehen hier darin, dass die Beleidigung im Beisein mehrerer Kameraden erfolgte und ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zum körperlichen Übergriff auf den Kameraden C besteht.
Rz. 66
3. Bei Art und Maß der zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des früheren Soldaten zu berücksichtigen. Insoweit legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde:
Rz. 67
a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle und im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die betreffende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Diese besteht sowohl für die sexuelle Belästigung der Schülerpraktikantin als auch für die außerdienstliche Körperverletzung der festgestellten Art in einer Dienstgradherabsetzung.
Rz. 68
aa) Bei sexuellen Belästigungen von Untergebenen im Dienst ist regelmäßig eine Herabsetzung im Dienstgrad Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 WD 15.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 91 Rn. 35 m. w. N.). Entsprechendes gilt bei sexuellen Belästigungen von dienstlich unterstellten Zivilbediensteten (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1998 - 2 WD 12.98 - BVerwGE 113, 290 ≪293≫). Denn zur Funktionsfähigkeit der Bundeswehr trägt nicht nur die integre Kameradschaft der Soldaten, sondern auch die reibungslose und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr bei (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Februar 2000 - 2 WD 30.99 - juris Rn. 6).
Rz. 69
Derselbe Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ist für eine sexuelle Belästigung eines zivilen Schülerpraktikanten der Bundeswehr durch einen Soldaten im Dienst angezeigt. Zwar ist damit weder eine Kameradschaftspflichtverletzung verbunden noch wird dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Soldaten und regelbeschäftigten zivilen Mitarbeitern beeinträchtigt. Jedoch unterfallen bei der Bundeswehr beschäftigte Schülerpraktikanten aus den zuvor dargelegten Gründen gleichermaßen wie dort regelbeschäftigte zivile Mitarbeiter dem Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Sie verfügen zudem in aller Regel - wie Rekruten - weder über Erfahrungen mit den Schutzmechanismen gegen Übergriffe noch über ein hinreichendes Selbstbewusstsein zur Durchsetzung ihrer Rechte. Mit den Möglichkeiten, sich gegen Fehlverhalten zur Wehr zu setzen, sind sie noch nicht vertraut und durch die Sorge über etwaige nachteilige Folgen einer Meldung leicht einzuschüchtern (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 72 Rn. 36 zu Rekruten). Dies rechtfertigt es, denselben Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen wie bei sexuellen Belästigungen von Kameraden und regelbeschäftigten Zivilbediensteten anzusetzen.
Rz. 70
bb) Bei außerdienstlichen vorsätzlichen Körperverletzungen ist eine Herabsetzung im Dienstgrad Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen, wenn eine brutale körperliche Misshandlung im Sinne der §§ 224 bis 227 StGB vorliegt. Dasselbe gilt, wenn in der Verletzungshandlung in der Intensität der Schutzgutverletzung eine kriminelle Energie zum Ausdruck kommt, die mit derjenigen einer gefährlichen Körperverletzung vergleichbar ist und die wegen des Maßes an Disziplinlosigkeit in vergleichbarer Weise Zweifel an der Integrität eines Soldaten weckt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 - 2 WD 1.21 - juris Rn. 33 m. w. N.). Ein solcher Fall liegt hier vor. In dem mehrfachen Zuschlagen mit der Faust, dem "In-den-Schwitzkasten-Nehmen" und dem Beißen, infolge derer das Opfer mehrfach vor Ort zusammenbrach und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, kommt eine kriminelle Energie zum Ausdruck, die mit derjenigen einer gefährlichen Körperverletzung vergleichbar ist.
Rz. 71
b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung der Regelmaßnahme gebieten. Liegt angesichts der be- und entlastenden Umstände ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach "oben" bzw. nach "unten" zu modifizieren. Zusätzlich sind die gesetzlichen Bemessungskriterien für die Bestimmung der konkreten Situation zu gewichten, wenn die Maßnahmeart, die den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet, dem Wehrdienstgericht hinsichtlich des Disziplinarmaßes einen Spielraum eröffnet. Danach ist eine Herabsetzung des früheren Soldaten in den Dienstgrad eines Oberstabsgefreiten der Reserve angezeigt.
Rz. 72
aa) Zu seinen Lasten fallen folgende Umstände ins Gewicht:
Rz. 73
(1) Das gemäß § 18 Abs. 2 WDO einheitlich zu ahndende Dienstvergehen wiegt nach Art und Schwere sehr schwer. Denn mit der sexuellen Belästigung der Schülerpraktikantin und der brutalen Körperverletzung hat der frühere Soldat zwei Taten begangen, die jeweils schon für sich genommen im Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen eine Dienstgradherabsetzung rechtfertigen. Zwar bewegt sich die sexuelle Belästigung nach der Art der Tathandlungen vergleichsweise in einem weniger schwerwiegenden Bereich. Jedoch wirkt insoweit erschwerend, dass die Schülerpraktikantin erst 14 Jahre alt und daher in besonderem Maße schutzbedürftig war. Hinsichtlich der schwerwiegenden Körperverletzung fällt erschwerend ins Gewicht, dass sie sich gegen einen Kameraden richtete, der im Dienst der Untergebene des früheren Soldaten war und ihn kameradschaftlich von einer tätlichen Auseinandersetzung mit dem Kinopersonal abhalten wollte. Hinzu treten noch die Beleidigungen des unbekannten Kinobesuchers.
