Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 16
Die Tatsache, dass der Pflichtteilsberechtigte keine letztwillige Zuwendung erhalten hat, führt noch nicht zu dem Schluss, dass ein Übergehen i.S.v. § 2079 BGB vorliegt. Wenn sich die Zuwendung nach der gesetzlichen Erbfolge richten soll, liegt ein Übergehen nicht vor. Daher scheidet für den Fall, dass § 2088 BGB zum Tragen kommt und der Pflichtteilsberechtigte auf diesem Wege zu seinem gesetzlichen Erbrecht gelangt, § 2079 BGB aus. Allerdings kann sich in diesem Fall eine Anfechtbarkeit aus § 2078 BGB ergeben.
Rz. 17
Ein Übergehen und damit eine Anfechtungsmöglichkeit nach § 2079 BGB liegt nicht vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte in der letztwilligen Verfügung ausdrücklich enterbt worden ist oder sich aus der letztwilligen Verfügung entnehmen lässt, dass der Wille zur Enterbung gegeben ist. Wurde dem Pflichtteilsberechtigten ein Vermächtnis zugewandt, ist von einem Übergehen ebenfalls nicht auszugehen. Die Höhe der Zuwendung spielt hierbei keine Rolle. Vereinzelt wird die Ansicht vertreten, ganz geringfügige Zuwendungen müssten außer Betracht bleiben. Aufgrund der sich ergebenden Abgrenzungsschwierigkeiten ist diese Ansicht jedoch abzulehnen. Wenn dem Erblasser die Enterbung des Pflichtteilsberechtigten bewusst war, scheidet eine Anfechtung gem. § 2079 BGB aus. Ein Übergehen liegt in diesem Falle ebenfalls nicht vor.
Rz. 18
Die Voraussetzung des Übergehens ist nicht gegeben, wenn der Erblasser Verfügungen getroffen hat und hierbei bereits bedachte, dass infolge einer späteren Eheschließung die zukünftige Ehefrau als Pflichtteilsberechtigte hinzutritt, ebenso wenn der Erblasser ausdrücklich darauf hinweist, dass seine getroffenen Verfügungen auch dann gelten sollen, wenn er weitere Pflichtteilsberechtigte hinterlässt. Hat der Erblasser in seinem Testament seine gesetzlichen Erben bedacht, ist die Verfügung insoweit für das Hinzutreten weiterer Pflichtteilsberechtigter offen, so dass auch dann die Voraussetzung des Übergehens nicht bejaht werden kann. Ein Übergehen liegt auch dann nicht vor, wenn der Erblasser ein Vermächtnis zugunsten eines nicht aus seiner Ehe stammenden Kindes anordnet, das unter dem gesetzlichen Erbteil liegt, die Vaterschaft jedoch erst nach Eintritt des Erbfalls gerichtlich festgestellt wird.
Rz. 19
Führt die Auslegung gem. § 2069 BGB dazu, dass der Pflichtteilsberechtigte im Wege der Ersatzberufung eine Zuwendung erhält, ist ein Übergehen ebenfalls zu verneinen. Ein Pflichtteilsberechtigter ist auch dann nicht übergangen, wenn der Erblasser ein Testament errichtet, in dem er diesen nicht bedacht hat, dieses Testament jedoch später abändert oder zugunsten des Pflichtteilsberechtigten ergänzt. In diesem Falle korrigiert der Erblasser seine Enterbung nachträglich durch die jetzige Zuwendung. Eine Anfechtung gem. § 2079 BGB hinsichtlich des ersten Testaments scheidet aus. Für die Prüfung der Anfechtbarkeit sei zwar zunächst auf die Rechtslage abzustellen, die durch dieses Testament geschaffen worden ist. Das erste Testament könne jedoch nicht isoliert vom zweiten Testament betrachtet werden. Ein Übergehen liegt nur dann vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte in beiden Testamenten nicht bedacht worden ist. Von einem Übergehen ist somit nicht auszugehen, wenn der Pflichtteilsberechtigte mit einem Vermächtnis oder mit einer über seinem gesetzlichen Erbteil liegenden Zuwendung bedacht worden ist.