Rz. 1
§ 9 ErbStG bestimmt konkretisierend – im Vergleich zu § 38 AO spezialgesetzlich – den Zeitpunkt der Steuerentstehung (Besteuerungszeitpunkt). Durch § 9 ErbStG wird im Prinzip die Erbschaft- oder Schenkungsteuerschuld dem Grund und der Höhe nach auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt fixiert (erbschaftsteuerrechtliches Stichtagsprinzip (§ 11 i.V.m. § 9 Abs. 1 ErbStG). Insofern ist die Erbschaftsteuer eine stichtagbestimmte und keine zeitraumbestimmte Veranlagungssteuer. Während in § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG der Entstehungszeitpunkt für Erwerbe von Todes wegen sehr differenziert bestimmt, wird in Nr. 2 für Schenkungen allgemein der Zeitpunkt der Ausführung der Schenkung, in Nr. 3 für Zweckzuwendungen die Entstehung der Verpflichtung als Entstehungszeitpunkt benannt; allerdings ist dabei die grundsätzliche Anwendungsregelung des § 1 Abs. 2 ErbStG zu berücksichtigen (siehe Rdn 42). In Nr. 4 wird der Entstehungszeitpunkt für die Erbersatzsteuer bestimmt (siehe Rdn 92). In Abs. 2 geht es um eine Regelung des ErbStG 1974, die nur noch für Erwerbe vor dem 31.12.1980 zur Anwendung kommt (§ 37 Abs. 2 S. 1 ErbStG). § 9 ErbStG regelt den Zeitpunkt der materiell-rechtlichen Entstehung infolge der Tatbestandsverwirklichung. Die formell-rechtliche Entstehung und die ggf. daraus resultierende Fälligkeit ergeben sich aus dem Steuerbescheid. Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Gesetzgeber den Entstehungszeitpunkt zeitlich möglichst spät ansetzt, d.h. die Entstehung auf einen Zeitpunkt legt, zu dem relativ sicher ist, dass der Vermögenserwerb abgeschlossen und der Erwerber endgültig bereichert ist.
Rz. 2
Die Bestimmung des Entstehungszeitpunkts der Erbschaft- und Schenkungsteuer hat erhebliche Bedeutung für eine Vielzahl von steuerrelevanten Entscheidungen, grds. für die Anwendung des jeweils geltenden Rechts. Hervorzuheben ist, dass das Gesetz zur Anpassung des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (ErbStAnpG 2016) v. 4.11.2016 betr. insb. die §§ 13a–13c ErbStG, §§ 28, 28a ErbStG, § 203 BewG (rückwirkend) für Erwerbe gilt, für die die Steuer nach dem 30.6.2016 entstanden ist (§ 37 Abs. 12 ErbStG).
Maßgebend ist der Entstehungszeitpunkt z.B. für das Vorliegen der persönlichen Steuerpflicht (§ 2 ErbStG), für das Bestehen eines bestimmten Verwandtschaftsverhältnisses einschl. der davon abhängigen Steuersätze (§§ 15 ff. ErbStG), für das Bestehen von Steuerbefreiungsvoraussetzungen, für die Verschonung/Befreiung des Betriebsvermögens und nichtnotierter Anteile an Kapitalgesellschaften, für die Wertermittlung generell, für den Bestand und die Bewertung von Betriebsvermögen, für das Bestehen bzw. Nichtbestehen von (Nachlass-)Verbindlichkeiten, aber auch für den Zeitpunkt der Wertermittlung (§ 11 ErbStG, Bewertungsstichtag). Der Begriff der Wertermittlung umfasst das ganze Programm der Rechenschritte, die nach § 10 Abs. 1 ErbStG zur Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage führen. Der Bewertungsstichtag und die dann geltenden Bewertungsverhältnisse werden wiederum auf den Entstehungszeitpunkt bezogen. Besondere Bedeutung hat der Entstehungszeitpunkt weiter in Fällen, an denen taggenau gerechnet werden muss, z.B. für den Verbrauch von persönlichen Freibeträgen, bei dem 10-jährigen Zusammenrechnungszeitraum gem. § 14 ErbStG oder der Einhalten von Behaltenspflichten etwa nach §§ 13a–13c, 19a ErbStG, von besonderen Befreiungsvoraussetzungen nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b bb ErbStG, nach § 13 Abs. 1 Nr. 4b und c ErbStG, nach § 13d ErbStG, in Fällen der §§ 21, 26, 27, 28, 28a, 29 ErbStG. § 29 ErbStG regelt spezielle Fälle des Erlöschens der Steuer mit Wirkung für die Vergangenheit. Für die Abzugsfähigkeit von Steuern des Erblassers kommt es auf deren "Entstandensein" am maßgeblichen Stichtag i.S.d. §§ 9, 11 ErbStG an. Am maßgebenden Stichtag noch nicht entstandene Steuerschulden (latente Steuerschulden), wie z.B. eine aufgrund einer nach dem Tod des Erblassers erfolgten Grundstücksentnahme entstandene Steuer, sind nicht abziehbar. Für die Gewährung der Steuerermäßigung nach § 35b EStG ist Voraussetzung, dass bei der Ermittlung des Einkommens Einkünfte berücksichtigt worden sind, die im Veranlagungszeitraum oder in den vorangegangenen vier Veranlagungszeiträumen als Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer unterlegen haben. Dabei haben Einkünfte in dem Zeitpunkt der Erbschaftsteuer unterlegen, in dem die Erbschaftsteuer rechtlich entstanden ist. Vorbehaltlich der in § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a–j ErbStG benannten Ausnahmen unterliegen die Einkünfte daher in dem Veranlagungszeitraum der Erbschaftsteuer, in den der Todestag des Erblassers fällt.
Letztlich hat die Entstehung auch verfahrensrechtliche Auswirkungen, z.B. für das Entstehen/Bestehen von Anzeigepflichten (vgl. §§ 30, 33 ErbStG), für die Zuständigkeit, für die Festsetzungsverjährung und auch für das Bestehen/Entstehen von Anzeige- und Berichtigungspflichten eines Gesamtrechtsnachfolg...