Entscheidungsstichwort (Thema)
Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Fortsetzungsfeststellungsklage. Rückforderung zu viel gezahlter Dienstbezüge
Leitsatz (amtlich)
Ein Verwaltungsakt, dessen Rechtswidrigkeit durch rechtskräftiges Urteil nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO festgestellt worden ist, entfaltet keine Regelungswirkung (Fortentwicklung von BVerwGE 105, 370).
Normenkette
BBesG § 12 Abs. 2; VwGO § 113 Abs. 1 S. 4, § 121
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 16.06.2000; Aktenzeichen 12 A 2624/98) |
VG Köln (Entscheidung vom 11.03.1998; Aktenzeichen 3 K 785/94) |
Tenor
Die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 2000 und des Verwaltungsgerichts Köln vom 11. März 1998 sowie die Bescheide der Beklagten vom 1. Oktober 1993, 11. Januar 1994 und 2. März 1998 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung von Bezügen, die dem Kläger für die Zeit von September 1982 bis Juli 1987 gezahlt worden sind.
Mit Bescheid vom 30. April 1982 teilte der Stadtdirektor der Beklagten dem Kläger mit, dass der Stadtrat ihn aus dem Amt des Ersten Beigeordneten abberufen habe und er damit in den einstweiligen Ruhestand getreten sei. Auf die vom Kläger erhobene Klage stellte das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 16. September 1986 – 12 A 821/85 – fest, dass der Bescheid vom 30. April 1982 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 4. Januar 1983 rechtswidrig gewesen ist.
In der Folgezeit teilte die Beklagte dem Kläger mit, es sei ein „Selbstverständnis”, dass er so gestellt werde, als sei er nicht abberufen worden, informierte ihn über die Berechnung des nachzuzahlenden Betrages, zahlte rund 88 000 DM nach und ab Mai 1987 laufende Dienstbezüge.
Mit Bescheiden vom 1. Oktober 1993 und 2. März 1998 forderte die Beklagte die geleisteten Beträge, aus Gründen der Billigkeit vermindert um 20 v.H., zurück.
Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt: Die zurückgeforderten Bezüge seien im Sinne des § 12 Abs. 2 BBesG „zu viel” gezahlt worden. Durch den Bescheid vom 30. April 1982 sei das Beamtenverhältnis des Klägers beendet worden. Der Wirksamkeit dieses Bescheides stehe nicht entgegen, dass seine Rechtswidrigkeit durch das Urteil vom 16. September 1986 rechtskräftig festgestellt worden sei. Es sei nicht gerechtfertigt, einer gerichtlichen Feststellung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eine Wirkung beizulegen, die der eines kassatorischen Urteils gleichkomme. Auf den Wegfall der Bereicherung könne sich der Kläger nicht berufen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom erkennenden Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 2000 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 11. März 1998 sowie die Bescheide der Beklagten vom 1. Oktober 1993, 11. Januar 1994 und 2. März 1998 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt revisibles Recht. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht in den Beträgen, die dem Kläger als Dienstbezüge für die Zeit September 1982 bis April 1987 nach- und von Mai bis Juli 1987 laufend gezahlt worden sind, „zu viel” gezahlte Bezüge gesehen.
Die Bezüge sind nicht „zu viel” gezahlt worden. Rechtsgrund für ihre Zahlung ist § 3 Abs. 1 Satz 1 BBesG, wonach Beamte, Richter und Soldaten Anspruch auf Besoldung haben. Der Kläger war während des Zeitraums, für den die Beklagte die Bezüge geleistet hat, Beamter auf Zeit der Beklagten. Der Bescheid vom 30. April 1982 hat das Beamtenverhältnis des Klägers nicht beendet und den Kläger nicht in den einstweiligen Ruhestand treten lassen. Die entscheidungstragende Annahme des Berufungsgerichts, der Bescheid vom 30. April 1982 sei ungeachtet seiner rechtskräftig festgestellten Rechtswidrigkeit ein wirksamer Verwaltungsakt mit der Folge, dass aufgrund der in ihm getroffenen Regelung das Beamtenverhältnis des Klägers beendet worden sei, ist unrichtig. Die in Rechtskraft erwachsene Feststellung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 16. September 1986 – 12 A 821/85 –, dass der Bescheid der Beklagten vom 30. April 1982 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 4. Januar 1983 rechtswidrig gewesen ist, bewirkt, dass dieser Bescheid keine Regelungswirkung entfaltet.
Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Streitgegenstand ist die vom Kläger behauptete Rechtsfolge als Ergebnis der Subsumtion des Sachverhalts unter das Gesetz. Streitgegenstand einer Klage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist die Behauptung des Klägers, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig gewesen. Damit ist Gegenstand der materiellen Rechtskraft eines Urteils, das einem Begehren nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO stattgibt, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes.
Aufgrund einer derartigen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung ist nicht mehr der Regelungsgehalt des rechtskräftig als rechtswidrig festgestellten Verwaltungsaktes rechtlich maßgebend, sondern die Rechtslage, die ohne ihn besteht (vgl. Urteil vom 20. November 1997 – BVerwG 5 C 1.96 – BVerwGE 105, 370 ≪373≫). Ob dies mit dem 5. Senat daraus hergeleitet werden kann, dass Gegenstand der rechtskräftigen Feststellung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO auch die Erledigung des angefochtenen Verwaltungsaktes ist, so dass auch diese und damit gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG die Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes mit Maßgeblichkeit feststeht, erscheint allerdings zweifelhaft. Die Erledigung des Verwaltungsaktes ist Sachentscheidungsvoraussetzung für ein Urteil nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO; die Rechtskraft erstreckt sich aber gewöhnlich nicht auf das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen. Dem braucht aber im Einzelnen nicht weiter nachgegangen zu werden. Denn dass nach einer rechtskräftigen gerichtlichen Feststellung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht mehr die im Verwaltungsakt getroffene Regelung die Rechtsbeziehungen der Beteiligten bestimmt, stellt unabhängig von den Gründen, die der 5. Senat angeführt hat, eine Wirkung der Rechtskraft des Urteils dar.
Als präjudizielle Bindung wirkt sich die Rechtskraft eines Urteils in einem zweiten Prozess, in dem die rechtskräftig entschiedene Frage vorgreiflich für die Beurteilung des nunmehr zur Entscheidung stehenden Rechtsverhältnisses ist, in der Weise aus, dass das rechtskräftige Urteil ohne Sachprüfung der Entscheidung in dem zweiten Verfahren zugrunde zu legen ist (Urteil vom 10. Mai 1994 – BVerwG 9 C 501.93 – BVerwGE 96, 24 ≪25≫ m.w.N.). Ob Vorgreiflichkeit besteht, richtet sich zum einen nach dem Umfang der Rechtskraft der Entscheidung im Vorprozess, was sich wiederum nach dem Streitgegenstand dieses damaligen Prozesses bestimmt. Zum anderen hängt dies davon ab, ob die rechtskräftige Vorentscheidung ein Element liefert, das nach der einschlägigen materiellrechtlichen Norm notwendig ist für den Subsumtionsschluss, der zu der im zweiten Prozess beanspruchten Rechtsfolge führt.
Vorgreiflich für den Anspruch des Klägers auf die zurückgeforderten Bezüge ist die nicht (mehr) bezweifelbare Rechtswidrigkeit des im Bescheid vom 30. April 1982 konkretisierten Eingriffs in die Rechtssphäre des Klägers. Diese Rechtswidrigkeit steht aufgrund des Urteils des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. September 1986 zwischen den Prozessbeteiligten fest. Der Streitgegenstand jenes Verfahrens, die Rechtsbehauptung des Klägers, der Verwaltungsakt vom 30. April 1982 sei rechtswidrig gewesen, deckt sich weitgehend mit demjenigen der Anfechtungsklage, ist in diesem „subsidiär” enthalten (vgl. Urteil vom 24. Januar 1992 – BVerwG 7 C 24.91 – BVerwGE 89, 354 ≪355≫). Er besteht in der Rechtsbehauptung, der angefochtene Verwaltungsakt sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten (Urteil vom 21. Januar 1993 – BVerwG 3 C 34.90 – BVerwGE 91, 256 ≪257≫).
