Rz. 4
Die Verzeihung erfordert keine diesbezügliche Willenserklärung (bzw. deren Zugang). Vielmehr erfolgt sie i.d.R. durch tatsächliches Verhalten. Der BGH definiert sie daher als ein kundgetanes Verhalten des Erblassers, die mit der erlittenen Verletzung verbundene Kränkung überwunden zu haben und über sie hinweggehen zu wollen. Dass dem Erblasser dabei der Verlust der Pflichtteilsentziehungsmöglichkeit bewusst ist oder er diesen gar will, ist nicht erforderlich. Es kommt vielmehr lediglich auf die innere Überwindung der Kränkung an. Auf diese Weise hat der nicht mehr gekränkte Erblasser auch nicht die Möglichkeit, den Pflichtteilsberechtigten wegen einer inzwischen nicht mehr wirklich bedeutsamen Angelegenheit unter Druck zu setzen.
Rz. 5
Die angesprochene innere Überwindung des Kränkungsempfindens erfordert nicht unbedingt dessen völligen Wegfall, darf andererseits aber auch nicht mit diesem verwechselt werden. Einerseits kann der Erblasser dem Pflichtteilsberechtigten trotz Fortbestehens des Gefühls der Kränkung verzeihen, sich also mehr oder weniger bewusst über seine Emotionen hinwegsetzen. Andererseits kann der Wegfall des Kränkungsempfindens, der lediglich darauf beruht, dass der Erblasser sich innerlich vollkommen von der Personen des Kränkenden gelöst hat und diese ihm gleichgültig geworden ist, keine innere Überwindung der erlittenen Kränkung darstellen. Eine Verzeihung i.S.d. § 2337 BGB ist in derartigen Fällen nicht anzunehmen.
Rz. 6
Die Wiederherstellung eines innigen Näheverhältnisses, wie es für Eltern und Kinder oder unter Ehegatten – normalerweise – typisch wäre, ist nicht erforderlich. Im ALR (II 2 § 416) war der Fall der "Versöhnung ohne Verzeihung" ausdrücklich geregelt und sollte den Pflichtteilsentzug gerade nicht beseitigen. Getreu dem Schlagwort "Vergessen, aber nicht vergeben" hat diese Regel auch heute noch Gültigkeit. Rein praktisch wird man aber wohl im Regelfall von einer Verzeihung ausgehen müssen, wenn die Beteiligten sich versöhnt haben. Der Vorbehalt, dem Pflichtteilsberechtigten nicht vergeben zu wollen, muss in dieser Situation nämlich ausdrücklich bekundet werden, da ein stillschweigender Vorbehalt nach dem Grundsatz des venire contra factum proprium unbeachtlich wäre.
Da die Verzeihung i.d.R. durch schlüssiges Verhalten bekundet wird, ist die Abgrenzung, wann genau der Erblasser die erlittene Kränkung überwunden hat, nicht immer ganz einfach, da es sich meist um einen längere Zeit andauernden Prozess handelt. In diesem Zusammenhang wurde in der Vergangenheit vor allem die Wiederannäherung mit erkennbarem Entziehungsvorbehalt diskutiert. Bei Inaussichtstellung einer zukünftigen Verzeihung konnte deren spätere Verweigerung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben unzulässig sein. Stellt man aber mit der heute h.M. auf die innere Überwindung der Kränkung ab, dürfte die Verzeihung in derartigen Fällen ohne Rücksicht auf den Fortbestand des Entziehungswillens des Erblassers ohnehin bereits erfolgt sein, so dass es auf § 242 BGB gar nicht mehr ankommen kann.
Rz. 7
Da die Verzeihung, wie bereits gesagt, einen tatsächlichen Vorgang darstellt, ist eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben (Verzeihung kann sich daher auch aus formnichtigem Testament ergeben). Schlüssiges Handeln genügt, wobei nicht einmal erforderlich ist, dass der Pflichtteilsberechtigte hiervon überhaupt weiß. Äußerungen gegenüber Dritten sind bereits ausreichend, wenn aus ihnen erkennbar wird, dass der Erblasser die gestörten Beziehungen als bereinigt ansieht. Vor diesem Hintergrund kommt als konkludente Verzeihung z.B. die Begünstigung des Pflichtteilsberechtigten in einer letztwilligen Verfügung in Betracht, ebenso eine erkennbare Verbesserung des persönlichen Verhältnisses zwischen ihm und dem Erblasser.
Andererseits darf nicht jede Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft gegenüber dem Pflichtteilsberechtigten als Verzeihung gewertet werden. Das kann selbst dann gelten, wenn der Erblasser den Pflichtteilsberechtigten in das in seinem Eigentum stehende Haus einziehen und ihn dort wohnen lässt.
Die Einhaltung der Regeln von Höflichkeit und Anstand kann allein nicht auf eine Verzeihung hindeuten. Schließlich soll der Erblasser nicht um der Aufrechterhaltung der Pflichtteilsentziehung willen gezwungen sein, sich schroff und abweisend zu verhalten, um so den Fortbestand seiner Kränkung zu dokumentieren. Das Verhalten des Erblassers muss darüber hinaus wenigstens eine gewisse Versöhnungsbereitschaft erkennen lassen.
Daher ist auch in dem Absehen von der Stellung eines Strafantrags gegen den Pflichtteilsberechtigten nicht zwingend eine Verzeihung zu sehen (es kann aber ein sein).
Rz. 8
In diesem Zusammenhang ist eine Entscheidung des OLG Hamm besonders erwähnenswert: Der Erblasser hatte einem Pflichtteilsberechtigten wegen vorangegangener Verfehlungen den Pflichtteil entzogen. Als der Pflichtteilsberechtigte sich in einer verzweifelten ...