Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 2
Die Vorschrift des § 2072 BGB betrifft alle Erbeinsetzungen, Vor-, Nacherben- und Ersatzerbeneinsetzungen, desgleichen Vermächtnisse. Wird ein Erbe oder Vermächtnisnehmer hingegen mit einer Zweckauflage beschwert, findet § 2072 BGB keine Anwendung. Eine letztwillige Verfügung, in welcher die Armen bedacht sind, wird durch die Auslegungsregel des § 2072 BGB in mehrfacher Hinsicht näher bestimmt.
I. Öffentliche Armenkasse der Gemeinde
Rz. 3
Mit der vorgenannten Bezeichnung ist die öffentliche Armenkasse der Gemeinde gemeint. Die Funktion dieser Organisation wird vom örtlichen Träger der Sozialhilfe wahrgenommen. Nach den §§ 3 Abs. 2, 97 SGB XII handelt es sich hierbei um die kreisfreien Städte und die Landkreise, es sei denn, aufgrund Landesrechts sind kreisangehörige Gemeinden oder Gemeindesverbände zu örtlichen Trägern bestimmt, § 3 Abs. 2 S. 1 SGB XII. Nach der Rspr. des RG wurde die Zuwendung von Zinsen dahingehend ausgelegt, dass auch das Kapital selbst als der Armenkasse zugewendet gilt. Das Kapital ist allerdings nach der vom Erblasser festgelegten Verteilungsbeschränkung zu verteilen.
II. Letzter Wohnsitz des Erblassers
Rz. 4
Gem. § 2072 BGB soll im Zweifel diejenige Armenkasse als bedacht angesehen werden, in deren Bezirk der Erblasser seinen letzten Wohnsitz hatte. Da der Erblasser die Gegebenheiten an seinem letzten Wohnsitz i.d.R. am besten kennt, entspricht es am ehesten seinem Willen, die entsprechende Gemeindekasse zu bedenken. Daher hat der Gesetzgeber diesen letzten Wohnsitz für entscheidend gehalten. Lediglich die individuelle Auslegung kann für den Fall, dass der Erblasser kurz vor seinem Tod seinen Wohnsitz gewechselt hat, zu einem anderen Ergebnis führen. In diesem Falle kann es dem Willen des Erblassers entsprechen, dass er bei Testamentserrichtung gerade die Gemeinde an seinem früheren Wohnsitz bedenken wollte, um seine Verbundenheit zu seinem früheren Wohnsitz zum Ausdruck zu bringen.
Rz. 5
Wenn der Erblasser mehrere Wohnsitze hatte, so ist nach richtiger Ansicht davon auszugehen, dass die Sozialhilfeträger der Wohnsitzgemeinden zu gleichen Teilen bedacht sind. Hierbei sind die Vorschriften der §§ 2091, 2157 BGB heranzuziehen. Nach a.A. jedoch soll der Hauptwohnsitz maßgeblich sein.
Rz. 6
Ist ein letzter Wohnsitz des Erblassers nicht zu ermitteln, herrscht Streit darüber, wer bedacht sein soll. Nach einer Ansicht tritt in diesem Fall anstelle des letzten Wohnsitzes der letzte Aufenthaltsort. Nach a.A. hingegen soll es sich um eine Zuwendung an die bundesweite Organisation der freien Wohlfahrtspflege handeln. Hier ist der erstgenannten Ansicht zu folgen, da es wohl am ehesten dem Erblasserwillen entspricht, die Armen an seinem letzten Aufenthaltsort zu bedenken, da er die Gegebenheiten vor Ort kennen gelernt hat.
III. Auflage
Rz. 7
Da es der Wille des Erblassers ist, dass die Zuwendung den Armen zugutekommt, wird die Armenkasse mit einer Auflage dahingehend beschwert, die Zuwendung unter den Armen zu verteilen. Gem. § 2194 BGB sind sowohl die Erben als auch die zuständige Aufsichtsbehörde des Sozialhilfeträgers aufgrund des bestehenden öffentlichen Interesses als Vollziehungsberechtigte der Auflage anzusehen. Die Armen hingegen sind nicht vollziehungsberechtigt. Gem. § 2193 BGB erfolgt die Verteilung allein nach pflichtgemäßem Ermessen sowie innerhalb des Zuständigkeitsbereichs der bedachten Behörde. Dies bedeutet, dass auch Hilfsbedürftige bedacht werden können, die sich außerhalb des letzten Wohnsitzes des Erblassers aufhalten.