Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 43
Ziel der ergänzenden Auslegung ist die Vervollständigung einer lückenhaften Regelung in einer Verfügung von Todes wegen. Gegenstand der Ergänzung können sowohl Teile von Verfügungen, wie die Befreiung des Vorerben, als auch ganze Zuwendungen, desgleichen Enterbungen sowie sonstige erbrechtliche Verfügungen sein. Damit die ergänzende Testamentsauslegung zum Zuge kommt, ist daher eine ergänzungsbedürftige Lücke erforderlich. Die Lücke wird in diesem Zusammenhang als eine planwidrige Unvollkommenheit/planwidrige Unvollständigkeit, d.h. das Fehlen einer Regelung, die der Erblasser bei Kenntnis der Sachlage getroffen hätte, irrtumsbedingt aber nicht getroffen hat, definiert. Eine Unvollständigkeit kann sich u.a. dadurch ergeben, dass sich die Verhältnisse nach Testamentserrichtung ändern. Aus diesem Grund kann die vom Erblasser getroffene Verfügung undurchführbar werden oder der vom Erblasser verfolgte Zweck kann nicht mehr erfüllt werden. Die Veränderungen können rein tatsächlicher Art sein oder es kann sich um Veränderungen im Bereich der Rechts- und Wirtschaftsordnung handeln. Für den Fall, dass die Verfügung zwar vollständig ist, jedoch auf einem Irrtum beruht, ist für eine Auslegung kein Raum. Es bleibt hier nur die Anfechtung wegen Motivirrtums (§ 2078 Abs. 2 BGB). Die Anfechtung führt gem. § 142 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit der letztwilligen Verfügung. Daraus folgt, dass der irreale Wille des Erblassers nur negativ, aber nicht positiv berücksichtigt wird. Sinn und Zweck der ergänzenden Auslegung ist es, einen unvollständigen Willen des Erblassers durch seinen irrealen oder hypothetischen Willen, bezogen auf den Zeitpunkt der Testamentserrichtung, zu ergänzen. Demgegenüber dient die einfache Auslegung dazu, den hinter einer Willenserklärung stehenden Willen des Erblassers zu ermitteln (siehe Rdn 24 ff.). Insoweit haben die gesetzlichen Auslegungsregeln der §§ 2068, 2069, 2076, 2101, 2164 Abs. 2, 2169 Abs. 1, 3, 2172 u. 2173 BGB in diesem Sinne ergänzenden Charakter. Es werden verschiedene Arten von Lücken unterschieden.
a) Nachträgliche Lücken
Rz. 44
Man spricht von nachträglichen Lücken, weil in der Zeit zwischen Testamentserrichtung und Eintritt des Erbfalls Veränderungen eingetreten sind, die der Erblasser nicht vorhergesehen oder erwogen hatte. Hat der Erblasser Vor-/Nacherbschaft angeordnet, liegt eine nachträgliche Lücke auch dann vor, wenn Veränderungen zwischen Erb- und Nacherbfall eintreten. Ziel der ergänzenden Testamentsauslegung ist es insbesondere, derartige nachträglich auftretende Lücken im Testament zu schließen. Diese nachträglichen Änderungen können verschiedener Art sein. Zum einen kann es sich um Änderungen rein tatsächlicher Art handeln. Hierunter fällt z.B., dass der Bedachte vorverstirbt, dass es zu Veränderungen im Hinblick auf den vermachten Gegenstand kommt oder auch zu Veränderungen in Bezug auf die Vermögenslage des Erblassers. Es ist aber auch möglich, dass sich ein Gesetz ändert (z.B. Einführung der Zugewinngemeinschaft oder der Erbberechtigung nichtehelicher Kinder), oder aber, dass es zu Änderungen im Hinblick auf die Rechts- und Wirtschaftsordnung kommt (z.B. Währungsreform). Hierunter fällt auch die negative Entwicklung der Beziehung zu einem Begünstigten. Kommt es zu einer Änderung wesentlicher Umstände nach Testamentserrichtung, kann dieser Änderung grundsätzlich nur mit den Mitteln der ergänzenden Auslegung Rechnung getragen werden. Die Regeln über eine Störung der Geschäftsgrundlage (§§ 313 ff. BGB) sind hier nicht anwendbar, da es sich um eine unentgeltliche Zuwendung handelt und nicht um einen gegenseitigen Leistungsaustausch, wie dies im Schuldrecht der Fall ist.