Rz. 6
Problematisch ist, ob eine das Ganze nicht erschöpfende Erbeinsetzung gem. § 2088 BGB auch dann anzunehmen ist, wenn der Erblasser über die ganze Erbschaft verfügt hat, die Verfügung aber teilweise unwirksam ist. Wenn kein Ersatzerbe bestimmt ist (§§ 2096, 2099 BGB), stellt sich die Frage, ob der unwirksam verfügte Erbteil entweder den wirksam eingesetzten Erben nach dem Verhältnis ihrer Erbteile anwächst (§ 2094 BGB) oder sich ihre Bruchteile verhältnismäßig erhöhen (§ 2089 BGB) oder aber hinsichtlich des unwirksam verfügten Erbteils gesetzliche Erbfolge eintritt (§ 2088 BGB). Einigkeit besteht darüber, dass § 2094 BGB anzuwenden ist, wenn die teilweise Unwirksamkeit nicht auf einer Fehlerhaftigkeit der Erbeinsetzung beruht. Es kommt also zur Anwachsung, wenn ein eingesetzter Erbe vor dem Erbfall verstorben ist (oder im Falle des § 1923 Abs. 2 BGB nicht geboren wird), auf die Zuwendung verzichtet (§ 2352 BGB), die Erbschaft ausschlägt oder für erbunwürdig erklärt wird.
Rz. 7
Nach einer verbreiteten Auffassung soll § 2094 BGB statt §§ 2088 oder 2089 BGB auch dann zur Anwendung kommen (analog), wenn die Erbeinsetzung teilweise von Anfang an unwirksam ist, z.B. § 125 BGB i.V.m. §§ 7, 27 BeurkG (Beurkundungsfehler), § 138 BGB (Sittenwidrigkeit) und §§ 2078, 2079 BGB (Anfechtung). Die Vertreter dieser Auffassung stellen auf den mutmaßlichen Willen des Erblassers ab und nehmen an, dass der Erblasser im Regelfall abschließend verfügen wollte, d.h. unter Ausschluss der gesetzlichen Erbfolge. Die mitunter noch als herrschend bezeichnete Gegenmeinung hält § 2094 BGB bei einer von Anfang an unwirksamen Erbeinsetzung dagegen für nicht anwendbar. Wer von Anfang an nicht wirksam als Erbe eingesetzt sei, könne nicht "wegfallen" (§ 2094 BGB). Das Ergebnis der Anwachsung – d.h. keine (partielle) gesetzliche Erbfolge – erreichen die Vertreter der Gegenmeinung über § 2089 BGB. Warum eine partielle gesetzliche Erbfolge ausbleibt, aufgrund Anwachsung (§ 2094 BGB) oder aufgrund Erhöhung der Bruchteile (§ 2089 BGB), ist nicht so sehr entscheidend. Entscheidend ist, ob sie ausbleibt, greift § 2088 BGB oder greift § 2088 BGB nicht? Es kommt im Grunde genommen nur darauf an, ob der Erblasser durch seine Verfügung die gesetzliche Erbfolge ausschließen wollte oder nicht. Eine differenzierende Meinung stellt diese – entscheidende – Frage in den Mittelpunkt: Mit der eingangs beschriebenen Auffassung wird unterstellt, dass der Erblasser in der Regel abschließend verfügen wollte. Ein entsprechender mutmaßlicher Erblasserwille soll allerdings dann nicht gelten, wenn dieser Wille nur aus einer fehlerhaften Grundlage erschlossen werden kann; der mutmaßliche Wille würde dann an eben diesem Fehler leiden und daher keine Rechtswirkungen entfalten können. Dieser Auffassung hat sich der Verfasser mit Übernahme der Kommentierung in der 2. Aufl. 2011 angeschlossen.
Hat der Erblasser bspw. den Notar oder einen seiner Angehörigen (wegen §§ 7, 27 BeurkG) unwirksam bedacht, so steht dieser Beurkundungsfehler der Annahme nicht entgegen, dass die übrigen wirksam berufenen Erben die gesetzliche Erbfolge ausschließen sollen. Ist der bedachte Notar oder sein Angehöriger aber gesetzlicher Erbe, wird es dem mutmaßlichen Erblasserwillen nicht entsprechen, dass die wirksam Berufenen den ganzen Nachlass erhalten.
Rz. 8
Die infolge Anfechtung eintretende Teilnichtigkeit wird vielfach als Wegfall i.S.d. § 2094 BGB gesehen, und zwar auch von den Vertretern, die eine Anwachsung bei anfänglicher Teilnichtigkeit ablehnen. Hiergegen werden nachvollziehbare Bedenken erhoben: Beruht nämlich nicht nur die Erbeinsetzung einer Person, sondern auch der mit ihr verbundene Ausschluss eines gesetzlichen Erben auf einem zur Anfechtung berechtigenden Irrtum, wäre auch ein mutmaßlicher Erblasserwille, wonach der gesamte Nachlass den irrtumsfrei berufenen Erben zufallen soll, ein Produkt dieses Irrtums. In solchen Fällen ohne Weiteres die Anwachsung oder Erhöhung der Bruchteile zuzulassen, hieße den Sinn der Anfechtbarkeit zu verfehlen. Richtigerweise ist bei der Irrtumsanfechtung, wenn die Ausschließung eines gesetzlichen Erben Anfechtungsgrund ist und die Anfechtung nicht die gänzliche, sondern nur die teilweise Nichtigkeit der Erbeinsetzung bewirkt, ein Fall des § 2088 BGB anzunehmen.
Rz. 9
Nach BayObLG ist die Erbeinsetzung eines noch zu errichtenden Pflegeheimes unwirksam. Zu 50 % war eine Stiftung eingesetzt, die anderen 50 % sollten an das noch zu errichtende Pflegeheim gehen. Das Gericht nahm keine Anwachsung (§ 2094 BGB) an, sondern zu 50 % gesetzliche Erbfolge (§ 2088 BGB).