Gesetzestext
Die Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn der Erblasser dem Erbunwürdigen verziehen hat.
A. Allgemeines
Rz. 1
Die Erbunwürdigkeit soll die Verfügungsfreiheit des Erblassers schützen. Da der Erblasser über dieses subjektive Recht disponieren kann, ist auch ein Verzicht auf die ihn schützende Rechtsfolge der Erbunwürdigkeit möglich. Dies geschieht durch die (nachträgliche) Verzeihung.
Die Verzeihung kann auch im Rahmen der Pflichtteilsentziehung (§ 2337 BGB) und des groben Undanks nach einer Schenkung (§ 530 BGB) in Frage kommen, so dass die dazu entwickelten Wertungen grundsätzlich entsprechend herangezogen werden können.
B. Tatbestand
I. Beteiligte
Rz. 2
Die Verzeihung kann nur vom Erblasser persönlich erklärt werden. Eine entsprechende Erklärung des Anfechtungsberechtigten kann zu einem vertragsmäßigen Verzicht des Anfechtungsberechtigten führen (vgl. dazu § 2339 Rdn 33). Die Verzeihung muss auf den Erbunwürdigen bezogen sein, aber nicht unbedingt ihm gegenüber erklärt werden.
II. Verzeihung
1. Rechtsnatur und Definition
Rz. 3
Die Rechtsnatur der Verzeihung ist die gleiche wie in §§ 532, 2337 BGB. Die Verzeihung ist keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung. Sie ist ein "nach außen kundgemachter Entschluss", bei dem eine innere Einstellung wiedergegeben wird.
"Verzeihen heißt, dem Schuldigen zu erkennen geben, dass man aus seiner Tat keine ihm nachteiligen Folgerungen zu ziehen gedenke" lautet die Definition von Kipp/Coing, die sich an den BGH anlehnt, der in Bezug auf § 2337 BGB ausführte: "Die Verzeihung ist der nach außen kundgemachte Entschluss des Erblassers, aus den erfahrenen Kränkungen nichts mehr herleiten und über sie hinweggehen zu wollen."
Der Erblasser kann auch durch sein Verhalten die Verzeihung ausdrücken, etwa durch einen Wandel der Beziehung zu einer familiären Normalität, ohne dass ein inniges Verhältnis vorliegen muss.
2. Gegenstand
Rz. 4
Begrifflich können alle Erbunwürdigkeitsgründe verziehen werden, auch die Tötung, wenn der Erblasser nicht sofort stirbt. Dabei ist aber Verzeihung nur dann anzunehmen, wenn der Erblasser mit seinem Tod als Tatfolge rechnete, also nicht nur einen Tötungsversuch annahm.
3. Voraussetzungen
Rz. 5
Nicht notwendig ist es, dass der Erblasser das Institut der Erbunwürdigkeit kannte. Wenn eine Verzeihung im obigen Sinne vorlag, also der Erblasser für den Schuldigen insgesamt keine nachteiligen Folgerungen mehr wollte, kann die Frage offen bleiben, ob der Erblasser von der Erbenstellung des Schuldigen wusste. Im Zweifel muss der Erblasser bei einer teilweisen Verzeihung einen Vorbehalt ausgedrückt haben (vgl. auch § 2337 Rdn 6).
4. Keine Form
Rz. 6
Die Verzeihung ist an keine Form gebunden. Sie kann ausdrücklich oder stillschweigend zu erkennen gegeben werden (vgl. auch § 2337 Rdn 7).
5. Keine mutmaßliche Verzeihung
Rz. 7
Eine Verzeihung setzt die Kenntnis des Erblassers von der Verfehlung voraus. Exemplarisch ist ein Fall, bei dem der Versuch des Erbunwürdigen in jungen Jahren fehlgeschlagen war, die Erblasserin (Tante) zu vergiften, ohne dass diese hiervon Kenntnis erlangte. Es entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zwischen dem Erbunwürdigen und der Erblasserin ein sehr herzliches Verhältnis. Eine (mutmaßliche) Verzeihung wurde nicht angenommen. Damit wird der Zweck der Erbunwürdigkeit bestätigt, die Testierfreiheit zu schützen. Nur in Kenntnis der wahren Umstände kann der Erblasser verzeihen. Die Reaktion des Erblassers auf eine Offenbarung ist insbesondere bei den zum Teil schwerwiegenden Straftaten nach § 2339 BGB nicht sicher zu antizipieren. Entsprechendes gilt für die Fälle, bei denen ein Testament im mutmaßlichen Sinne des Erblassers gefälscht wird. Das Gut der Testierfreiheit kann nicht ausreichend geschützt werden, wenn nur eine mutmaßliche Verzeihung angenommen werden könnte.
6. "Verzeihung" vor der Tat?
Rz. 8
Nach hier vertretener Ansicht liegen die Voraussetzung des § 2343 BGB vor, wenn der Erblasser seiner Tötung (z.B. aktive, direkte Sterbehilfe, § 216 StGB) durch den Erben zugestimmt hat, auch wenn dies – gebilligt vom Erblasser – gesetzeswidrig war (Verstoß gegen die Vorgaben der §§ 1901a, 1901b BGB). Zwar liegt begrifflich keine "Verzeihung" vor, sondern eine Einwilligung. Der hinter der Strafbarkeit trotz Einwilligung stehende Strafanspruch des Staates überlagert aber nicht den hier entscheidenden, subjektiven Willen des Erblassers hinsichtlich seiner letztwilligen Verfügung. Die Einwilligung muss allerdings tatsächlich und nicht mutmaßlich sein (siehe Rdn 7). Anders sieht dies zumindest grundsätzlich der BGH. Eine Verzeihung sei nur nachträglich möglich. Das ist begrifflich ric...