Dr. Klaus-Peter Horndasch
§ 1666 BGB als eine Norm mit unbestimmten Gesetzesbegriffen und hinsichtlich der Entscheidungen der Familiengerichte generalklauselartig angelegt, ist eine nicht unproblematische Norm, verführt sie doch immer wieder dazu, eigene Wertvorstellungen, eigene Lebenserfahrungen, eigene Vorverständnisse und Vorurteile der Akteure in die Entscheidungen einfließen zu lassen und aus dieser Mängellage auf konkrete Einzelfälle zu schließen. Hilfreich ist deswegen die Bildung von Fallgruppen.
11.2.3.1 Vernachlässigung
Hierbei handelt es sich um eine andauernde oder wiederholte Unterlassung der physischen (Ernährung, Bekleidung, Betreuung, Aufsicht, Gesundheitsfürsorge) und psychischen (Zuwendung, Förderung und Bereitstellung von Entfaltungsmöglichkeiten) Versorgung des Kindes.
Aufgrund von Unfähigkeit oder fehlender Bereitschaft sorgeberechtigter Personen werden kindliche Lebensbedürfnisse nicht wahrgenommen und befriedigt, sodass die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes beeinträchtigt oder geschädigt wird.
In quantitativer Hinsicht stellt die Vernachlässigung ca. 50 % der Fälle, bei denen die Jugendhilfe bei Gericht mitwirkt, die hauptsächliche Gefährdungslage dar.
Betroffen sind hier vorwiegend kleinere Kinder beiden Geschlechts. Häufig sind die Sorgeberechtigten aufgrund ihrer konkreten Lebenslage damit überfordert, die Versorgung ihres Kindes angemessen sicherzustellen.
Sind Eltern z. B. nicht in der Lage (oder bereit!), den Schulbesuch ihrer Kinder sicherzustellen, sind Maßnahmen nach §§ 1666, 1666 a BGB zu ergreifen, also hier wesentliche Teile des Sorgerechts auf Dritte (Jugendamt) zu übertragen. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass keine milderen Maßnahmen (mehr) möglich oder Maßnahmen nicht durchsetzbar sind. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung im Einzelfall zu treffen. Nicht "automatisch" ist eine Gefährdung des Kindeswohls anzunehmen.
Unordnung und Unsauberkeit im Elternhaus sind allerdings nicht mit engherzigen Maßstäben zu messen. Vor allem dürfen nicht schichtenspezifische Vorurteile in die Würdigung der Vernachlässigung einfließen.
Wesentlich ist die Beantwortung der Frage, ob Alternativen oder mildere Mittel zur Verfügung stehen.
So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 21.9.2006 erklärt, dass es nicht genügt, wenn festgestellt wird, dass die ledige und allein stehende Mutter eines Kleinkindes unzulängliche finanzielle Verhältnisse und ungesicherte Wohnverhältnisse aufweist, sowie einen ungesicherten aufenthaltsrechtlichen Status als Ausländerin habe. Der Gerichtshof hat erklärt, andere Möglichkeiten seien vor Wegnahme eines Kindes zu prüfen, z. B. die Unterbringung in einem Mutter-Kind-Zentrum.
Vernachlässigung kann häufig auch einen Teilentzug der elterlichen Sorge zur Folge haben, wenn das Gebot der Anwendung des möglichst mildesten Mittels dies rechtfertigt.
So hat das OLG Brandenburg in einem Beschluss v. 16.2.2009 zu einem teilweisen Entzug erklärt:
- Der teilweise Entzug der elterlichen Sorge hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitsfürsorge und des Rechts zur Beantragung von Sozialleistungen ist gem. § 1666 Abs. 1 BGB gerechtfertigt, wenn die Kindesmutter extreme Nachlässigkeiten nicht nur in eigenen Angelegenheiten, sondern auch hinsichtlich der zwei Kinder gezeigt hat, indem sie ihr angebotene Hilfen abgelehnt und sich bei der Wahrnehmung von Terminen als äußerst unzuverlässig erwiesen hat, sodass Hilfen nicht greifen konnten.
Zum Sachverhalt:
- Bevor ein vollständiger Sorgerechtsentzug hinsichtlich der hier allein sorgeberechtigten Mutter anzuordnen war, mussten nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mildere Mittel ausgeschöpft werden. Im vorliegenden Fall wurde der Mutter mehrfach erfolglos Erziehungsbeistand beigeordnet. Die Mutter hat diesen allenfalls kurzfristig akzeptiert, danach durch mangelnde Mithilfe scheitern lassen. Im nächsten Schritt sollte eine Eingliederung der gesamten Familie in eine geordnete betreute Umgebung erfolgen. Dadurch wäre die Mutter im Umgang mit ihren Kindern zum einen entlastet, zum anderen aber auch gleichzeitig unter Anleitung, in einem Mutter-Kind-Heim, an die elterlichen Pflichten herangeführt worden. Dies wäre dringend geboten gewesen, denn die tägliche, mütterliche Überforderung spiegelte sich deutlich wider: die Wohnung war unhygienisch, wichtige Termine zu Gesundheitskontrolle der Kinder hat sie nicht wahrgenommen. Verschiedene, zur Verfügung stehende Maßnahmen, wurden angeboten bzw. probiert, haben aber eindeutig nicht ausgereicht, der Mutter die notwendige Verantwortung für ihre Kinder zu verdeutlichen. Sie hat kein Signal gesetzt, anhand dessen die Behörden eine positive Entwicklung, eine Wandlung, hätten ablesen können. Die Mutter hat vielmehr die gebotene Hilfe ins Leere laufen lassen bzw. sogar torpediert. Selbst nachdem die Kinder in Obhut genommen wurden, war sie nicht in der Lage, den dringe...