Rz. 10
Die Verzeihung ist als tatsächliche Handlung weder ein Rechtsgeschäft noch sind die für Rechtsgeschäfte geltenden Regeln entsprechend auf sie anzuwenden. Aus diesem Grunde ist die Geschäftsfähigkeit des Erblassers keine Voraussetzung. Es genügt, wenn er in der Lage ist, die Bedeutung seines Handelns zu erkennen, wobei sich dieses Erfordernis lediglich auf die Art bzw. Ausgestaltung seines Verhältnisses zum Pflichtteilsberechtigten beziehen muss, nicht aber auf die daraus abzuleitenden Rechtsfolgen. Vor diesem Hintergrund kann auch ein Minderjähriger bereits im Sinne des Gesetzes "verzeihen"; Gleiches gilt für unter Betreuung Stehende. Ein Widerruf oder eine Anfechtung wegen Willensmängeln kommt daher mangels Rechtsgeschäftscharakters ebenfalls nicht in Betracht. Ging der Erblasser aber bei seiner Entscheidung, dem Pflichtteilsberechtigten zu verzeihen – und sich dementsprechend zu verhalten – von bestimmten Voraussetzungen aus, die den tatsächlichen Verhältnissen gar nicht entsprachen, stellt sich die Frage, ob von einer inneren Überwindung der erlittenen Kränkung überhaupt gesprochen werden kann. Gerade in Fällen, in denen der Pflichtteilsberechtigte den Erblasser bewusst getäuscht hat, muss davon ausgegangen werden, dass eine Verzeihung trotz eindeutigen Verhaltens des Erblassers nicht vorliegt. Das Gleiche gilt im Ergebnis auch bei so genannter Scheinverzeihung, wenn also Erblasser und Pflichtteilsberechtigter sich – trotz widersprechenden Verhaltens – über den fehlenden Willen zur Verzeihung einig sind. Als plastisches Bsp. für derartige Fälle führt Olshausen das "Schauspiel" des Vaters an, "der am Sterbebett des Großvaters zu dessen Beruhigung die Verzeihung gegenüber seinem, mit solcher Scheinerklärung einverstandenen Sohn ausspricht."
Rz. 11
Obwohl § 116 BGB auf die Verzeihung nicht anzuwenden ist, kann ein geheimer Vorbehalt des Erblassers, die Verzeihung nicht zu wollen, keine Bedeutung erlangen. Insoweit ist – wie oben dargestellt – auf die Grundsätze des venire contra factum proprium zurückzugreifen. Die Zulässigkeit einer bedingten Verzeihung ist umstritten. Während die Befürworter das dem tatsächlichen Verhalten des Erblassers vorgelagerte Willensmoment in den Vordergrund stellen, weist Dieckmann zu Recht darauf hin, dass der Erblasser entweder bis zum Bedingungseintritt nur (grundsätzlich) verzeihungsbereit ist, aber noch nicht verziehen hat, oder die Kränkung zum Zeitpunkt der Erklärung der (bedingten) Verzeihung schon gar nicht mehr besteht, so dass für eine (aufschiebende) Bedingung ohnehin kein Raum mehr ist. Auch wenn seine weiterführende Begründung, der Erblasser dürfe nicht die Möglichkeit eingeräumt bekommen, den Pflichtteilsberechtigten unter einen "sachfremden Druck" zu setzen, wenig überzeugt, ist die Bedingungsfeindlichkeit der Verzeihung auf jeden Fall zu unterstreichen. Denn für die Verzeihung kommt es allein darauf an, dass der Erblasser die erlittene Kränkung überwunden hat. Solange dies (noch) nicht der Fall ist, spielt die Frage, ob bzw. wann er sie überwinden wird, keine Rolle. Die Erwartung einer zukünftig vielleicht möglichen Verzeihung ist pflichtteilsrechtlich irrelevant.