Rz. 74
(2) Weiter erschwerend fällt ins Gewicht, dass der frühere Soldat zu den Tatzeiten wegen seines Dienstgrads als Unteroffizier bzw. Stabsunteroffizier eine Vorgesetztenstellung inne hatte (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 SG i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 VorgV). Nach § 10 SG war er damit zu vorbildlicher Pflichterfüllung verpflichtet. Wer in dieser Stellung eine Pflichtverletzung begeht, gibt ein schlechtes Vorbild ab, was das Gewicht seines Dienstvergehens erhöht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2020 - 2 WD 20.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 84 Rn. 40 m. w. N.). Dies gilt auch bei außerdienstlichem strafbaren Fehlverhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 2020 - 2 WD 10.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 77 Rn. 27 m. w. N.).
Rz. 75
(3) Gegen den früheren Soldaten spricht des Weiteren, dass er, nachdem ihm am 18. Januar 2017 wegen des Vorfalls betreffend die Schülerpraktikantin ein disziplinarischer Verweis erteilt worden war, zehneinhalb Monate später mit dem Anschuldigungspunkt 2 erneut auffällig wurde. Dies zeigt, dass er selbst unter dem Eindruck einer noch nicht lange zurückliegenden disziplinarischen Ahndung nicht gewillt war, sich dienstgetreu zu verhalten.
Rz. 76
(4) Zudem hatte das Dienstvergehen nachteilige Auswirkungen für die Betroffenen und den Dienstherrn. Der Zeuge Hauptgefreiter C trug so schwere Verletzungen davon, dass ihm im Krankenhaus ein stationärer Aufenthalt empfohlen wurde. Die Zeugin A brach infolge des Vorfalls ihr Schülerpraktikum ab und sah sich nicht mehr in der Lage, ein Ersatzpraktikum durchzuführen. Beide Vorfälle warfen zudem ein denkbar schlechtes Licht auf die Bundeswehr (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 72 Rn. 38). Die sexuelle Belästigung wurde der Schule des Opfers gemeldet. Der Vorfall im Kino musste durch einen Feldjägereinsatz beendet werden, wodurch die Bundeswehrzugehörigkeit des früheren Soldaten erkennbar wurde.
Rz. 77
bb) Demgegenüber sind zu Gunsten des früheren Soldaten folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen, dass er sich bei seinem Kameraden für den Übergriff entschuldigt und unter Berücksichtigung dessen, dass er in seiner letzten Verwendung fachfremd eingesetzt war, durchweg gute und zuverlässige dienstliche Leistungen erbracht hat. Dies ergibt sich aus der erstinstanzlichen Aussage von Hauptmann S, der Sonderbeurteilung vom 23. September 2021 und den Aussagen von Oberfeldarzt d.R. Dr. H und Oberstarzt Dr. R in der Berufungshauptverhandlung.
Rz. 78
cc) Weitere mildernde Umstände sind indes nicht ersichtlich. Insbesondere ist es nicht mildernd zu berücksichtigen, dass der frühere Soldat beim Vorfall im Kino erheblich alkoholisiert war. Zwar wäre die enthemmende Wirkung einer Alkoholisierung auch bereits im Vorstadium des § 21 StGB schuldmildernd zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2013 - 2 WD 25.11 - juris Rn. 74), wenn der frühere Soldat wegen einer Alkoholerkrankung schuldlos Alkohol konsumiert und wegen dieses Zustandes das Dienstvergehen begangen hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Juni 2019 - 2 WD 21.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn. 35). Da Hinweise auf eine Alkoholerkrankung jedoch nicht vorliegen, verbleibt es bei dem Grundsatz, dass ein Soldat, der sich schuldhaft - also fahrlässig oder vorsätzlich - alkoholisiert und sich damit in einen zum Dienstvergehen führenden Zustand versetzt, dafür verantwortlich bleibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2022 - 2 WD 2.21 - juris Rn. 43).
Rz. 79
dd) Bei einer Gesamtwürdigung der für und gegen den früheren Soldaten sprechenden Umstände wäre an sich wegen der doppelten Verwirkung der Regelmaßnahme einer Degradierung und der deutlich überwiegenden nachteiligen Gesichtspunkte eine Herabsetzung um drei Dienstgrade in den Dienstgrad eines Stabsgefreiten der Reserve angezeigt. Denn eine Herabsetzung in einen der beiden mit § 11 der Verordnung zur Änderung des Dienstrechts der Soldatinnen und Soldaten vom 28. Mai 2021 (BGBl. I S. 1228) neu eingeführten, nunmehr obersten beiden Mannschaftsdienstgrade des Stabskorporals und des Korporals ist ausgeschlossen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Juli 2021 - 2 WD 22.20 - juris Rn. 36).