Die dem Fortsetzungsfeststellungsurteil ebenso wie dem Anfechtungsurteil eigene rechtskraftfähige Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nimmt an der präjudiziellen Wirkung des Urteils teil (vgl. Urteil vom 16. Oktober 1987 – BVerwG 4 C 35.85 – Buchholz 406.11 § 15 BBauG Nr. 4 S. 3; Beschluss vom 9. Februar 2000 – BVerwG 4 B 11.00 – Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 78 S. 3). Deshalb darf in anderen Entscheidungszusammenhängen, in denen die Rechtswidrigkeit der Abberufung des Klägers aus seinem kommunalen Amt von Bedeutung ist, hierüber nicht abweichend geurteilt werden. Die Behörde darf sich mit ihrem weiteren Verhalten nicht in Widerspruch zu der rechtskräftigen Feststellung setzen. Da der Rechtsschutz mittels eines Urteils nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO funktionsgleich mit dem Rechtsschutz ist, der mit einem Aufhebungsurteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegen eine Inanspruchnahme aus einem rechtswidrigen Verwaltungsakt erreicht wird (vgl. Urteil vom 20. November 1997 – BVerwG 5 C 1.96 – a.a.O.), hindert die Präjudizialität der Rechtswidrigkeitsfeststellung vom 16. September 1986 die Beklagte, aus dem für rechtswidrig erklärten Verwaltungsakt gegen den Kläger einen Anspruch herzuleiten, dessen Voraussetzungen mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftig verneint worden sind.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, mangels Kassation des Bescheides vom 30. April 1982 durch das rechtskräftige Urteil habe dieser keinesfalls nichtige Verwaltungsakt, möge er auch rechtswidrig sein, das Zeitbeamtenverhältnis des Klägers beendet. Zwar hängt die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes nicht prinzipiell von seiner Rechtmäßigkeit ab (vgl. § 43 VwVfG). Denn der Verwaltungsakt stellt eine autoritative Entscheidung über die Anwendung des objektiven Rechts auf einen Einzelfall dar. Auf die Geltung dieser Entscheidung soll aus Gründen der Rechtssicherheit solange vertraut werden können, als der Verwaltungsakt lediglich potenziell rechtswidrig ist und sich nicht aufgrund einer Prüfung durch ein Gericht als rechtswidrig erwiesen hat. Die Wirksamkeit eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes ist deshalb im Fall seiner späteren Beanstandung als rechtswidrig durch ein Gericht von vornherein nur eine vorläufige. Steht aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung fest, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, ist für die Annahme, er sei dennoch wirksam und zeitige folglich Regelungswirkungen, kein Raum mehr. Nach der Verfassungsordnung des Grundgesetzes obliegt es vorrangig den Gerichten, die Rechtsordnung durch die letztverbindliche Entscheidung dessen, was im konkreten Fall rechtens ist, zu sichern (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪269 ff.≫). Sinn der materiellen Rechtskraft ist es, in den sachlichen und zeitlichen Grenzen des Entscheidungsgegenstandes Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten zu stiften. Für verwaltungsgerichtliche Urteile bedeutet dies, dass ihre materielle Rechtskraft auch das Verhalten des Hoheitsträgers für die Zukunft bindet. Hierfür macht es keinen Unterschied, ob dessen Verwaltungsakt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO kassiert wird oder ob nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO seine Rechtswidrigkeit festgestellt wird. Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 2 GG bewirkt auch im zweiten Fall, dass sie aus dem rechtswidrigen Verwaltungsakt keinerlei für den Betroffenen belastende Folgen mehr herleiten darf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Dr. Silberkuhl, Dawin, Dr. Kugele, Groepper, Dr. Bayer
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 31.01.2002 durch Schütz Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BVerwGE, 1 |
NVwZ 2002, 853 |
ZAP 2002, 746 |
ZBR 2003, 102 |
ZTR 2002, 351 |
DÖD 2002, 170 |
DÖV 2002, 864 |
JZ 2003, 45 |
ZfSH/SGB 2002, 475 |
DVBl. 2002, 1219 |
IÖD 2002, 150 |
JURAtelegramm 2003, 82 |
NWVBl. 2002, 425 |