Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 20
Weitere Voraussetzung ist, dass dem Erblasser bei Errichtung seiner letztwilligen Verfügungen das Pflichtteilsrecht nicht bekannt war. Hierunter fällt der Fall, dass dem Erblasser die Geburt eines Abkömmlings nicht bekannt war oder er subjektiv davon ausging, ein Pflichtteilsberechtigter sei bereits verstorben, auch wenn dies nicht zutreffend ist. Zweifelt der Erblasser jedoch am Weiterleben einer Person, ist dies nicht ausreichend.
Rz. 21
Eine Anfechtbarkeit wird auch dann bejaht, wenn der Erblasser zwar Kenntnis davon hat, dass der Pflichtteilsberechtigte existiert, er aber aufgrund eines Irrtums nicht weiß, dass es sich um einen Pflichtteilsberechtigten handelt, bspw., dass es sein Abkömmling ist. Nach überwiegend vertretener Ansicht kann es sich hierbei um einen Irrtum handeln, der auf der Verkennung tatsächlicher Umstände beruht, aber auch auf rechtlicher Falschbeurteilung. Nach a.A. hingegen ist lediglich ein Tatsachenirrtum beachtlich, nicht hingegen ein Rechtsirrtum. Entscheidend ist allein die Unkenntnis bei Testamentserrichtung.
Rz. 22
Unter § 2079 BGB fällt auch, wenn der Pflichtteilsberechtigte erst nach Errichtung der letztwilligen Verfügung geboren oder erst danach pflichtteilsberechtigt geworden ist. Auch durch Heirat bzw. Eingehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft oder Annahme als Kind kann das Pflichtteilsrecht nachträglich entstehen. Ob der Erblasser die Anfechtbarkeit hierbei willentlich herbeigeführt hat, spielt keine Rolle. Ein willentliches Herbeiführen schließt eine Anfechtbarkeit der letztwilligen Verfügung nicht aus. Hierbei kann man auch nicht davon ausgehen, dass der Erblasser treuwidrig oder gar sittenwidrig gehandelt hat, wenn er bspw. durch Adoption einen Anfechtungstatbestand schafft. Von Sittenwidrigkeit kann hier schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil die Adoption durch Gerichtsbeschluss und nicht durch ein zweiseitiges Rechtsgeschäft erfolgt. Das Gericht hat zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Adoption vorliegen. Liegen sie vor, wird die Annahme ausgesprochen, und hiermit verbunden ist auch die Tatsache, dass man die Anfechtbarkeit gem. § 2079 BGB zu akzeptieren hat. Wird die Annahme als Kind aufgehoben, entstehen hierdurch unter Umständen wieder die Pflichtteilsrechte zu leiblichen Verwandten, so dass § 2079 BGB auch insoweit Anwendung findet. Wurde ein Pflichtteilsverzichtsvertrag abgeschlossen und ist dieser bei Testamentserrichtung gültig, ist es denkbar, dass ein solcher Vertrag entweder aufgehoben oder zu einem späteren Zeitpunkt angefochten wird und so das Pflichtteilsrecht rückwirkend oder für die Zukunft neu begründet wird, was zur Anwendung von § 2079 BGB führt. Unter Umständen kann die Ausübung der Anfechtung im Falle der Adoption dann rechtsmissbräuchlich sein, wenn ein Adoptionsvertrag nur deshalb geschlossen wird, um ein Anfechtungsrecht zu konstruieren. Ein derartiger Vertrag kann nicht Grundlage einer Anfechtung sein. Hingegen genügt es nicht, dass die Entstehung eines Pflichtteilsrechts dafür genutzt wird, sich von einem unerwünschten Erbvertrag zu lösen. Errichtet der Erblasser im Nachhinein eine neue Verfügung von Todes wegen, in der er dem Pflichtteilsberechtigten das gesetzliche Erbrecht entzieht, ist die Anfechtung ebenfalls nicht rechtsmissbräuchlich.
Rz. 23
Wenn dem Erblasser bei Testamentserrichtung die Schwangerschaft seiner Ehefrau bekannt war und er das später geborene Kind nicht bedacht hat, findet § 2079 BGB dennoch Anwendung, da allein die Geburt nach Testamentserrichtung maßgeblich ist. Die Tatsache jedoch, dass der Erblasser Kenntnis von der Schwangerschaft hatte und das Kind dennoch nicht berücksichtigt hat, kann Indiz für die fehlende Erheblichkeit sein. Eine bereits zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung vorhandene Person kann auch dadurch pflichtteilsberechtigt werden, dass Personen, die ihr nach gesetzlicher Erbfolge vorgehen, vor dem Erbfall versterben. In diesem Falle kann die Enterbung einer Person als Enterbung des ganzen Stammes auszulegen sein, was dazu führt, dass die Abkömmlinge dieses Kindes nicht als übergangen i.S.v. § 2079 BGB anzusehen sind, sondern bewusst ausgeschlossen worden sind. Für den Fall jedoch, dass sich der Ausschluss nur auf die Person des vorrangig pflichtteilsberechtigten Abkömmlings bezieht, ist entscheidend, ob die Abkömmlinge des ausgeschlossenen Abkömmlings zur gesetzlichen Erbfolge gelangen oder ob der Erblasser durch anderweitige Erbeinsetzung über die ganze Erbschaft verfügt hat.
Beispiel
Der Erblasser setzt seine Ehefrau und seinen Sohn zu Erben zu unter sich gleichen Teilen ein. Daneben gibt es noch eine zum Zeitpunkt der Erbeinsetzung kinderlose Tochter. Diese wird übergangen aus Gründen, die nur mit der Person der Tochter zusammenhängen. Die Tochter verstirbt vor dem Erbfall und hinterlässt einen Sohn.
Rz. 24
Für diese Konstellation findet § 2079 BGB Anwendung. Es besteht ein Anfechtungsrecht wegen Übergehens eines Pflichtteil...