Rz. 80
ee) Die unangemessene Dauer des Disziplinarverfahrens mit einer ungerechtfertigten Überlänge von zwei Jahren und einem Monat gebietet es jedoch, ihn um eine Stufe weniger in den Dienstgrad eines Oberstabsgefreiten der Reserve herabzusetzen.
Rz. 81
In Fällen, in denen - wie hier - eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme geboten ist, ist eine gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßende, unangemessene Verfahrensdauer bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit mildernd zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2020 - 2 WD 18.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 82 Rn. 75 m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann der für die Verfahrensdauer maßgebliche Zeitraum ein behördliches Vorschaltverfahren umfassen (vgl. nur EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04, Bayer/Deutschland - NVwZ 2010, 1015 Rn. 44).
Rz. 82
(1) Zwar war das danach zu berücksichtigende Vorermittlungsverfahren nicht überlang. Bei der Bestimmung der Überlänge des Einleitungsverfahrens ist zum einen zu berücksichtigen, dass der Wehrdisziplinaranwaltschaft für die erforderlichen Beteiligungen und die Anhörung des Betroffenen (§ 93 Abs. 1 Satz 2 WDO) ein angemessener Bearbeitungszeitraum von drei Monaten einzuräumen ist. Zum anderen muss eingestellt werden, dass sie bei früherer Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens gehalten gewesen wäre, es im Hinblick auf die laufenden strafrechtlichen Verfahren nach § 83 WDO vorläufig auszusetzen, bis die Sachaufklärung gesichert war (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Oktober 2021 - 2 WD 26.20 - juris Rn. 54). Vorliegend war die Sachaufklärung zum Anschuldigungspunkt 2 jedenfalls nicht vor Kenntniserlangung der Wehrdisziplinaranwaltschaft am 29. November 2018 von der Einstellung des sachgleichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens vom 22. November 2017 gesichert. Dementsprechend sind die bis dahin eingetretenen Verzögerungen nicht zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Oktober 2019 - 2 WD 25.18 - juris Rn. 25 und vom 14. Oktober 2021 - 2 WD 26.20 - juris Rn. 54). Ab diesem Zeitpunkt sind bis zur Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens knapp drei Monate vergangen.
Rz. 83
(2) Auch kann sich der frühere Soldat nicht darauf berufen, dass der anschließende Zeitraum zwischen der Zustellung der Einleitungsverfügung an ihn und dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht unangemessen lang war. Denn er hat in diesem Verfahrensstadium keinen Antrag beim Truppendienstgericht nach § 101 Abs. 1 Satz 1 WDO gestellt, um auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04, Bayer/Deutschland - NVwZ 2010, 1015 Rn. 51; BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - BVerwGE 166, 189 Rn. 42).
Rz. 84
(3) Jedoch weist das gut drei Jahre und einen Monat lange erstinstanzliche Verfahren eine nicht gerechtfertigte Überlänge von etwa zwei Jahren und einem Monat auf. Zwar hatte es durch die Notwendigkeit einer Zeugenvernehmung zu beiden Tatkomplexen in tatsächlicher Hinsicht einen leicht überdurchschnittlichen Schweregrad. Da es aber wegen der im Raum stehenden Degradierung für den früheren Soldaten von erheblicher Bedeutung war, wäre aber eine Erledigung bei einem normalen Geschäftsgang binnen eines Jahres angezeigt gewesen. Sachliche Gründe für die Verzögerung ergeben sich aus den Akten nicht. Von der Verfahrensüberlänge von zwei Jahren und zwei Monaten sind auch keine Zeiträume wegen Verzögerungen aufgrund der Covid-19-Pandemie abzuziehen. Denn wäre das erstinstanzliche Verfahren binnen eines Jahres, also lange vor Beginn der Covid-19-Pandemie abgeschlossen worden, wäre es auch nicht zu den nachfolgenden Verzögerungen aufgrund der Pandemie gekommen, zumal der ursprünglich auf den 18. März 2020 - zu Beginn des ersten Lockdowns - anberaumte Hauptverhandlungstermin noch stattfand und er wegen einer dem Staat zuzurechnenden fehlerhaften Besetzung des Gerichts nicht abschließend durchgeführt werden konnte.
Rz. 85
4. Da das gerichtliche Disziplinarverfahren zur Verhängung einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme führt, ist der Verweis nach § 96 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 WDO aufzuheben.
Rz. 86
5. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der erstinstanzlichen Kosten auf § 138 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 und § 140 Abs. 2 Satz 1 WDO und bezüglich der zweitinstanzlichen Kosten auf § 139 Abs. 3, § 140 Abs. 5 Satz 1 WDO. Da das mit der Berufung angestrebte Ziel einer mehrstufigen Dienstgradherabsetzung erreicht wurde, ist es ungeachtet dessen, dass die Berufung hinsichtlich der beantragten Degradierungstiefe nicht vollumfänglich Erfolg hat, nicht unbillig, die Kosten des Berufungsverfahrens insgesamt dem früheren Soldaten aufzuerlegen.
Fundstellen
Haufe-Index 15331558 |
JZ 2022, 590 |
NPA 2023 |