Rz. 23
Mit dem Eintritt des Erbfalls wird der Vorerbe wie ein unbeschränkter Vollerbe Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers. Der Vorerbe hat die Erbenstellung allein ohne den Nacherben inne. Unabhängig von den vom Erblasser dem Vorerben auferlegten Beschränkungen oder Befreiungen nach § 2136 BGB ist der Vorerbe nach § 6 Abs. 1 ErbStG Erbe des Erblassers geworden. Damit unterliegt sein Erwerb vollumfänglich der Erbschaftsteuer. Bei der Ermittlung des Wertes des angefallenen Nachlasses kann der Vorerbe dabei auch nicht die Beschränkung der Erbschaft durch die Einsetzung eines Nacherben in Abzug bringen. Er ist lediglich befugt, zum Nachteil des ihm angefallenen Nachlasses eine anfallende Erbschaftsteuer daraus zu entnehmen nach § 20 Abs. 4 ErbStG. Umgekehrt hat die Ausschlagung des Nacherbenanspruches durch den Nacherben aber auch keine werterhöhende Auswirkung. Auch bei der nicht befreiten Vorerbschaft im Rahmen eines sog. Behindertentestaments, mit dem ein behinderter Mensch nur nicht befreiter Vorerbe wird und mit einer Dauertestamentsvollstreckung beschwert ist, bleibt der nicht befreite Vorerbe auch für diese Konstellation Steuerschuldner der Erbschaftsteuer.
Rz. 24
Für die Gestaltungspraxis stellt sich die Frage, inwieweit es steuerrechtlich sinnvoll sein kann, statt einer Vor- und Nacherbschaft ein Nießbrauchsvermächtnis zu verfügen. Zivilrechtlich ist die Unterscheidung zwischen Nießbrauchsrecht und Vorerbschaft häufig nicht wesentlich, gerade wenn der Vorerbe über die gesetzlichen Einschränkungen der §§ 2113 ff. BGB hinaus durch den Erblasser eingeschränkt wird.
Rz. 25
Seit der Reform der Erbschaftsteuer 2009 ist ein Nießbrauchsrecht auf der Bewertungsebene voll abzugsfähig, was sich i.S.d. Steuergestaltung erheblich auswirken kann. Gerade auch, wenn der Nießbrauch für den überlebenden Ehegatten als Vermächtnis verfügt wird, ist entgegen der weggefallenen Regelung des § 25 ErbStG a.F. auch der Nießbrauch für den überlebenden Ehegatten auf der Bewertungsebene voll abzugsfähig. Dies kann für die weiteren Erben interessant sein. Der überlebende Ehegatte als Nießbraucher hat nur den Kapitalwert des Nießbrauchs zu versteuern, was wesentlich günstiger sein kann, als den vollen Erbteil besteuern zu müssen. Zu beachten ist jedoch dabei, dass die Berechnung des Abzugsvolumens des Nießbrauchs nach § 16 BewG zu erfolgen hat, wonach auch wie früher der Jahreswert der Nutzung auf den 18,6-fachen Teil des Steuerwertes des übertragenen Gegenstandes begrenzt ist.
Rz. 26
Beispiel
Es wird ein Dreifamilienhaus mit einem Steuerwert von 400.000 EUR übertragen. Der Höchstbetrag des Jahreswertes wäre somit 400.000 EUR : 18,6 = 21.404 EUR. Dies würde folglich einer monatlichen Miete von 1.792 EUR entsprechen. Würde nun die tatsächliche Miete höher liegen, was sicherlich der Fall sein würde, so wäre der Abzugsbetrag gleichwohl nach § 16 BewG auf den 18,6-fachen Teil des Steuerwertes des übertragenen Gegenstandes begrenzt.
Rz. 27
Häufig ist bei letztwilligen Verfügungen in der Praxis der Fall anzutreffen, dass vom Erblasser in seiner Formulierung nicht deutlich genug unterschieden wurde, ob nun eine Vor- und Nacherbschaft gewollt war oder er ein Nießbrauchsvermächtnis aussprechen wollte. In Zweifelsfällen hat dann eine Auslegung des letzten Willens zu erfolgen. Die Frage, ob der Erblasser den Begünstigten als Vorerben oder nur als Nießbrauchsvermächtnisnehmer eingesetzt hat, ist durch Auslegung der letztwilligen Verfügung gem. § 2084 BGB zu klären. Maßgeblich für die Annahme einer Vor- und Nacherbeneinsetzung ist der Rechtsbindungswille des Erblassers, die Erbschaft zunächst dem Erst- und anschließend dem Zweitberufenen zuwenden zu wollen. Hat der Erblasser leibliche Abkömmlinge hinterlassen, so ist dabei § 2069 BGB heranzuziehen. Ist der Begünstigte darauf angewiesen, dass der Erbe ihm die Nutzungsmöglichkeit einräumt, so ist von einem Vermächtnisanspruch hinsichtlich eines Nießbrauchsrechts auszugehen. Wurde dem Begünstigten hingegen eine freie Verfügung über den Nachlass zugewandt, spricht dies für die Einräumung einer Vorerbschaft.