Rz. 12
Die Verzeihung führt nicht nur gem. S. 2 zur Unwirksamkeit einer bereits angeordneten Pflichtteilsentziehung, sondern macht auch eine spätere Entziehung – aus demselben Grund – unmöglich (S. 1), auf den übrigen Inhalt der Entziehungsverfügung wirkt sie sich grundsätzlich nicht aus, § 2085 BGB. Auch die im Regelfall mit der Pflichtteilsentziehung verbundene Enterbung des Pflichtteilsberechtigten wird durch die Verzeihung nicht tangiert. Ausnahmen von dieser Regel sind aber möglich. Hat der Erblasser bspw. eine gar nicht den Tatbestand der §§ 2333–2335 BGB erfüllende Verfehlung mit einer (unwirksamen) Pflichtteilsentziehung geahndet, später aber dem Betroffenen verziehen, kann vom Wegfall der Enterbung auszugehen sein. Dabei ist aber nicht etwa § 2337 BGB auf die Enterbungsverfügung analog anzuwenden; vielmehr resultiert die Zuerkennung des gesetzlichen Erbteils aus dem Gedanken, dass dem Pflichtteilsberechtigten, der sich lediglich minderschwerer Verfehlungen schuldig gemacht hat und dem überdies verziehen wurde, sicherlich mehr als bloß den (ohnehin nicht wirksam entzogenen) Pflichtteil erhalten solle.
Rz. 13
In Ausnahmefällen soll die Verzeihung auch eine Anfechtung des Testaments ermöglichen mit der Folge, dass bspw. die dort ausgesprochene Enterbung des Pflichtteilsberechtigten hinfällig wird. Die entsprechende Verfügung ist aber nicht bereits dann gem. § 2078 Abs. 2 BGB anfechtbar, wenn der Erblasser bei Testamentserrichtung irrig der Meinung war, er werde dem Pflichtteilsberechtigten nie verzeihen können. Denn die Anordnung der Enterbung muss nicht unbedingt auf denselben Gründen beruhen wie die Pflichtteilsentziehung; sie ist auch ohne Begründung möglich.
Rz. 14
Erfolgt die Pflichtteilsentziehung gegenüber einem Abkömmling in einem gemeinschaftlichen Testament, kann der nach dem ersten Erbfall überlebende Ehegatte dem Pflichtteilsberechtigten nur mit Wirkung für den zweiten Erbfall verzeihen. Vor dem Hintergrund, dass die Verzeihung höchstpersönlichen Charakter hat und Stellvertretung ausgeschlossen ist, kommt eine Verzeihung "im Namen" des zuerst verstorbenen Ehegatten nicht in Frage. Die Verzeihung ermöglicht keinen Widerruf wechselbezüglicher Verfügungen nach § 2271 Abs. 2 S. 2 BGB. Andererseits steht der Verzeihung durch den überlebenden Ehegatten keine Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments entgegen, da die Pflichtteilsentziehung keine wechselbezügliche Anordnung i.S.d. § 2270 Abs. 3 BGB darstellt (sie kann auch nicht erbvertraglich bindend vereinbart werden).
Rz. 15
Das Vorliegen der Verzeihung sowie alle damit in Zusammenhang stehenden Umstände hat derjenige zu beweisen, der sich darauf beruft; das ist i.d.R. der Pflichtteilsberechtigte. Es gelten die allg. Grundsätze. Insbesondere wenn sich die Verzeihung aus einer Reihe von Einzelhandlungen ergeben soll, die sich über einen längeren Zeitraum verteilt abgespielt haben, stellt die Führung des Beweises für den Pflichtteilsberechtigten oftmals ein erhebliches Problem dar.